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Analyse zu Wahlen in der TürkeiErdogan in NRW deutlicher Wahlsieger – Ultranationalist Oğan als Königsmacher?

Lesezeit 4 Minuten
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei und Präsidentschaftskandidat, gibt seinen Stimmzettel in eine Wahlurne in einem Wahllokal in Istanbul. In der Türkei haben am Sonntag die Parlaments- und Präsidentenwahlen begonnen.

Für Recep Tayyip Erdoğan steht eine Stichwahl an.

Ein ultranationalistischer Politiker könnte jetzt entscheidend sein in der Frage, wie es mit der Türkei in Zukunft weitergehen wird: Sinan Oğan von der ultranationalistischen Ata-Allianz könnte die Rolle des Königsmachers zufallen.

Bei der Präsidentenwahl in der Türkei hat Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan die meisten Stimmen erhalten, trotzdem muss er sich einer Stichwahl stellen. Mit der Auszählung aller Wahlurnen steht neben dem amtlichen Endergebnis noch eine weitere Sache fest: Der seit 20 Jahren regierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan konnte mit knapp 49,5 Prozent keine Mehrheit erreichen – sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu mit rund 44,9 Prozent ebenfalls nicht, wie die türkische staatliche Nachrichtenagentur „Anadolu Agency“ berichtet.

„Eigentlich stellt die Wahl für Erdoğan eine Niederlage dar, weil er die Mehrheit nicht erreicht hat, auch in seinen früheren Hochburgen nicht“, so der Politik- und Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule in Köln. In den großen Regionen der Türkei wie Istanbul, Ankara oder Izmir liegt Kemal Kılıçdaroğlu vor dem amtierenden Staatspräsidenten, auch die AKP musste dort Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 einbüßen.

Türkeistämmige Deutsche nicht von Erdbeben und Inflation betroffen

In den zentralanatolischen Gebieten bleiben Erdoğan und die AKP weitestgehend die stärksten Kräfte. Diese eher ländlichen und konservativ geprägten Gebiete sind laut Bozay empfänglich für die Propaganda der amtierenden türkischen Regierung, die durch die von ihnen kontrollierten Medien verbreitet werden.

Starken Einfluss hat Erdoğan offenbar auch weiterhin auf die wahlberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland – rund 1,44 Millionen Menschen. Denn hier schneidet Erdoğan deutlich besser ab und holt sich 65,5 Prozent der Stimmen, Kılıçdaroğlu erreicht nur 32,5 Prozent. In Köln sieht sein Vorsprung ähnlich aus, in Düsseldorf hat Erdoğan 71,1 Prozent der wahlberechtigten Türkeistämmigen überzeugt, in Essen sogar 77,6 Prozent.

Das liegt laut Kemal Bozay daran, dass für die Türkeistämmigen hier die „Entwicklungen in der Türkei nicht ausschlaggebend waren, weil sie nicht von ihnen betroffen sind“. Erdoğan hat in der Türkei vorwiegend wegen seines schlechten Umgangs mit der Erdbebenkatastrophe und der Wirtschaftskrise an Zustimmung verloren.

Gleichzeitig zeigt es auch die Wirkung der Strukturen in Deutschland, die unter der Kontrolle der türkischen Regierung stehen und täglich von der türkeistämmigen Bevölkerung hierzulande genutzt werden: Ein weitreichendes Netzwerk, das sich etwa über DITIB-Moscheen bis zu Fußballvereinen erstreckt. Auch bei der Wahl 2018 waren die deutschen Wählerstimmen für Erdoğan bereits ähnlich hoch im Vergleich zum Gesamtergebnis.

