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Kommentar

Selenskyj denunziert
Europa steht nach dem Trump-Eklat vor der härtesten Prüfung seit 1945

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Lesezeit 3 Minuten
US-Präsident Donald Trump beim Verlassen des Weißen Hauses in Washington, nachdem er zuvor den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem beispiellosen Eklat denunziert hatte. /BONNIE CASH

US-Präsident Donald Trump beim Verlassen des Weißen Hauses in Washington, nachdem er zuvor den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einem beispiellosen Eklat denunziert hatte. /BONNIE CASH

Der Westen ist zerbrochen. Die USA treten zunehmend als Imperialisten auf. Jetzt muss Europa die freie Welt anführen.

Nach dem Eklat im Weißen Haus steht Europa die härteste Prüfung seit Ende des Zweiten Weltkriegs bevor. Der Westen als Wertegemeinschaft der freiheitlichen Demokratien und als Verteidigungsallianz existiert nicht mehr. Donald Trump hat dieses über Jahrzehnte die Weltordnung stabilisierende Bündnis in den ersten Wochen seiner zweiten Amtszeit zertrümmert. Wer es nicht glauben will, schaue sich das unwürdige Spektakel von Freitag im Weißen Haus an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj saß stellvertretend für Europa auf dem Grill im Oval Office. Diesen Grill heizten Trump und sein Vize J.D. Vance vor laufenden Kameras an.

Da ist nicht irgendetwas aus dem Ruder gelaufen. Da hat Amerika der Welt klargemacht, dass es nicht länger Völkerrecht oder Menschenrechte sind, die sein Handeln bestimmen, sondern einfach: das Recht des Stärkeren. Die beiden mächtigen Männer inszenierten Geopolitik als großes Pokerspiel: Hey, du hast keinen Trumpf wie Atombomben, dann lass die Hosen runter und gib uns deine Bodenschätze.

Die USA handeln imperialistisch

Nun kann man einwerfen, Selenskyj sei nicht sehr diplomatisch gewesen im Vergleich zu den flehenden, schmeichelnden, höflich widersprechenden und mahnenden Europäern, die vor ihm bei Trump zu Besuch waren. Dieser Einwurf führt aber am Kern des Problems vorbei. Das eigentliche Drama: Amerika unter Trump und Vance ist eine nach außen imperialistisch handelnde Großmacht, die im Inneren gerade ihre Verwaltung auflöst und die freien Medien an die Leine legt. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, droht Europa zwischen dann drei globalen autoritären Großmächten, China, USA und Russland, politisch und ökonomisch zerrieben zu werden. Die Nationalstaaten würden dann zu Vasallen. Europa wird viel Kraft, Geld und Solidarität untereinander brauchen, um das zu verhindern.

Es geht nicht nur um Militär und Finanzen: Der EU fehlen auch zentrale Fähigkeiten in der Geheimdienstarbeit. Wenn uns die Amerikaner nicht mehr vor den Attacken der Russen und der Islamisten warnen, drohen mehr Cyber- und Terroranschläge.

Deutschland braucht schnell neue Regierung

Zum Glück erinnern sich London und Paris gerade daran, dass sie traditionell in der Lage sind, die Geschicke der Welt mitzubestimmen. Dass Deutschland als größte Ökonomie Europas aufgrund der Neuwahlen faktisch ausfällt, ist ein Desaster. Die aktuellen Entwicklungen müssen für Union, SPD und Grüne eine dringende Mahnung sein, sich noch vor der konstituierenden Sitzung des Bundestags auf ein weiteres Sondervermögen für die Sicherheit Deutschlands zu einigen.

Für Noch-Kanzler Olaf Scholz und Bald-Kanzler Friedrich Merz muss die Lage Anlass sein, selbstverständlich eine gemeinsame Linie für eine Führungsrolle in Europa festzuzurren und diese ohne die sonst übliche Ehrpusseligkeit auszufüllen. CDU, CSU und SPD wiederum sollten in schnellen konzentrierten Koalitionsverhandlungen Vernunft vor Wünsch-dir-was ergehen lassen. Der Blick muss jetzt dringend weg vom eigenen Nabel auf die nationale Sicherheit gehen.

Nun ist wieder viel von einer Allianz der Willigen und einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Rede. Gut so, Europa braucht jetzt Anführer, die an einem Strang ziehen und so stark sind, dass der Rest der EU und nach Möglichkeit noch mehr Länder folgen. Nur dann gibt es die Chance, die Ukraine vor einer kompletten Niederlage und einer Annexion durch Russland zu bewahren. Und nur ein neues Europa, das sich von einer Mittel- zu einer Großmacht aufschwingt, hat die Chance, seine freiheitlichen Demokratien und seinen Wohlstand zu sichern. Der Westen ist zerbrochen. Europa muss sich neu erfinden.