Die in Köln geborene Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), spricht über den Korruptionsskandal, Panzerlieferungen an die Ukraine und die Liebe zu ihrer Heimatstadt.
SPD-Politikerin Katarina Barley„Nichts käme Putin gelegener als eine Feuerpause“
Im Streit über die Lieferung deutscher Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 an die Ukraine hat die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley (SPD), die abwartende Haltung der Bundesregierung verteidigt. „Nach meiner Meinung hat Bundeskanzler Olaf Scholz Deutschland bislang ausgesprochen gut durch die multiple Krisenlage geführt. Ich habe das Vertrauen, dass er das auch jetzt tut“, sagte Barley dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Sie verwies zugleich darauf, dass die Positionen der Nato-Partner zur Lieferung von Kampfpanzern nach den Worten des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD) „keineswegs einhellig“ seien.
Barley bekräftige das Recht des Westens, den Ukrainern alles zu liefern, „was sie zur Selbstverteidigung einsetzen“. Sie warnte davor, in der aktuellen Lage auf diplomatische Lösungen zu setzen. „Diplomatie ist wichtig – ich wollte selbst einmal Diplomatin werden“, betonte Barley. „Aber wer in der jetzigen Situation Waffenstillstandsverhandlungen das Wort redet, spielt einzig und allein Wladimir Putin in die Karten. Dem russischen Präsidenten käme gerade nichts gelegener als eine Feuerpause, in der er dann in aller Ruhe den Nachschub für die russische Armee reorganisieren und die nächsten Angriffswellen vorbereiten könnte.“
Frau Barley, als Reaktion auf den Korruptionsskandal um Ihre Kollegin Eva Kaili will das EU-Parlament jetzt ein Maximum an Transparenz. Wie denken Sie darüber?
Katarina Barley: Der Skandal um Eva Kaili ist ein Schock. Nun muss es wenigstens ein heilsamer sein. Wir haben zwar im EU-Parlament schon jetzt schärfere Regelungen als im Bundestag. Aber deren Einhaltung muss eben auch kontrolliert werden. Dazu gehört es, Geschenke umfänglich zu deklarieren, wie es Parlamentspräsidentin Roberta Metsola vorige Woche getan hat. Insgesamt sind gerade alle sehr sensibel. Die einen reklamieren die Freiheit des Mandats und warnen davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die anderen – und zu denen gehöre ich – treten für noch schärfere Regeln ein. Größtmögliche Transparenz im Parlament ist Bestandteil der EU-Verträge. Denen sind wir verpflichtet.
Sind gläserne Abgeordnete, die jeden Gesprächskontakt, jedes Treffen offenlegen müssen, denn überhaupt ein Ideal? Manche Informationskanäle leben von Vertraulichkeit, etwa zu Regimegegnern in Diktaturen.
Das ist richtig. Der Schutz solcher Menschen oder anderer berechtigter Interessen ließe sich auch bei vollständiger Nennung aller Kontakte gewährleisten. Man könnte Begegnungen mit schutzwürdigen Personen in einem eigenen Register bei der Parlamentspräsidentin hinterlegen. Dann wären sie nicht verheimlicht, blieben aber geheim.
Wie groß ist der politische Schaden des Korruptionsskandals?
Es ist ein Desaster für das Ansehen des Parlaments und der Europäischen Union, deren Institutionen vielen EU-Bürgern ohnehin wie eine Black Box vorkommen. Ich hätte es mir selbst nicht träumen lassen, dass eine Kollegin, neben der ich ständig gesessen habe, zuhause auf Koffern voller Geld sitzt. Das ist ja wie in einem schlechten Film. Unmittelbar betroffen von dem Skandal ist zwar bislang nur meine Fraktion. Aber wir sind uns im ganzen Parlament einig, dass wir das Problem von Korruption in der Politik jetzt nicht parteitaktisch behandeln, sondern gemeinsam dafür sorgen wollen, Vertrauen zurückzugewinnen.
Welche der vielen vorgeschlagenen Verschärfungen im Regelwerk des Parlaments könnten aus Ihrer Sicht hier das Blatt wenden?
Mein „Gamechanger“ ist ein verbesserter Whistleblower-Schutz. Wir müssen sicherstellen, dass sich Mitarbeitende von Abgeordneten oder der Verwaltung gefahrlos offenbaren können, wenn ihnen Unregelmäßigkeiten auffallen oder sie einen Korruptionsverdacht hegen. Es sind ja gerade die Leute auf der Arbeitsebene, die unmittelbar mitbekommen, was läuft.
