Während sich die deutsche Leopard-2-Debatte im Kreis dreht, produziert Russland neue Panzer wie beim Bretzelbacken. Damit droht nicht nur der Ukraine ein Problem. Wenn sich Politik und Industrie in Deutschland weiter so langsam bewegen, könnten die deutschen Panzerhersteller auf Dauer international abgemeldet sein.
Bugsiert sich Deutschland ins Abseits?So nutzt Russland Berlins Langsamkeit in der Panzer-Debatte
Westliche Geheimdienstler mussten sich keine Mühe geben, um in jüngster Zeit das massive Hochfahren der russischen Rüstungsindustrie zu bemerken. Es genügte ein Blick auf die Kantinenpläne.
In der Stadt Nischni Tagil zum Beispiel, 1300 Kilometer östlich von Moskau, ging Uralwagonsawod, die 1936 gegründete größte Panzerfabrik der Welt, zum Drei-Schicht-Betrieb über. Deshalb bietet die Kantine in dem legendären Werk neuerdings Verpflegung rund um die Uhr.
Dies sei „ein Detail, das Bände spricht“, jubelte Victor Ternowsky, ein Propagandist der russischen Nachrichtenagentur Sputnik, auf Twitter. Die wackeren Kantinenbeschäftigten in Nischni Tagil, so lautet die offizielle Lesart, leisteten nun, weiße Haube auf dem Kopf, Kelle in der Hand, ihren ganz eigenen Beitrag zur Abwehr der „Aggression der Nato“.
Stillstand im Land der Leoparden
Von solcher Rührigkeit sind westliche Panzerfirmen, namentlich die deutschen, weit entfernt. Während es bei der Produktion von russischen T-90-Panzern in Uralwagonsawod in diesen Tagen zugeht wie beim Bretzelbacken, herrscht im Land der legendären Leoparden Stillstand.
Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat zwar noch 22 ältere Panzer vom Typ Leo 2 auf dem Hof. Deren Instandsetzung würde aber, wie Vorstandschef Armin Papperger Mitte Januar in einem Interview sagte, ein Jahr dauern: „Selbst wenn morgen die Entscheidung fällt, dass wir unsere Leopard-Panzer nach Kiew schicken dürfen, dauert die Lieferung bis Anfang nächsten Jahres.“ Später hieß es aus Industriekreisen, „zehn bis 15″ aufbereitete Leopard 2 seien vielleicht noch dieses Jahr lieferbar. Gegenüber dem RND teilte ein Sprecher nun mit, der Rüstungskonzern könnte insgesamt 139 Leopard-Panzer der Typen 1 und 2 liefern. In der im Ukraine-Krieg allseits erwarteten Frühjahrsoffensive würden die Leos so oder so keine Rolle spielen.
Ein zentrales Problem bleibt bestehen: Die von Rheinmetall verlangte Entscheidung ist bislang nicht gefallen. Papperger sagt, die Instandsetzung der alten Panzer würde mehrere Hundert Millionen kosten: „Das kann Rheinmetall nicht vorfinanzieren.“ Ergebnis: De facto tut sich derzeit gar nichts – allen bewegten und bewegenden Talkshowdebatten zum Trotz.
Eine Produktion neuer Leopard-2-Panzer würde noch deutlich länger dauern und noch mehr kosten als das Herrichten der 22 alten. Hintergrund sind die über Jahrzehnte heruntergefahrenen Produktionskapazitäten. Panzer wie der Leopard 2, analysierte dieser Tage die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), würden schon gar nicht mehr industriell hergestellt, sondern „in Manufakturarbeit“. Von der Produktion des Panzerstahls bis zur Übergabe des Fahrzeugs an den Kunden vergingen „mitunter zwei Jahre“.
Industriepolitisches Risiko für Deutschland
Schnelle und umfangreiche Leo-Lieferungen aus Deutschland können also nicht erwartet werden – selbst dann nicht, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz plötzlich grünes Licht geben würde. Der einzige Weg, um auf die von der Ukraine gewünschte dreistellige Zahl von Kampfpanzern zu kommen, liegt in einer europaweiten Panzerspenden- und -sammelaktion. Polen und Finnland haben sich dazu schon bereit erklärt. Zudem hat Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock im französischen Fernsehen erklärt, Berlin werde gegen Leo-Lieferungen von Dritten an die Ukraine nichts sagen.
Wie aber sollen am Ende, wenn ein solcher Prozess die Arsenale schrumpfen lässt, die an die Ukraine gelieferten Leos ersetzt werden? Und von wem? Hier stellt sich eine heikle Frage, strategisch und ökonomisch, über die bislang kaum diskutiert wurde.
Für Deutschland wächst derzeit ein industriepolitisches Risiko. Wenn es schlecht läuft für die Deutschen, könnten die technologisch hoch angesehenen Panzer-Produzenten Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall erstmals dauerhaft ins Abseits geraten. Denn die Leo-Spender-Staaten brauchen angesichts der angespannten Lage so schnell wie möglich Ersatz - die Deutschen aber scheinen zu langsam zu sein, um die Panzerhallen rasch wieder auffüllen zu können.
