AboAbonnieren

Frust an der Front in der Ukraine„Ohne Munition kann kein Land einen Krieg gewinnen“

Lesezeit 8 Minuten
Ukrainische Soldaten feuern auf russische Stellungen nahe der Stadt Bakhmut. Die Munition der Streitkräfte wird immer knapp. (Archivbild)

Ukrainische Soldaten feuern auf russische Stellungen nahe der Stadt Bakhmut. Die Munition der Streitkräfte wird immer knapp. (Archivbild)

Zwei Jahre nach dem russischen Überfall ist die Lage in der Ukraine düster. Zur Verteidigung ihres Landes fehlt es den Soldaten nicht an Motivation, aber an Munition – weil die westlichen Verbündeten nicht liefern. Eine Reportage von der Frontlinie.

Drei Kilometer ist die Front von der Stellung in der ostukrainischen Region Luhansk entfernt, in der der Granatwerfer des ukrainischen Mörsertrupps am Rande eines Waldstücks in einer Kuhle steht. Die Soldaten ziehen die Tarnnetze ab, die die Waffe vor den Kameras russischer Drohnen verbergen sollen, und öffnen die Holzkiste mit den 120-Millimeter-Granaten. Ukrainische Drohnenpiloten haben einen russischen Unterstand ausgemacht, die Koordinaten treffen über Funk ein.

Die Soldaten richten den Mörser auf das Ziel aus. Einer von ihnen lässt von oben eine Granate in das Rohr gleiten, dann geht er wie seine Kameraden in die Hocke und hält sich die Ohren zu. Das Geschoss zündet mit einem gewaltigen Knall und fliegt in hohem Bogen in Richtung Feind. Es landet im Ziel, auf einem Drohnenvideo ist später die Explosion zu sehen. Details sind wegen der Entfernung der Drohne und wegen des diesigen Wetters nicht zu erkennen.

Wie schemenhafte Geister

Die Koordinaten sind aus der Kommandozentrale gekommen, die in einem kleinen Wohnhaus in einem Dorf abseits der Front untergebracht ist. Dort sitzt Artos (42), der wie alle hier nur mit seinem Spitznamen genannt werden möchte, vor mehreren Bildschirmen. Der Kommandeur der Mörsereinheit hält über einen Laptop Kontakt mit den Drohnenpiloten, über Funk spricht er mit seinen Soldaten. Auf einem Monitor kann er unter den verschiedenen Livefeeds der Drohnen auswählen, die gerade in der Luft sind.

Artos hat eine Gruppe russischer Soldaten ausgemacht, die auf seinem Bildschirm wie schemenhafte weiße Geister aussehen und nicht zu bemerken scheinen, dass sie aus 100 Metern Höhe und rund zweieinhalb Kilometern Distanz ausgespäht werden. Er berechnet die Koordinaten und ordnet einen weiteren Mörserangriff an, den sechsten heute, und es ist gerade einmal 8.30 Uhr morgens. Weil die Russen heute ihre Truppen an der Front austauschen, bieten sich Artos ungewöhnlich viele Ziele an. Dabei muss seine Einheit eigentlich Granaten sparen – denn es mangelt schmerzhaft daran.

Ein ukrainischer Soldat feuert mit einem Mörser auf russische Stellungen nahe der Front. (Archivbild)

Ein ukrainischer Soldat feuert mit einem Mörser auf russische Stellungen nahe der Front. (Archivbild)

Die vier Stellungen der Mörsereinheit an der Front sind nach Fußballlegenden wie Maradona benannt. Diejenige, von der geschossen wurde, heißt Zidane. Hier haben die Soldaten einen Unterstand in die Erde gegraben, er liegt etwas entfernt vom Granatwerfer, falls die Russen diesen entdecken und beschießen sollten. Die Umgebung ist mit Tarnnetzen abgedeckt. Der Eingang ist ein mit einer Decke abgehängtes Loch, durch das man nur gebückt eintreten kann. Auch der Innenraum ist nicht hoch genug, um zu stehen. Ausgekleidet ist die Höhle mit Brettern und silberner Isolierfolie.