Die EU-Kommission geht gerade gegen Deutschland vor, weil es die EU-Whistleblower-Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt hat. Bleibt das EU-Parlament selbst etwa hinter dem zurück, was die EU den Mitgliedsstaaten vorgibt?
Das ist das eigentlich Absurde – ein für mich überhaupt nicht nachvollziehbarer Zustand, der ein Ende haben muss. Eine zweite entscheidende Verbesserung wäre die Verpflichtung, dass Abgeordnete nicht nur ihre Einkünfte, sondern ihr Vermögen am Anfang und am Ende des Mandats offenlegen müssen. Denn aus Schmiergeldern werden typischerweise Vermögenswerte: Immobilien, Luxusgüter, Aktien.
Das hört sich ziemlich radikal an.
Für deutsche Ohren vielleicht. Wir sehen uns in Deutschland ja immer gern an der Spitze der Bewegung. In puncto Transparenz sind wir das sicher nicht. Ich weiß zum Beispiel, dass Länder wie Portugal, Belgien oder Litauen uns da weit voraus sind.
Im Zuge der Aufklärung haben die belgischen Behörden dem italienischen EU-Abgeordneten Pier Antonio Panzeri, der als Drahtzieher für Bestechung durch Katar und Marokko gilt, im Zuge einer Kronzeugenregelung Strafnachlass angeboten. Was halten Sie von solchen Deals?
Ich finde es einerseits höchst unbefriedigend, wenn sich die – so wie es aussieht – Spinne im Netz sehr glimpflich aus den Fängen der Justiz windet. Bei so was könnte ich in den Tisch beißen. Und bestimmt bin ich damit nicht allein. Aber wenn Panzeris Aussagen dazu führen, dass nicht nur der konkrete Bestechungsfall aufgeklärt, sondern der ganze große Sumpf dieses Skandals trockengelegt werden kann, dann ist das ein Gewinn für die Zukunft, der den Preis wert ist.
Als vorigen Freitag die Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein auseinanderging, hieß es gegen manche Erwartung, insbesondere aus Kiew: Heute wieder keine Panzer – zumindest keine deutschen Leopard 2. Wie bewerten Sie die Haltung der Bundesregierung?
Wir haben vom neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius gehört, dass die Positionen der Nato-Partner zur Lieferung von Kampfpanzern keineswegs einhellig seien. Nach meiner Meinung hat Bundeskanzler Olaf Scholz Deutschland bislang ausgesprochen gut durch die multiple Krisenlage geführt. Ich habe das Vertrauen, dass er das auch jetzt tut. Denken Sie daran, wie groß zeitweilig der Druck auf die Bundesregierung war, einen einseitigen Lieferstopp für russisches Gas auszurufen. Heute wird man sagen können: Es war absolut richtig, dass der Kanzler diesem Druck widerstanden hat.
Die Polen sagen, ihnen würde ja schon die Erlaubnis aus Berlin genügen, Kiew die eigenen Kampfpanzer aus deutscher Produktion liefern zu dürfen. Warum nicht einmal das?
Meines Wissens gibt es keinen offiziellen Antrag aus Warschau. Man sollte hier auch nicht vergessen, dass die polnische Regierung keine Gelegenheit auslässt, Deutschland vorzuführen und an den Pranger zu stellen. Das mag auch hier eine Rolle spielen.
Vita Katarina BarleyKatarina Barley, 1968 in Köln geboren, ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, dem sie seit 2019 angehört. Die SPD-Politikerin, promovierte Juristin, zog 2013 in den Bundestag ein.2015 wurde sie unter dem damaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel Generalsekretärin ihrer Partei. Diesen Posten gab sie 2017 auf, um als Nachfolgerin von Manuela Schwesig Bundesfamilienministerin zu werden.Nach der Bundestagswahl 2017 wurde sie Justizministerin. Ein Jahr später trat sie als Spitzenkandidatin der SPD zur Europawahl 2019 an.
Das EU-Parlament hat sehr auf Panzerlieferungen gedrungen. Nicht nur hier wirkt es so, als ob all die steilen Forderungen der Abgeordneten bei den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten in schöner Regelmäßigkeit vor die Pumpe laufen.
Ich verstehe diesen Eindruck. Es ist aber nun mal so, dass die Vorstellungen des Parlaments nicht eins zu eins Gesetz werden. Das muss immer noch mit den Mitgliedsstaaten verhandelt werden. Das wissen die Parlamentarier, das wissen auch die Regierungen. Die Beschlüsse des Parlaments sind sozusagen ihre Verhandlungsposition. Daraus entsteht eine Dynamik, die das Parlament nicht dadurch zum Erliegen bringen sollte, dass es seine Ansprüche zurückschraubt.
