Russische Drohnen sorgen in der Ostukraine inzwischen für die meisten Verwundeten. Besuch in einem Lazarett – wo der Horror des Krieges zum Alltag gehört.
Besuch im ukrainischen FeldlazarettNachts kommen die Patienten – so viele durch Drohnen wie in keinem Krieg zuvor
Soldat Tykhon ist kaum bei Bewusstsein, er liegt im Behandlungsraum des Feldlazaretts in der Nähe der Front in der Ostukraine. Sein Gesicht ist nach einem russischen Drohnenangriff von Schrapnellwunden überzogen, ein Splitter ist ins linke Auge eingedrungen. Chefarzt Vitali und sein Team säubern die Wunden und verbinden den Kopf, dahinter piepst der Patientenmonitor im Takt von Tykhons Herzen. „Achtet darauf, den Verband nicht zu fest zu machen“, sagt Vitali.
Serhii (31) ist aus Tykhons Einheit und hat ihn ins Feldlazarett begleitet. Vom Flur aus beobachtet er, wie der Arzt und die Pfleger sich um seinen Kameraden bemühen. Die Tür zum Behandlungsraum steht offen, Privatsphäre ist hier keine Priorität, es geht ums Überleben.
Von der Front ins Lazarett
„Die russischen Angriffe sind wirklich hart“, sagt Serhii. Sein Trupp verteidige ein Dorf, das die Russen unbedingt erobern wollten. Die Gefechte seien so heftig, dass Tykhon erst nach vier Tagen aus dem Kampfgebiet heraus und ins Feldlazarett hätte gebracht werden können. So lange habe der verwundete Mittvierziger in einem Keller ausgeharrt. „Er hat kaum gegessen und fast nur geschlafen. Und er hat viel Blut verloren.“
Auf der zweiten Liege in dem Behandlungsraum sitzt Pavlo, der in einem Hinterhalt verwundet wurde und dem ein Krankenpfleger Granatsplitter aus dem Körper entfernt. Er kämpft in der Region Pokrowsk, in der die Russen vorrücken. „Die Gefechte sind ziemlich intensiv“, sagt der 24-Jährige. Gemeinsam mit einem Kameraden sei er auf dem Rückweg zu ihrer Stellung gewesen – ohne zu wissen, dass die Position bereits von Russen eingenommen worden war. Diese hätten aus wenigen Metern Entfernung das Feuer eröffnet. Sein Kamerad sei sofort tot gewesen, er sei davongerannt, dann sei in seiner Nähe eine Granate detoniert.
Ferngesteuerte Fluggeräte prägen diesen Krieg wie keinen zuvor
Pavlo kann nach der Behandlung selbst gehen, Tykhon wird auf einer Bahre in ein Krankenzimmer gerollt. Chefarzt Vitali sagt, auch Tykhon werde überleben. „Ob er auf dem einen Auge aber noch mal wird sehen können, das weiß ich nicht.“ Viele von Vitalis Patienten kommen nachts, tagsüber ist es für die Rettungskräfte wegen der Drohnen häufig zu gefährlich, Verwundete in Sicherheit zu bringen.
Die ferngesteuerten Fluggeräte prägen diesen Krieg wie keinen zuvor, besonders Kamikazedrohnen – sogenannte FPV-Drohnen – sind in Frontnähe eine dauernde Gefahr für Leib und Leben. Sie sind mit Sprengstoff ausgestattet und explodieren beim Aufprall, und sie können Geschwindigkeiten von 100 Kilometern pro Stunde erreichen – davonrennen ist so gut wie unmöglich.
Die Drohnengefahr schlägt sich auch in Vitalis Arbeit nieder. „80 Prozent der Verwundungen stammen von FPV-Drohnen“, sagt der Mediziner. „Fast 20 Prozent sind auf Artillerie, Mörser oder Minen zurückzuführen.“ Schussverletzungen machten nur einen minimalen Anteil aus.
Im Feldlazarett nahe der Front werden die Verwundeten stabilisiert, um dann in ein Krankenhaus im sichereren Hinterland gebracht werden zu können. Je schlimmer die Gefechte, desto größer der Andrang. Zwar habe das Feldlazarett ausreichend Material, sagt Vitali. Es mangele aber an Personal. „Wir sind gut ausgestattet, aber uns fehlen Ärzte und Pfleger. Deswegen können wir es uns nicht leisten, Urlaub zu machen.“ Und deswegen finde die Arbeit manchmal schier kein Ende.