Strom für das Licht kommt aus einer Autobatterie. In einer Ecke stehen ein Gaskocher, ein Teekessel und ein Kochtopf, daneben ein Teller Suppe und Süßigkeiten. An der Wand hängt ein Heiligenbild. Ein Heizlüfter, der mit Diesel betrieben wird, hat die Temperatur auf erträgliche 17 Grad gebracht, draußen ist es bei minus fünf Grad eisig kalt. Zwei Matratzen nehmen fast den gesamten Raum ein, sie dienen als Liege- und als Sitzfläche. Auf ihnen schlafen die vier Soldaten der Stellung in Schichten. Zwei, drei, manchmal vier Stunden Schlaf bekomme man, sagt Senya, der 40 Jahre alte Soldat ruht sich gerade aus. „Es sind etwas spartanische Bedingungen“, meint er.

Der Vizekommandeur der Einheit will Inhulets genannt werden. Im Schutz der Dunkelheit ist er gemeinsam mit den deutschen Reportern, mit anderen Soldaten und mit Baumaterial per Lkw zu den Stellungen gefahren – tagsüber wäre der Lastwagen ein zu leichtes Ziel, sagt Inhulets. Das Fahrzeug aus Sowjetzeiten quält sich vor Anbruch der Dämmerung über Pisten und gefrorene Äcker, die Männer hinten auf der Ladefläche werden durchgeschüttelt.

Krater auf den Feldern

Der Trupp arbeitet daran, im Schutz von Bäumen eine fünfte Stellung zu errichten, mithilfe von Anti-Panzer-Minen haben die Soldaten bereits Löcher in die gefrorene Erde gesprengt. Der Weg von Zidane zu der noch namenlosen künftigen Position führt zwischen dem schmalen Waldstück und Feldern mit vertrockneten Sonnenblumen entlang, hier wird schon lange nichts mehr geerntet. Auf dem Pfad und in den Feldern haben russische Artillerietreffer Krater in den Boden gerissen, in denen das Wasser gefroren ist. Ob die Russen mit ihren Drohnen nicht bemerken würden, dass die Ukrainer eine neue Stellung bauten? „Vielleicht sehen sie es, vielleicht nicht“, erwidert Inhulets. „Das wissen wir erst, wenn sie anfangen, uns zu beschießen.“

Inhulets nennt die Lage nach zwei Jahren Krieg „sehr schwierig“ – auch deswegen, weil niemand weiß, wie lange er noch gehen wird. Im Dezember hat der 46-Jährige seine Familie das letzte Mal gesehen, zwischen diesem und dem vorhergegangenen Besuch haben neun lange Monate gelegen. Er hat drei Kinder, sein ältester Sohn feiert an diesem Tag ohne ihn seinen 20. Geburtstag. Der zweite Sohn ist 13, die Tochter sieben. „Meine Tochter hat geweint, als ich letztes Mal gehen musste“, sagt Inhulets. „Sie hat gesagt, sie würde die Tür absperren und den Schlüssel wegschmeißen.“ Letztlich kämpfe er aber gegen die russischen Besatzer, damit es seine Kinder nicht eines Tages tun müssten.

Ein ukrainischer Soldat feuert eine Panzerfaust auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Awdijiwka in der Region Donezk ab. (Archivbild)

Ein ukrainischer Soldat feuert eine Panzerfaust auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Awdijiwka in der Region Donezk ab. (Archivbild)

Derzeit sind die Russen auf dem Vormarsch, vor wenigen Tagen haben sie die Stadt Awdijiwka erobert. Aus erschütternden Berichten geht hervor, wie verlustreich und chaotisch der Abzug der Ukrainer verlief. Der Kommandeur der Stellung Zidane, der sich Radik nennt, sagt, nicht die Aufgabe Awdijiwkas habe sich negativ auf die Moral ausgewirkt, sondern dass die ukrainischen Soldaten dort fast eingekesselt worden wären. „Sie hätten schon vor Monaten abgezogen werden sollen.“ Nach zwei Jahren Krieg seien die Soldaten erschöpft, meint der 29-Jährige. „Viele Soldaten sind müde und wollen zu ihren Familien zurückkehren.“

An der Mörsereinheit lassen sich die drängenden Probleme der Ukrainer gut festmachen. 60 Mann sollte sein Trupp umfassen, sagt Inhulets, er habe aber nur 38. „Wir brauchen mehr Soldaten.“ Besonders dramatisch ist aber der Mangel an Munition – die EU hatte der Ukraine bis März eine Million Schuss zugesagt, kann das Versprechen aber nicht halten. Im gesamten Monat Dezember hätten sie nur 20 Granaten für den 60-Millimeter-Mörser bekommen und keine einzige für den 120-Millimeter-Mörser, sagt der Vizekommandeur. „Bei einem russischen Sturmangriff verschießen wir solche Mengen an einem einzigen Tag.“