Klingt ein bisschen nach der Logik von Tarifverhandlungen: Viel verlangen, um am Ende wenigstens einen Teil zu bekommen. Schadet nicht auch das der Glaubwürdigkeit und dem Gewicht von Parlamentsbeschlüssen?
Drittländer nehmen es sehr ernst, wenn das Europäische Parlament sie kritisiert. Nicht umsonst haben Katar oder Marokko ja offensichtlich sehr viel Mühe und Geld darauf verwendet, Entschließungen des Parlaments in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Noch einmal zurück zu den Waffenlieferungen an die Ukraine. Kommt der Westen überhaupt noch daran vorbei, den Ukrainern die geforderten Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen? Sind Kampfjets dann nicht ein nächster logischer Schritt? Wo verläuft die rote Linie?
Im EU-Parlament befürwortet eine deutliche Mehrheit die Lieferung von Kampfpanzern. Die Ukrainer haben das Recht, sich gegen den russischen Angriff zu wehren, und der Westen hat das Recht, ihnen alles zu liefern, was sie zur Selbstverteidigung einsetzen – und, nicht zu vergessen, zur Verteidigung auch unserer Freiheit und demokratischen Werte.
Das folgt einzig und allein einer militärischen Logik. Bedenken und Warnungen von Pazifisten scheint keiner mehr hören, geschweige denn beherzigen zu wollen.
Diplomatie ist wichtig - ich wollte selbst einmal Diplomatin werden. Aber wer in der jetzigen Situation Waffenstillstandsverhandlungen das Wort redet, spielt einzig und allein Wladimir Putin in die Karten. Dem russischen Präsidenten käme gerade nichts gelegener als eine Feuerpause, in der er dann in aller Ruhe den Nachschub für die russische Armee reorganisieren und die nächsten Angriffswellen vorbereiten könnte.
Die russische Attacke hat jene Angriffe auf Demokratie und Freiheit in den Hintergrund treten lassen, die aus der Mitte der EU selbst kommen. Gibt es für Polen oder Ungarn eine Art Kriegsrabatt?
Nach meinem Eindruck hat die EU-Kommission inzwischen endlich den Ernst der Lage in Ungarn wie in Polen erkannt und mit dem Einfrieren großer Summen die Konsequenz gezeigt, die es schon viel länger gebraucht hätte. Das zeigt auch Wirkung. In Polen jedenfalls sind punktuell Bemühungen erkennbar, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen.
Und in Ungarn?
Die Situation in Ungarn ist und bleibt sehr kritisch. Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, wie dramatisch die Lage ist, dass von Demokratie nicht mehr ernsthaft die Rede sein kann. Die klassische Gewaltenteilung – abgeschafft. Medienfreiheit – nicht mehr existent. Die Zivilgesellschaft – zum Schweigen gebracht. Es traut sich kaum noch jemand, öffentlich Stellung zu beziehen, ganz gleichgültig, ob für Transparenz, LGBTI-Rechte, Sinti und Roma…
Sehen Sie Aussicht auf Besserung in einer Zeit nach Viktor Orbán?
Nun ja, 2022 hat er erst einmal haushoch gewonnen. Das liegt daran, dass er schon vorheralles dafür getan hat, dass es eine Zeit nach ihm so schnell nicht geben wird. Zum ersten kontrolliert er die Medien komplett. So kommt er selbst mit offensichtlichen Lügen ungehindert durch. Die Opposition findet öffentlich nicht statt. Zum zweiten hat Orban das Wahlrecht umfassend in seinem Sinne geändert, so dass selbst eine Wahlniederlage ihm nichts anhaben könnte.
Wie das?
Alle wesentlichen Regeln, nicht zuletzt die Kontrolle über die staatlichen Finanzen, sind zu seinen Gunsten so abgesichert, dass sie nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden könnten. Und die wird es gegen Orban nicht geben - wegen der oben genannten Änderungen.
Ein kalter Putsch von oben?
Jedenfalls eine eiskalte Machtpolitik zulasten der Demokratie. Den ultimativen Schlag hat Orban mit einem – ich muss es leider so sagen – Geniestreich von diabolischer Qualität geführt, indem er dem von ihm besetzten dreiköpfigen „Budgetrat“ ein Vetorecht gegen den Staatshaushalt eingeräumt hat. Nach einem zweimaligen Einspruch dieses Gremiums kommt es automatisch zu Neuwahlen. Und jetzt raten Sie mal, wie man die Besetzung dieses Budgetrats verändern kann?
