Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Ukraine-Krieg„Double-Tap“-Attacken – Warum Putin Retter und Helfer töten lässt

Lesezeit 6 Minuten
VLNR: Charkiw am 4.4.24, Sumy am 13.4.25 und Odessa am 15.3.24. Patricia

VLNR: Charkiw am 4.4.24, Sumy am 13.4.25 und Odessa am 15.3.24. Patricia

Die erste russische Rakete richtet ein Blutbad in Sumy an. Kurz danach trifft eine zweite dasselbe Ziel. Für Putin hat die Menschenverachtung Methode.

Sumy lebt mit extrem kurzen Vorwarnzeiten. Die ukrainische Stadt mit ihren etwas mehr als 200.000 Einwohnern liegt 350 Kilometer östlich von Kiew. 25 Kilometer sind es nur von hier bis zur russischen Grenze.

Am 13. April 2025 jedoch, am Palmsonntag, dachten sich die meisten Familien in Sumy nichts Böses, als sie am frühen Vormittag in die Kirchen strömten, um den Beginn der Karwoche vor Ostern zu feiern.

Doch dann, um 10.15 Uhr, brach die Hölle los.

Krachend traf eine russische Iskander-Rakete das zivile Zentrum der Stadt. Splitter flogen durch die Luft, ganze Bäume stürzten um, reihenweise barsten Scheiben von Läden, Cafés und Apartments. Auf manchen Gehwegen lagen plötzlich Leichen und Leichenteile, auf anderen wanden sich Verletzte, durch einen Bus ergoss sich Blut.

Sanitäter und Feuerwehrleute eilten herbei, Ärzte beugten sich über Opfer. Dann schlug, zum Entsetzen der ganzen Stadt, eine zweite russische Rakete ein – und ließ nun auch Helfer zu Boden gehen. Die Behörden zählten zunächst 35 Tote und 117 Verletzte. Am Morgen des 15. April hieß es, 68 Menschen würden noch immer in Kliniken versorgt, einige seien in einem kritischen Zustand.

Merz rügt Putin, Trump erzählt von einem „Fehler“

Eine so mörderische Attacke hat auch Sumy, in letzter Zeit oft Ziel russischer Drohnenangriffe, noch nicht erlebt. Europäische Regierungschefs und Außenminister verurteilten den „barbarischen Akt“. Von „Terror pur“ spricht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: Wer so handele wie Russland, gehöre zum „Abschaum“.

Inzwischen wurde aber deutlich: Die politischen Einordnungen des Massakers in Sumy gehen im Westen auseinander.

  1. Großbritanniens Premierminister Keir Starmer erklärte: „Ich bin entsetzt über die grausamen Angriffe Russlands auf die Zivilbevölkerung in Sumy.“ Putin müsse dringend einem vollständigen und sofortigen Waffenstillstand ohne Bedingungen zustimmen. Ähnlich äußerte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der mehr europäischen Druck auf Moskau forderte.
  2. Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender und voraussichtlich bald Bundeskanzler, sagte in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ in einer gegenüber Moskau auffallend scharf formulierten Passage: „Das ist eindeutig ein Kriegsverbrechen, und zwar ein schweres Kriegsverbrechen.“ Was in Sumy passiert sei, sei „an Perfidie nicht zu überbieten“.
  3. US-Präsident Donald Trump indessen vermied weiterhin jede direkte Kritik an Putin. An Bord der Air Force One sprach er zwar von einer „schrecklichen Sache“ In Sumy. Doch dann fügte er mit Blick auf die Russen hinzu: „Mir ist gesagt worden, dass sie einen Fehler gemacht haben.”

Ein Fehler? Wer Trump dies eingeblasen hat, blieb dunkel. Klar ist aber: Das Weiße Haus steht derzeit mit dem Kreml in Dauerkontakt. Trumps Sondergesandter Steve Witkoff hatte erst am Freitag erneut mit Putin direkt gesprochen, vier Stunden lang.

Putins Ziel ist und bleibt die Zersetzung der westlichen Allianz. Will er jetzt gleichzeitig die Amerikaner einlullen und die Europäer als Kriegstreiber darstellen? Sollte die “Double-Tap”-Attacke in Sumy gar dazu dienen?