An diesem Tag hat der Arzt bislang 24 Patienten behandelt. „Aber wir haben auch Tage mit mehr als 70 Verwundeten.“ 24 Stunden dauert eine Schicht, wenn viele Patienten zu versorgen sind, geht sie länger. „Mein persönlicher Rekord sind fünf Tage Arbeit mit insgesamt vier Stunden Schlaf.“
Vitalis Familie lebt in der Hauptstadt Kiew, weit entfernt von der Front. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, war seine Ehefrau schwanger. Die Armee gewährte ihm vor der Einberufung eine Gnadenfrist, damit er bei der Geburt dabei sein konnte. Jetzt ist der Sohn gerade in den Kindergarten gekommen. Vitali hat ihn und seine Ehefrau zuletzt im Juni gesehen.
Der Familienvater und Arzt könnte als Türsteher durchgehen. Der breit gebaute 33-Jährige trägt Bart und Kurzhaarschnitt, auf dem Kopf eine Sonnenbrille, obwohl längst Nacht ist und in das abgedunkelte Lazarett ohnehin kein Tageslicht eindringen würde. An seinem Gürtel hängt ein Holster, in dem neben einer Traumaschere, mit der man Kleidung oder Verbände durchtrennen kann, eine Pistole steckt. Warum er eine Waffe trage? „Die Russen sind nicht weit entfernt.“
Im Feldlazarett hängen Kinderbilder an den Wänden. In den Fluren stehen Rollstühle und Krankenbahren, auf denen sich gerade Pfleger ausruhen. In einem Einmachglas im Behandlungszimmer haben die Helfer jede Menge Granatsplitter gesammelt, die sie aus den Körpern ihrer Patienten herausoperiert haben.
Lazarett nur wenige Kilometer hinter der Front
Vitalis Schicht hat um 8 Uhr morgens begonnen, jetzt ist es kurz vor Mitternacht. Der Arzt geht vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen, es ist ein lauer Spätsommerabend. Wo das Feldlazarett genau liegt und andere Details dürfen nicht geschrieben werden – alle Informationen könnten dem Feind nützen, heißt es zur Begründung. Und bis zur Front sind es nur wenige Kilometer, immer wieder ist das Feuern der Artillerie zu hören. Die umliegenden Wohnblöcke sind dunkel, die meisten Bewohner sind geflohen.
Belastbare Zahlen habe er nicht, persönlich schätze er aber, dass 70 bis 80 Prozent seiner Patienten nach der Heilung wieder ins Kampfgebiet zurückkehrten, sagt Vitali. Er selbst habe Fälle gehabt, wo dieselben Soldaten nach der nächsten Verwundung ein weiteres Mal von ihm behandelt worden seien. Auf die Lage an der Front angesprochen, zündet er sich eine zweite Zigarette an. „Die Lage ist ziemlich stabil, aber auch ziemlich beschissen“, sagt der Arzt. „Es ist die Hölle.“
„Es ist die Hölle“
Maksim ist aus dieser Hölle raus, aber der Soldat hat einen hohen Preis dafür bezahlt: Nach einem Drohnenangriff an der Front im Osten der Ukraine im vergangenen Mai musste das linke Bein des 24-Jährigen oberhalb des Knies amputiert werden. In einer Physiotherapieklinik am Rande der zentralukrainischen Stadt Dnipro versucht er zu lernen, sich mit einer Trainingsprothese fortzubewegen, auf die endgültige wartet er noch.
