Desertion und Ungehorsam würden zu einem weitverbreiteten Problem werden, sagen ukrainische Offiziere.
Kommandeure berichtenUkrainische Soldaten sollen erschöpft und demoralisiert sein
Ein Bericht des US-amerikanischen Senders CNN zeichnet ein beunruhigendes Bild der ukrainischen Streitkräfte. Die erbitterte Offensive Russlands habe viele ukrainische Einheiten dezimiert, hieß es in dem Bericht. Die Streitkräfte Kiews seien den Russen zahlenmäßig wie auch waffentechnisch unterlegen. Einige Kommandeure schätzen, dass auf einen Ukrainer zehn russische Soldaten kommen.
Zudem gebe es nur wenig Verstärkung, was dazu führe, dass einige Soldaten erschöpft und demoralisiert seien. Besonders schlimm ist die Situation laut des US-Mediums bei den Infanterieeinheiten in der Nähe von Pokrowsk und anderswo an der Ostfront, wo die Ukraine darum kämpft, Russlands Vordringen aufzuhalten.
Ukrainische Kommandeure und Offiziere berichten
CNN sprach für den Bericht mit sechs Kommandeuren und Offizieren, die bis vor Kurzem Einheiten in der Region bekämpften oder beaufsichtigten. Alle sechs sagten, Desertion und Insubordination würden zu einem weitverbreiteten Problem werden, insbesondere unter neu rekrutierten Soldaten.
„Nicht alle mobilisierten Soldaten verlassen ihre Stellungen, aber die Mehrheit. Wenn neue Leute hierher kommen, sehen sie, wie schwierig es ist. Sie sehen viele feindliche Drohnen, Artillerie und Mörser”, sagte ein Einheitskommandeur, der derzeit in Pokrowsk kämpft, gegenüber CNN. Er bat wie die meisten anderen auch darum, anonym zu bleiben. „Sie gehen einmal zu den Positionen und wenn sie überleben, kehren sie nie wieder zurück. Entweder verlassen sie ihre Stellungen, weigern sich, in die Schlacht zu ziehen, oder sie versuchen, einen Weg zu finden, die Armee zu verlassen”, fügte er hinzu.
Anders als diejenigen, die sich zu Beginn des Krieges freiwillig meldeten, hatten viele der neuen Rekruten keine Wahl, in den Krieg zu ziehen. Sie wurden einberufen, nachdem das neue Mobilisierungsgesetz der Ukraine im Frühjahr in Kraft getreten ist, und können das Militär erst nach Einführung der Demobilisierung durch die Regierung legal wieder verlassen, es sei denn, sie erhalten eine Sondergenehmigung.
Phase mit zu wenig Munition
Vor allem im letzten Winter und Frühjahr hat die Ukraine eine äußerst schwierige Phase durchgemacht. Monatelange Verzögerungen bei der Bereitstellung von US-Militärhilfen für das Land führten zu einem kritischen Munitionsmangel und einem starken Stimmungsverlust. Mehrere Soldaten sagten bereits damals gegenüber CNN, dass sie sich oft in einer guten Position befunden hätten, mit klarer Sicht auf den herannahenden Feind, jedoch ohne Artilleriegeschosse, die sie abfeuern hätten können. Einige sprachen von einem Schuldgefühl, weil sie ihren Infanterieeinheiten keinen ausreichenden Schutz bieten konnten.
Laut des Berichts versucht eine Einheit zudem, Soldaten alle drei bis vier Tage ein- und auszuwechseln. Doch Drohnen, deren Zahl im Laufe des Krieges immer weiter zugenommen hat, machen die Situation teilweise wohl zu gefährlich. Dies zwingt die Soldaten, länger an Ort und Stelle zu bleiben – teilweise bis zu 20 Tage.
Strafverfahren gegen Tausende Soldaten
Als sich die Lage auf dem Schlachtfeld verschlechterte, begannen anscheinend immer mehr Truppen aufzugeben. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres leiteten Staatsanwälte nach Angaben des ukrainischen Parlaments Strafverfahren gegen fast 19.000 Soldaten ein, die entweder ihre Posten aufgaben oder desertierten. Mehrere Kommandeure teilten CNN mit, dass viele Offiziere Desertion und unerlaubte Abwesenheiten zwischenzeitlich nicht mehr meldeten, sondern stattdessen hofften, die Truppen davon zu überzeugen, freiwillig und ohne Strafe zurückzukehren. Dieser Ansatz war wohl so weit verbreitet, dass die Ukraine das Gesetz änderte, um Desertion und unerlaubte Abwesenheit, wenn sie zum ersten Mal begangen wurden, zu entkriminalisieren.
Ein Offizier einer in Pokrowsk kämpfenden Brigade, der ebenfalls anonym bleiben wollte, berichtete CNN zudem, dass die Truppen unter schlechter Kommunikation zwischen den verschiedenen Einheiten leiden würden. Es habe sogar Fälle gegeben, in denen Truppen den anderen Einheiten nicht das vollständige Bild des Schlachtfelds offengelegt hätten, aus Angst, sie würden dadurch schlecht dastehen, sagte der Offizier. Eine Flanke im Norden von Donezk soll vor Kurzem beispielsweise russischen Angriffen ausgesetzt gewesen sein, nachdem Soldaten benachbarter Einheiten ihre Stellungen verlassen hatten, ohne es zu melden. (rnd)