Der Warschauer Vertrag mit Südkorea
Die Konkurrenz der Deutschen läuft sich schon warm. Polen hat bereits ein Exempel statuiert und Panzer nicht mehr wie früher üblich in Deutschland gekauft. In den USA bestellte Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak 250 neue Abrams-Panzer, in Südkorea sogar 1000 neue Kampfpanzer vom Typ K-2.
Vor allem Warschaus Korea-Deal lässt aufhorchen. Die US-Denkfabrik Jamestown Foundation spricht vom größten Waffengeschäft in der Geschichte Südkoreas. Nach der Vereinbarung vom Juni 2022 soll Seoul der polnischen Armee nicht nur Panzer liefern, sondern auch moderne Artilleriesysteme und Kampfflugzeuge. Polen überweist dafür in den nächsten Jahren zweistellige Milliardenbeträge an die koreanischen Unternehmen Hyundai Rotem, Hanwha Defense und Korea Aerospace Industries – während in Brüssel, Paris und Berlin in allen rüstungspolitischen Sonntagsreden stets von mehr europäischer Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik die Rede ist.
„Deutschland hat strategische Chancen verpasst“
Weil die Südkoreaner ihre Hightechwaffen industriell und in hoher Stückzahl fertigen, könnten sie wahrscheinlich auch mögliche „Leo-Lücken“ in anderen Nato-Staaten schneller und kostengünstiger auffüllen als die deutschen Lieferanten. Zur gewachsenen politischen Akzeptanz Südkoreas in Osteuropa trägt bei, dass die südkoreanischen Konzerne zugesagt haben, einen Teil der Rüstungsproduktion nach Polen zu verlegen. Die Zusammenarbeit ist nicht auf einige Jahre, sondern auf einige Jahrzehnte angelegt. Südkorea soll auch zivile Hochtechnologieprojekte in Polen begleiten, etwa den Bau neuer Atomkraftwerke und die Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft.
Der Militärexperte Nico Lange, bis Ende 2021 Chef des Leitungsstabs im Berliner Verteidigungsministerium, sieht in der Hinwendung Polens nach Südkorea mehr als nur ein Alarmsignal: „Deutschland hat strategische Chancen verpasst“, sagt Lange. Die deutsche Rüstungsindustrie hätte aus seiner Sicht unbedingt versuchen müssen, Polen eigene gute Angebote zu machen - „selbst wenn man gerade volle Auftragsbücher hatte“. Auch hätte die deutsche Politik sich um die Förderung von Rüstungsstandorten in Osteuropa kümmern müssen. Inzwischen blicke Berlin auf die Quittung für ein doppeltes Versagen.
In Nato-Kreisen in Brüssel heißt es, derzeit würden in den europäischen Staaten des Bündnisses viele Karten neu gemischt. Manches laufe dabei offenbar zulasten Berlins. Langfristige Entfremdungstendenzen, etwa zwischen Berlin und Warschau, mischten sich mit aktuellen Aufwallungen. „Die letzten Wochen“, orakelt ein Nato-Mann in Brüssel, „waren ja wirklich keine Werbewochen für die Deutschen.“
Hinter den Kulissen ist von Funkenflug zwischen dem Weißen Haus und dem Kanzleramt die Rede. Auf offener Bühne nannte zugleich Polens Premier Mateusz Morawiecki die Haltung Berlins zu den Leo-Lieferungen „inakzeptabel“. Hinzu kommen irritierende Geräusche aus Berlin selbst, etwa die noch immer widerhallende Äußerung der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP): „Die Geschichte schaut auf uns und Deutschland hat leider gerade versagt.“
T 90 M in immer schnellerem Takt
Dies alles, heißt es bei der Nato, erschwere die Bemühungen von Generalsekretär Jens Stoltenberg, zumindest nach außen hin den Konsens der 30 Mitgliedsstaaten zu betonen. Bedauert wird in Brüssel, dass der Sprecher des russischen Präsidialamts, Dmitri Peskow, mittlerweile triumphierend von immer neuen Hinweisen auf „wachsende Nervosität“ innerhalb der Nato spricht.
Russland setzt unterdessen, stumpf ist Trumpf, auf die industrielle Produktion neuer Panzer in immer schnellerem Takt. Rollt da Masse statt Klasse an? Schon in Sowjetzeiten war diese Frage sekundär. Der eine oder andere technische Nachteil des T 90 M, der derzeit in Nischni Tagil gebaut wird, könnte heute wie damals ausgeglichen werden durch die schlicht höhere Zahl von Fahrzeugen auf dem Schlachtfeld. Und einiges, trommelt die staatliche Nachrichtenagentur Tass, ist auch neu am T 90 M, zum Beispiel eine „reaktive Panzerung der nächsten Generation, eine neue Kanone und ein stärkerer Motor“.
Eins zumindest steht fest: Russland nutzt in diesen Januartagen das Durcheinander in der Nato und die Debatte um Deutschlands Langsamkeit politisch eiskalt aus.