Der junge Soldat führt seinen Stumpf in den oberen Kunststoffteil der Prothese ein, aus dem durch ein Ventil Luft hinausgedrückt wird – durch den Unterdruck soll die Prothese haften bleiben. Mit dem künstlichen Bein versucht er, kleine Hindernisse auf dem Boden zu überwinden. Es ist eine mühselige Angelegenheit, aber Maksim will sich nicht unterkriegen lassen. „Der Stumpf schwillt an, und es fühlt sich unangenehm an“, sagt er. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es mit der neuen Prothese besser wird.“
Maksim hat sein Bein verloren, nicht aber den Optimismus
Unter Phantomschmerzen leide er nicht, gelegentlich beschleiche ihn aber das Gefühl, er habe sein linkes Bein noch, sagt Maksim. „Manchmal juckt es mich dort und ich will mich kratzen.“ Sein Bein hat er verloren, seinen Optimismus nicht – und auch nicht seinen Galgenhumor. „Ich versuche, mir eine positive Einstellung zu bewahren“, sagt er. „Immerhin wird mir jetzt im Winter am linken Fuß nicht mehr kalt.“ Möglicherweise kehre er nach der Behandlung zur Armee zurück, dann aber im Hinterland. An der Front könne er mit nur einem Bein nicht mehr nützlich sein.
Mykyta Zhalnin (33) ist medizinischer Leiter der Physiotherapieklinik, die er vor etwas mehr als zwei Jahren gegründet hat. Mehr als 740 Soldaten seien dort seitdem physiotherapeutisch, aber auch psychologisch behandelt worden, sagt der 33-Jährige – eine Psychologin gehört zum Team. Zunächst sei die psychologische Beratung freiwillig gewesen, inzwischen sei sie verpflichtend. „70 bis 80 Prozent der Soldaten wollten nicht zur Psychologin“, sagt Zhalnin. Wenn sie aber einmal dort gewesen sei, würde niemand von ihnen einen zweiten Termin verweigern.
Die ukrainische Gesellschaft werde sich wegen des Krieges auf eine neue Realität einstellen müssen, meint Zhalnin. „Alle Ukrainer sind auf die eine oder andere Weise traumatisiert.“ Für die Soldaten gelte das ganz besonders. Er befürchte, dass langfristig unter ihnen auch die Zahl der Suizide zunehmen werde – ähnlich, wie man das unter Veteranen der Afghanistan-Kriege beobachtet habe.
Wunden am Körper, Folgen für die Psyche
Auch Mychailo ist Patient in der Klinik, der 35-Jährige kommt im Rollstuhl zu seinem Termin. Was ihm widerfahren sei? „Krieg ist geschehen“, antwortet er. Vor rund einem Jahr sei er bei einem russischen Mörserangriff in der nordostukrainischen Region Kupjansk verwundet worden, seitdem kann er nicht mehr laufen. Vor der russischen Invasion sei er Polizist gewesen. „Ich bin Soldat geworden, um mein Land zu verteidigen.“ Er bereut den Schritt trotz der einschneidenden Konsequenzen nicht, wie er sagt. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder genauso handeln.“
Seinen dünnen Beinen ist der Muskelschwund anzusehen. Am linken Unterschenkel ist eine Metallschiene angebracht. Ob er auch psychologisch unter den Folgen leide? „Mir geht es gut“, antwortet Mychailo. Physiotherapeut Mykyta Rohazhyn (24), der ihm gerade den rechten Fuß massiert, schüttelt lachend den Kopf. „Eine solche Verwundung hat immer Folgen für die Psyche“, sagt er. „Es sind nur nicht alle bereit, das zuzugeben.“
Fürs Erste sei das Behandlungsziel, dass Mychailo aus dem Rollstuhl aufstehen und sich mit Krücken fortbewegen könne, erklärt Rohazhyn. Fortschritte gibt es. „Als ich kam, konnte ich mein rechtes Bein gar nicht bewegen, jetzt geht das ein bisschen“, sagt Mychailo. An einer Sprossenwand zieht er sich mit seinen Armen immer wieder aus dem Rollstuhl hoch, er steht dann kurz auf dem rechten Bein. Die Anstrengung dabei ist ihm anzusehen.
Mychailo ist überzeugt, dass er wieder wird laufen können. Er ist verheiratet und Vater einer vierjährigen Tochter. „Wir versuchen, die Kinder vor diesen Traumata zu beschützen. Aber ich habe meiner Tochter erklärt, dass ich im Krieg verletzt worden bin“, sagt Mychailo. „Und ich verspreche ihr immer, dass wir bald wieder gemeinsam einen Spaziergang machen werden.“
Mitarbeit: Andrii Kolesnyk