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Kommentar

Sucht, Ängste und rottende Gehirne
Die Politik muss Kinder endlich mit einem Social-Media-Verbot schützen

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
Eine Frau hält ein Smartphone, auf dessen Display verschiedene Social Media Apps angezeigt werden.

Viele Eltern würden ein Social-Media-Verbot bis 16 Jahre begrüßen.

Soziale Medien erst ab 16 würde auch großen Druck von den Eltern nehmen.

In Australien sind soziale Netzwerke künftig für alle unter 16 Jahren tabu. Das gilt als bisher weltweit einzigartig und wird kontrovers diskutiert. Wäre ein solches Verbot auch in Deutschland sinnvoll, um Kinder und Jugendliche vor negativen Folgen des Medienkonsums zu schützen? Oder wird damit deren soziale und digitale Teilhabe unterbunden, während die Anbieter sich ihrer Verantwortung entziehen? Christian Bos nimmt letztere Haltung ein, aber Alexandra Ringendahl befürwortet hier ein Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 18:

Endlich hat ein Land Mut: Australien wagt den radikalen Schritt, die Nutzung sozialer Medien für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren zu verbieten. Diesen Mut sollten wir auch in Deutschland aufbringen. Politik und Gesellschaft müssen Verantwortung übernehmen und Kinder und Jugendliche endlich vor den Gefahren der digitalen Welt schützen. Weil wir nicht weiter tatenlos zusehen dürfen, was da gerade mit der jungen Generation passiert.

Alexandra  Ringendahl

Alexandra Ringendahl

Redakteurin in der Kölner Lokalredaktion und dort unter anderem für Schule und Bildung zuständig. Sie kommt vom Niederrhein und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Politik und Germanistik i...

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„Brain rot“ ist vor wenigen Tagen zum Oxford-Wort des Jahres gekürt worden. Es hat sich in der Tiktok-Jugend-Sprache etabliert und heißt übersetzt „Gehirnverrottung“ oder „Gehirnfäule“. Während Wissenschaftler gerade mit lang angelegten Studien die Langzeitfolgen untersuchen, ist den Jugendlichen also selbst längst bewusst, was die täglich stundenlange Social-Media-Nutzung mit ihnen macht. Sie fühlen sich überfordert, unkonzentriert und ausgelaugt durch den übermäßigen Konsum belangloser Inhalte.

Ein Drittel der Jugendlichen nennen ihr Nutzungsverhalten Sucht

In einer tiefenpsychologisch-repräsentativen Jugendstudie zu Tiktok haben 70 Prozent der Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass Tiktok wegen der ständigen Dopaminausschüttung abhängig macht, 69 Prozent sehen ihre Konzentration gefährdet, 61 Prozent befürchten durch Tiktok zu verblöden. Bei der groß angelegten Erhebung „Jugend in Deutschland 2024“ sagte ein Drittel der befragten Jugendlichen von sich selbst, dass man ihr Nutzungsverhalten Sucht nennen könne.

Social-Media-Nutzungszeiten von über acht Stunden täglich sind bei vielen Teenagern die Regel. Viele von ihnen merken, dass sie die Kontrolle verlieren und schaffen es dennoch nicht, sich zu distanzieren. Diese Getriebenheit ist das Gegenteil von Freiheit. Auch die meisten Eltern teilen das Gefühl des Kontrollverlusts. Sie schaffen es nicht, dem endlosen Scrollen einen Riegel vorzuschieben.