Der Doppelschlag dient der Demoralisierung

Das Völkerrecht jedenfalls verbietet ein Vorgehen, wie es Russland sich erlaubt. Zentrale Vorschriften des Genfer Abkommens von 1949 kreisen um den Schutz bereits Verwundeter und den besonderen Status von Rettungskräften. Doch in der Ukraine gehört der Verstoß gegen diese Regeln längst zu den russischen Rout

Ob in Charkiw (4. April 2024) oder Odessa (15. März 2024), das Muster blieb immer gleich. Oft variiert nur der genaue zeitliche Abstand zwischen Attacke 1 und Attacke 2.

Prokowsk zum Beispiel, eine Kleinstadt in der Ostukraine, erlebte den ersten großen Knall an einem Montagabend um 19.15 Uhr. Das Hotel „Druschba“, eine Apotheke und zwei Cafés versanken in Schutt und Asche. Einem fünfstöckigen Apartmenthaus wurde das Dach weggerissen. Vom Restaurant „Corleone“ blieb nur Geröll.

Der zweite Knall kam erst um 19.52 Uhr - und ließ die Trümmer tanzen. Physisch veränderte sich in den zerbombten Straßen nicht mehr viel, die emotionale Wirkung aber war enorm. Denn jetzt bohrten sich die Splitter auch in die Körper der Helferinnen und Helfer. Im Laufe der zurückliegenden 37 Minuten waren sie zusammengeströmt: Leute aus den Kliniken, von Feuerwehr und Polizei sowie freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer örtlicher Rettungsmannschaften.

Blutbäder ergeben aus Moskaus Sicht Sinn

Blutbäder dieser Art ergeben aus Moskaus Sicht durchaus Sinn. Schon vor zehn Jahren in Syrien halfen „Double Tap“-Attacken dem russischen Staatschef Wladimir Putin, die von ihm erwünschte Massenflucht von Menschen aus bestimmten Regionen in Gang zu setzen.

Der frühere KGB-Mann kennt die Bedeutung der Psychologie in Zeiten des Krieges. Wer sich durchsetzen will, muss Hoffnungslosigkeit erzeugen, Demoralisierung. Im Hinterkopf der Betroffenen soll der Eindruck entstehen: Jetzt, da auch die Rettungssysteme attackiert werden, können meine Familie und ich wirklich nicht mehr bleiben.

Maximierung menschlichen Leids als Methode: In Moskau kennt man das seit Jahrhunderten. Iwan der Schreckliche (1530–1584), Russlands erster Zar, saß nicht trotz, sondern wegen seiner bekannten Grausamkeit bemerkenswert fest im Sattel. Mit frömmelnder Geste gab der Herrscher beliebte Bauwerke wie die bunte Basilius-Kathedrale am Moskauer Roten Platz in Auftrag – während er seine Feinde bei lebendigem Leib zerstückeln ließ.

Putin hat aus seinen eigenen Kriegen die Lektion mitgenommen, dass es machtpolitisch nützlich sein kann, die Bevölkerung eines anderen Landes gnadenlos in den Zustand völliger Hoffnungslosigkeit hinein zu bomben. In Grosny (Tschetschenien) hat er es so gemacht, in Aleppo (Syrien) ebenfalls.

Dass es sich hier um Völkerrechtsverstöße handelt, ist Putin egal. Immer wieder ordnete er in seinen mittlerweile 25 Jahren an den Schalthebeln der Macht Verbotenes an: Attacken auf die Lebensmittelversorgung anderer Völker, Folter, Vergiftungen und Verschwindenlassen Missliebiger, die Bombardierung von Krankenhäusern. Oder eben „Double Tap“-Attacken auf identische zivile Ziele in der Absicht, zusätzlich zu den anfangs Getroffenen auch noch möglichst viele Angehörige von Rettungsmannschaften zu töten oder zu verstümmeln.