Ersatzteile fehlen

Schwierig sei auch der Mix des Kriegsgeräts, das die verschiedenen Verbündeten schicken, sagt Inhulets. So sei der Granatwerfer an der Stellung Zidane aus Italien, die Granaten aber kämen aus Finnland, Spanien, Tschechien oder der Ukraine. Die Geschosse hätten zwar das richtige Kaliber, müssten aber trotzdem modifiziert werden und funktionierten dann häufig nicht mehr richtig. Bei den finnischen Granaten müssten beispielsweise die Stabilisatoren kürzer gefeilt werden, von ihnen detoniere häufig nur jede fünfte. „Manchmal kontaktieren wir andere Brigaden, um Granaten zu tauschen.“

Der Einheit fehlt es außerdem an Ersatzteilen. Von einst sechs Mörsern seien zwei nicht mehr einsetzbar, sagt Inhulets. Auch der Zidane-Granatwerfer habe seine Lebensdauer überschritten und müsste eigentlich ausgetauscht werden. „In der Bundeswehr würde so etwas niemals weiter genutzt.“ Die Überbeanspruchung führe dazu, dass die Waffe ungenau schieße. Das wiederum habe zur Folge, dass mehr Granaten abgeschossen werden müssten, um ein Ziel zu treffen. Granaten, die man aber nicht habe.

Die Diskussionen im Westen über die Unterstützung der Ukraine verfolgten die Soldaten mit großer Sorge, sagt Inhulets. „Wir haben nicht das Gefühl, dass uns unsere Verbündeten im Stich lassen. Aber wir brauchen definitiv mehr Unterstützung. Wir haben nicht genug Munition, um unser Land zu verteidigen.“

Welche Einheit man auch besucht, überall klagen die Soldaten über Munitionsmangel. Die Panzereinheit von Kommandant Spas (39) im Raum Charkiw ist da keine Ausnahme. Spas ist stolz auf seine Leopard-1-Panzer, die in einem Waldstück rund 15 Kilometer von der Front entfernt unter Tarnnetzen und Ästen versteckt sind. Die deutschen Panzer seien denen der Russen deutlich überlegen, sagt er. Der Leopard verfüge unter anderem über Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte und einen verhältnismäßig leisen Motor. „Ich nenne diese Maschine einen Nachträuber.“ Auch seiner Einheit fehle es aber an Munition, an Ersatzteilen und nicht zuletzt auch an Panzern. „Wir brauchen definitiv mehr Panzer, um die besetzten Gebiete zu befreien.“

40 Granaten pro Ziel

Atom (22) kommandiert eine Artillerieeinheit mit 122-mm-Panzerhaubitzen aus sowjetischer Bauart, die in der Region Charkiw rund fünf Kilometer von der Front entfernt im Einsatz ist. „Ich will betonen, dass der Munitionsmangel das absolut größte Problem für alle Einheiten an der Front ist“, sagt er. „Wir haben genug Ziele und genug Geschütze, aber nicht genug Granaten.“

Atom rechnet vor, was der Mangel konkret bedeutet: Idealerweise müsse man 40 Granaten pro Ziel einrechnen, sagt er. Seine gesamte Einheit könne aber nur noch drei bis sechs Geschosse pro Ziel aufwenden, und das maximal zwei Mal am Tag. Der Feind dagegen habe jede Menge Munition. „Die Russen können wahllos Waldstücke beschießen, um zu schauen, ob sie etwas treffen.“

Dass die westlichen Verbündeten immer weniger lieferten, mache sich seit Längerem bemerkbar, sagt der Offizier. „Wenn die Russen jetzt in unsere Richtung vorstoßen würden, hätten wir nicht genug Munition, um unsere Infanterie zu schützen. Die Russen könnten womöglich durchbrechen und neue Gebiete besetzen.“

Atom sagt, mit ausreichend Munition wäre vielleicht auch der Fall von Awdijiwka zu verhindern gewesen. „So etwas wie in Awdijiwka kann wieder passieren“, warnt er. „Ohne Artilleriegranaten wird sich die Lage noch verschlechtern. Dann werden die Russen langsam weiter vordringen.“ Der Kommandeur weicht der Frage aus, ob die Ukraine den Krieg verlieren könnte. „Ich bin mir sicher, dass wir die Russen vertreiben könnten, wenn wir genug Munition hätten“, antwortet Atom stattdessen. Dann fügt er aber auch hinzu: „Ohne Munition kann kein Land einen Krieg gewinnen.“

Mitarbeit: Yurii Shyvala