Wissenschaftler sprechen vom „größten Experiment der Menschheitsgeschichte“

Der Deutsche Rat für Digitale Ökologie, dem renommierte Neurowissenschaftler vorstehen, hat beschrieben, wie perfide die Tech-Firmen die Algorithmen so ausgestaltet haben, dass sie auf das Belohnungssystem des Gehirns wirken, um genau diesen Kontrollverlust zu erzeugen. Das Dopamin-System wird genutzt, um Menschen am Gerät zu halten und damit abhängig zu machen. Dies ist nach Ansicht der Hirnforscher bei Jugendlichen besonders gefährlich, weil Abhängigkeiten in einer Phase erzeugt werden, in der ihre Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Sie sprechen gar vom „größten sozialen Experiment der Menschheitsgeschichte“ und mahnen die Politik zum Handeln. Ein Verbot würde – selbst wenn die technischen Hürden irgendwie umgangen werden können – ein klares gesellschaftliches Zeichen setzen. Und es würde auch Druck von den Eltern nehmen.

Es sind ja nicht nur die vielen Stunden, die täglich vor dem Gerät verbracht werden. Es ist auch das, was junge Menschen in der Zeit nicht tun: sich bewegen, sich begegnen, sich auseinandersetzen, sich langweilen. Also alles das, was zur Kindheit gehört und was zur Entwicklung mentaler Stärke wichtig ist.

Außerdem sind die Belege für die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit erdrückend: Der US-Psychologe Jonathan Haidt hat in seinem Bestseller „Generation Angst“ belegt, dass sich die Zahl der Schülerinnen mit Depressionen und Angststörungen in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat. Seine Diagnose ist, dass es etwas mit den Gehirnen macht, wenn sie in dieser sensiblen Phase der Adoleszenz lernen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als auf Instagram, Tiktok und Snapchat die eigene Marke zu managen und unter dem Druck von Likes, Followern und gefilterten Gesichtern jederzeit gut auszusehen. Bei vielen Mädchen – und auch immer mehr pumpenden und Proteinpulver konsumierenden Jungen – führt dies dazu, dass sie sich unzulänglich fühlen und etwa eine Essstörung entwickeln. Verstärkt durch Algorithmen, die ihnen dann immer mehr Inhalte zeigen, die Körpermaße, Ernährung und Diäten thematisieren.

Zahl der Angsterkrankungen stark gestiegen

Die Zahl der Angsterkrankungen bei den 15- bis 17-Jährigen stieg laut dem aktuellen Report der DAK in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent. Eigentlich dürfte das keinen verwundern: Schon Grundschulkinder surfen stundenlang oder schlimmstenfalls nächtelang auf Social Media. Und die Algorithmen, die die Videos für sie auswählen, lassen sie in Ecken gucken, die nicht für Kinder geeignet sind.

Sie sehen irgendwann krasse Gewaltdarstellungen und Pornografie, Hinrichtungen oder grausame Szenen aus dem Ukraine-Krieg. Nicht, weil sie danach suchen, sondern weil die Empfehlungsalgorithmen es ihnen auf den Bildschirm spült. Lehrkräfte berichten von immer rauerem und aggressiverem Ton an den Schulen. Wen wundert das?

Beitrag zur Sicherung der Demokratie

Nicht zuletzt wäre ein Gesetz, das die Internet-Volljährigkeit für soziale Medien regelt, ein wichtiger Beitrag zur Sicherung der Demokratie. Es dauert nach dem Installieren von Tiktok durchschnittlich nur 40 Minuten, bis das erste Mal Fake News mit russischer oder rechter Propaganda auf dem Smartphone auftauchen. An dem Rechtsruck auch bei den Jugendlichen in Deutschland ist natürlich zwar nicht einfach nur eine App schuld. Aber es gibt inzwischen Belege für einen Zusammenhang etwa zwischen Tiktok-Nutzung und AfD-Präferenz. Es muss ganz grundsätzlich ernst genommen werden, dass Social Media durch alle die beschriebenen Auswirkungen die Demokratie verändert.

Dabei geht es mit einem solchen Verbotsgesetz ausdrücklich nicht darum, soziale Medien zu verteufeln. Es geht um Schutz in einer besonders sensiblen Entwicklungsphase. Wir würden Zeit gewinnen, um die Grundlage dafür zu schaffen, dass junge Menschen später selbstbestimmt mit digitalen Medien umgehen können.