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Kubakrise im Schwarzen Meer?Russlands Attacken auf die Lebensmittelversorgung

Lesezeit 6 Minuten
Ukraine, Zghurivka: Ein Mähdrescher erntet Weizen. (Archivbild aus 2022) Foto: Efrem Lukatsky/AP +++ dpa-Bildfunk +++

Ukraine, Zghurivka: Ein Mähdrescher erntet Weizen. (Archivbild aus 2022)

Russland blockiert zivile Frachter, die jetzt noch ukrainische Häfen anlaufen wollen. Die Nato will sich diesen Eingriff in die Freiheit der Seefahrt nicht bieten lassen, fürchtet aber eine direkte Konfrontation mit Russland. Nach Meinung des früheren US-Admirals James Stavridis muss das Bündnis jetzt trotz aller Bedenken den Rücken gerade machen.

Der Freitagmorgen begann am Schwarzen Meer mit scharfen Schüssen. In einem Manöver im Seegebiet nahe Odessa spielte die russische Marine Schiffe versenken, mit echter Munition. Moskau zeigte sich zufrieden: Mit Erfolg, meldete das russische Verteidigungsministerium, habe man den Einsatz von Marschflugkörpern gegen feindliche Schiffe geprobt.

Die jüngste russische Drohgebärde auf See folgt einer Serie von Attacken aus der Luft: Nacht für Nacht ließ Russland in dieser Woche immer wieder Raketen auf die ukrainische Handels- und Kulturmetropole Odessa regnen, darunter auch Überschallraketen vom Typ Kinschal mit einem tonnenschweren Sprengkopf.

Russlands Attacken zielten – in einem eklatanten Bruch des Kriegsvölkerrechts – auf Einrichtungen der Lebensmittelversorgung. Vernichtet wurden nach bisherigen Schätzungen 60.000 Tonnen Getreide, Getreidespeicher, Ladevorrichtungen und Lagerhallen in der Hafengegend.

Putin plant eine Machtprobe besonderer Art

Zu besichtigen sind hier nicht etwa Maßnahmen zur Abwehr der ukrainischen Gegenangriffe. Russlands Präsident Wladimir Putin plant vielmehr eine Machtprobe besonderer Art, die zwar mit militärischen Mitteln beginnt, aber letztlich aufs Ökonomische zielt: Er will, dass die Ukraine nicht mehr als Kornkammer der Welt zur Verfügung steht.

Als größter globaler Weizenexporteur bringt Russland sich breitbeinig selbst in Stellung und hofft auf einen doppelten Nutzen. Erstens kann Russland auf diese Art künftig seine Erlöse erhöhen. Zweitens kann es eine militärisch bewirkte weltweite Weizenknappheit als politisches Druckmittel einsetzen.

Moskau behält sich vor, alle zivilen Frachter, die jetzt noch Odessa anlaufen, zu stoppen, zu durchsuchen – oder gar zu versenken. Die russische Regierung erklärte, sie betrachte seit Donnerstag, null Uhr, alle Schiffe, die sich der Blockade nicht beugen, als „potenzielle Träger militärischer Fracht“.

Die Ukraine reagierte inzwischen auf diese Ansage mit dem offiziellen Hinweis, sie betrachte Frachter, die zu russischen Schwarzmeerhäfen unterwegs sind, in gleicher Weise.

Bidens Bedenken

Wie das westliche Bündnis auf die wie nie zuvor angespannte Lage im Schwarzen Meer reagiert, ist noch offen. US-Präsident Joe Biden, so ist zu hören, befürchtet, dass mögliche maritime Machtproben zu einer direkten Konfrontation zwischen der russischen Marine und der Nato führen könnten – mit dem Risiko einer Eskalation in Richtung eines dritten Weltkriegs.

Zugleich aber wird in Nato-Kreisen betont, man könne unmöglich das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands auf sich beruhen lassen. Auch in so spannungsgeladenen Zonen wie dem Südchinesischen Meer betont die US-Marine derzeit rund um die Uhr die Freiheit der Seefahrt – und demonstriert sie auch praktisch, durch sogenannte „Fonops“ („freedom of navigation operations“). Patrouillen mit Zerstörern oder gar Flugzeugträgersn sollen, wie die US-Marine sich ausdrückt, „Missverständnisse ausschließen“.