Gar nicht?
Knapp daneben! Wieder nur mit einer Zweidrittelmehrheit. In der Summe heißt das: Eigentlich kann Orbán die nächste Wahl gar nicht verlieren. Doch selbst wenn er sie verlöre, blieben die Schalthebel der Macht und der Geldhahn trotzdem in seiner Hand. Und über den Budgetrat könnte er eine neue Regierung binnen eines Jahres stürzen.
Das alles weiß kaum jemand.
Deswegen komme ich mir vor wie eine Missionarin, die es überall predigt, wo sie hinkommt. Im Gegenzug erwähnt Orban mich regelmäßig in seinen Reden – als Erzfeindin Ungarns. Er hat mich sogar mal plakatieren lassen zwischen Adolf Hitler und George Soros.
Müsste die EU dann nicht noch viel schärfer gegen Ungarn vorgehen?
Seit die ungarische Fidesz aus der konservative Parteienfamilie ausgetreten ist, hat sich aufseiten des Parlaments schon vieles in diese Richtung verändert. Es ist die EU-Kommission, die notorisch auf der Bremse steht. Das Parlament hatte die Kommission sogar wegen Untätigkeit verklagt, weil sie mit allen möglichen Ausreden die neu geschaffenen Instrumente gegen Ungarn nicht angewandt hat. Nach jahrelangem Zaudern und Zögern hat die Kommission am Ende dann doch gehandelt – aber wann? Einen Tag nach Orbáns Wahlsieg.
Als ich das hörte – ich hätte schreien können. Nein, ich glaube, ich habe sogar geschrien. Nicht nur hatte Orbán mit seiner ganzen Korruptheit die Wahl für sich entscheiden können. Nun lieferte die Kommission ihm auch noch die Steilvorlage für seine Anti-EU-Propaganda: „Seht her, Brüssel mit seinen Sanktionen missachtet den Wählerwillen und wendet sich gegen das Votum der ungarischen Bürgerinnen und Bürger.“
Formal kann er tatsächlich sagen: Mehrheit ist Mehrheit.
Unter dem Einfluss von Orbáns geballter Medienmacht kann man es den Menschen kaum verdenken, dass sie so abgestimmt haben, wie sie abgestimmt haben. Andererseits sind die Ungarn – wie die Polen – im Grunde sehr pro-europäisch, die junge Generation zumal. Ich kämpfe mit meinen Mitteln dafür, dass sich das irgendwann wieder Bahn bricht.
2024 sind wieder Europawahlen. Wie sind Ihre Ambitionen?
Es ist noch zu früh, als dass ich jetzt schon darüber sprechen will. Das wird sich finden.
Wie könnte die Wahl mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern der EU gewinnen?
Für eine richtige europäische Wahl wären transnationale Listen ein großer Gewinn. Ich fürchte aber, das kriegen die Regierungen bis 2024 nicht mehr hin. Das Mindeste wäre, das Spitzenkandidaten-Prinzip so zu sichern, dass die Staats- und Regierungschefs für den Posten des Kommissionspräsidenten am Ende nicht – wie 2019 – jemand ganz anderen aus dem Hut ziehen können. Das darf man nicht noch einmal geschehen lassen, wenn man es mit der EU und ihrer Glaubwürdigkeit gut meint.
Wie wollen Sie das sichern?
Eine Veränderung der europäischen Verträge wäre das Beste, ist aber bis 2024 illusorisch. Als Vorstufe wäre eine Selbstverpflichtung auf das Spitzenkandidaten-Prinzip ein wichtiger Schritt.
Wie schauen Sie als gebürtige Kölnerin auf Ihre Heimatstadt?
Ich liebe Köln, und mein Verbundenheitsgefühl ist riesig, obwohl ich schon so lange woanders lebe. Ich weiß gar nicht, ob den Kölnerinnen und Kölnern, die immer dageblieben sind, bewusst ist, welchen Wert das ganz besondere Flair dieser Stadt und ihrer Menschen mit der sprichwörtlichen kölschen Mentalität hat.
Dafür leiden die Dagebliebenen womöglich mehr an den weniger schönen Seiten Kölns.
Eine Schönheit ist Köln ja schon seit 1945 nicht mehr. Und dass alles gut liefe, würde auch ich mit dem verklärten Fernblick nicht behaupten. Es gibt – buchstäblich und im übertragenen Sinn – eine Menge Baustellen, die dringend angegangen und bewältigt werden müssten.