Mehr Stimmen für die Partei der „Grauen Wölfe“ als erwartet

Auch deshalb fielen auch die Ergebnisse bei der Parlamentswahl für das Wahlbündnis „Volksallianz“, zu der Erdoğans AKP, die rechtsextreme MHP und weitere ähnliche eingestellte Parteien gehören, in Deutschland höher aus als in der Türkei. Die Volksallianz liegt hierzulande bei 64,6 Prozent, das oppositionelle „Bündnis der Nation“ von der sozialdemokratischen CHP und Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu nur bei 22 Prozent. Das „Bündnis Arbeit und Freiheit“, zu dem die grün-linke Partei YSP und Politiker der unterdrückten kurdischen Partei HDP gehören, nur 10,6 Prozent.

Insgesamt konnte die Volksallianz nur 49,5 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Für eine Mehrheit im Parlament reicht das trotzdem. Vor allem die rechtsextreme Partei MHP hat entgegen schlechter Prognosen gute Ergebnisse erzielen können. Erdoğan hatte deshalb die ursprüngliche 10-Prozent-Hürde auf 7 Prozent senken lassen – die MHP konnte sich aber mit einem Ergebnis 10,1 Prozent wieder Sitze im Parlament sichern. Auch in Deutschland und NRW waren die Stimmanteile für Partei der vom Verfassungsschutz beobachteten „Grauen Wölfe“ vergleichsweise hoch.

Kemal Bozay interpretiert daraus: Die Propaganda hat gewirkt. Zumindest im Parlament konnte Erdoğan wieder gewinnen.

Ultranationalistischer Politiker wird zur entscheidenden Figur für den demokratischen Wandel

Kemal Bozay geht davon aus, dass die nächsten zwei Wochen bis zur Stichwahl am 28. Mai entscheidend sein werden. Eine zentrale Rolle dürfte dabei dem dritten Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan zukommen. Der Politiker stand für das ultranationalistische Wahlbündnisses Ata İttifakı (ATA) zur Wahl und konnte rund 5 Prozent der Stimmen einholen.

Sinan Oğan, Präsidentschaftskandidat vom ultranationalistischen ATA-Wahlbündnis, spricht bei einem Treffen eines neu gegründeten Bündnisses.

Sinan Oğan, Präsidentschaftskandidat vom ultranationalistischen ATA-Wahlbündnis, könnte entscheiden, wie es mit der Türkei weitergeht. (Archivbild)

Oğan könnte seine Wähler dazu auffordern, für einen der beiden anderen Kandidaten zu stimmen. Das könnte für den Ausgang der Stichwahl entscheidend sein, so Bozay.

Für seine Unterstützung könnte Oğan sich einen Ministerposten sichern. Kılıçdaroğlu hat angekündigt, mit ihm verhandeln zu wollen. Allerdings ist Oğan ein völkisch-nationalistischer Politiker, der zuvor für die rechtsextreme MHP im türkischen Parlament saß. Aus der Partei schied er aus, nachdem er Kritik äußerte: Für ihn sei die MHP nicht mehr nationalistisch genug, seitdem sie ein Bündnis mit Erdoğans eher islamisch-konservativ eingestellten AKP eingegangen ist.

Kılıçdaroğlu und sein Bündnis der Nation vertreten auch vereinzelt nationalistische Positionen – sie wollen wie Oğan etwa auch syrische Geflüchtete abschieben. Bozay schätzt jedoch, dass die „Tendenz eher Richtung AKP und MHP gehen wird, weil Oğan an die Spitze seiner ehemaligen Partei möchte“. Bekommt Erdoğan Unterstützung von Oğan, wird er wahrscheinlich Staatspräsident der Türkei bleiben.

Die Türkei steht also weiterhin auf dem Scheideweg: Geht es mit Erdoğan weiter in die islamische Autokratie, oder zurück zur parlamentarischen Demokratie unter Kılıçdaroğlu?

Anmerkung der Redaktion: Bei der Veröffentlichung dieses Artikels am 15. Mai 2023 war die Auszählung der Wahlen in der Türkei noch nicht abgeschlossen, weshalb wir zunächst vorläufige Ergebnisse berücksichtigt haben. Mit der Bekanntgabe der amtlichen Endergebnisse haben wir den Artikel entsprechend angepasst.