Tipps aus Syrien für Helfer in der Ukraine

Menschenrechtsgruppen haben Moskaus mörderische Methoden mittlerweile eindrucksvoll dokumentiert. So wurden in Syrien 58 „Double Tap“-Attacken registriert. Unter dem Titel „When the planes return“ veröffentlichte das „Syria Justice and Accountability Centre“ im Jahr 2022 dazu eine detaillierte Übersicht.

Rettungskräfte aus Syrien gaben den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen praktische Tipps zum Umgang mit der russischen Luftwaffe. Ihr Hinweis Nummer eins lautete: Man möge bitte die unfassbare Unmenschlichkeit Moskaus nicht unterschätzen. „Die Ukrainer begegnen jetzt der grausamsten, unethischsten und kriminellsten Tötungsmaschinerie, die es heute auf der Welt gibt“, warnte Raed al-Saleh, Chef der syrischen Hilfsorganisation Weißhelme, schon zu Kriegsbeginn in der „Washington Post“.

Im Einzelnen empfehlen syrische Retter den Ukrainern folgendes Vorgehen in Zeiten von „Double Tap“-Attacken.

  1. Nur kleine Hilfsteams gründen, geografisch gut verteilt, mit jeweils nur vier oder fünf Personen, die schnell zum Ort eines Luftangriffs fahren können: „Errichtet keine großen Hauptquartiere für Rettungskräfte, sie würden zum Ziel russischer Bomben.“
  2. Helfer sollen einfache Walkie-Talkies mit kurzer Reichweite benutzen, keine Internetkommunikation, die von den Russen verfolgt werden kann.
  3. Stets sollen einige Teammitglieder selbst den Himmel im Nahbereich beobachten, statt sich allein auf ferne Radarsysteme zu verlassen.
  4. Nach einem ersten Angriff brauche man die erste Hilfe wirklich extrem schnell. „Die ersten sieben bis neun Minuten sind wichtig.“
  5. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollen rund um ihre Städte kleine medizinische Außenposten errichten, die größere Krankenhäuser entlasten können. „Aber halten Sie diese Orte geheim“, mahnt Weißhelm-Chef Saleh. „Geben Sie die GPS-Standorte medizinischer Einrichtungen auch nicht an die Vereinten Nationen weiter.“ Russland werde sich die Daten verschaffen und die medizinischen Stützpunkte angreifen.

Die Syrerinnen und Syrer wissen, worüber sie reden. Die russische Luftwaffe und die von ihr unterstützte syrische Luftwaffe machten einst auch Schulen, Kliniken, Supermärkte und Bäckereien dem Erdboden gleich. Mehr als sechs Millionen Syrerinnen und Syrer wurden auf diese Weise obdachlos. Eine Million flohen in Richtung EU.

Als gehe es um Ungezieferbekämpfung

Auf Wohnviertel in Syrien wurden, als gehe es um Ungezieferbekämpfung, Brandbomben, Streubomben und zeitweise auch Giftgas abgeworfen. Zum Einsatz kamen auch billige Fassbomben, mit Sprengstoff und kleinen Metallteilen gefüllte Ölfässer, die alles andere als zielgenau sind, aber in großem Umkreis Menschen töten oder zum Pflegefall machen können.

Die dahinter stehende Menschenverachtung ist keine persönliche Spezialität Putins, sondern wird auch in Russlands Truppe geteilt. Er werde jetzt „die Bonbons liefern“, höhnte zum Beispiel ein russischer Bomberpilot, dessen Funksprüche abgehört wurden, bevor er im Jahr 2020 zum zweiten Mal in einer Geschäftsstraße im syrischen Maarat al-Numan ein Blutbad anrichtete. Die „New York Times“ hält zu diesem Fall eine grausige Videodokumentation auf Youtube bereit.

In Syrien wurden nach Angaben der Weißhelme 252 freiwillige Ersthelferinnen und Ersthelfer im Einsatz getötet. Mehr als die Hälfte von ihnen starb durch russische oder syrische Bomber, die nach einem Luftangriff mit dem barbarischen Befehl zurückkehrten, nun auch die Rettungsteams in den Trümmerlandschaften zu töten.