In der Straße von Hormus, wo Öltanker seit Jahrzehnten immer wieder Attacken aus dem Iran ausgesetzt sind, mussten die USA jüngst erneut eingreifen. Der Vorfall vom 5. Juli 2023, in Europa kaum beachtet, ging glimpflich aus: Iranische Kriegsschiffe näherten sich zwei Tankern, die iranischen Soldaten schienen die zivilen Schiffe kapern zu wollen – doch als ein amerikanischer Lenkwaffenkreuzer auftauchte, legten die iranischen Schiffe den Rückwärtsgang ein.

Im Schwarzen Meer ist alles komplizierter

Ein ähnliches Muster könnten sich US-Militärs auch im Schwarzen Meer vorstellen. Was, fragen manche, spricht dagegen, auch dort zivile Schiffe auf Routen durch internationale Gewässer zu eskortieren und sie vor illegalen Übergriffen zu schützen?

Zwei Faktoren jedoch machen die Lage im Schwarzen Meer komplizierter: Russland wäre als globale militärische Supermacht, anders als der Iran, im Fall von Eskalationen nicht nur zu regional begrenztem nuklearen Terror in der Lage.

Die USA können im Schwarzen Meer nicht schalten und walten, wie sie wollen. Als Nichtanrainerstaat können sie nach dem Montreux-Vertrag von 1936 ihre Kriegsschiffe nur mit Genehmigung der Türkei durch Dardanellen und Bosporus ins Schwarze Meer einlaufen lassen. Diese Konstellation wirkte sich schon bei Putins Georgienkrieg im Jahr 2008 zu Lasten der USA aus. Die Türkei verweigerte damals amerikanischen Kriegsschiffen die Passage ins Schwarze Meer.

In den Nato-Staaten gibt es eine wachsende Strömung, die trotz aller Bedenken und Probleme dazu rät, Putin jetzt im Schwarzen Meer die Grenzen aufzuzeigen. Während die gegenwärtigen Verantwortungsträger das Thema bislang nur hinter verschlossenen Türen behandeln, wagt sich der frühere Nato-Oberbefehlshaber James Stavridis an die Öffentlichkeit.

Eskort durch Nato-Konvois?

Dem US-Magazin „Newsweek“ sagte der ehemalige Vier-Sterne-Admiral, die Nato werde sich wahrscheinlich dazu entschließen, Schiffen Begleitschutz zu geben, die im Zuge von Weizentransporten zwischen Odessa und Häfen außerhalb des Schwarzen Meers unterwegs sind. „Wenn das geschieht, werden die Nato-Kriegsschiffe potenziell direkt mit der russischen Marine konfrontiert“, sagte Stavridis. „Die Konsequenzen könnten unvorhersehbar und sehr gefährlich sein, aber dies zu tun ist dennoch richtig.“

Stavridis fügte hinzu, es wäre ein großer Fehler, Russland eine Seeblockade der Ukraine zu gestatten: „Damit würde der Westen Moskau letztendlich ein Vetorecht über Schiffbewegungen in internationalen Gewässern zugestehen.“

In Militärkreisen wird eingeräumt, dass Zuspitzungen dieser Art im Schwarzen Meer zu einem „Kubakrise-Moment“ führen könnten. Im Jahr 1962 hatte US-Präsident John F. Kennedy mit einer harten Linie gegenüber Moskau die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba verhindert – und dabei 13 Tage lang auch das Risiko eines Weltkriegs in Kauf genommen.

Der schwedische Russland-Kenner Anders Aslund rät der Nato dazu, das Schwarze Meer „durch Konvois offen zu halten“. Dass Russland einen Nato-Konvoi angreift, hält er für ausgeschlossen: „Für solche Abenteuer ist Russland zu schwach.“

Eine Schlüsselrolle hat der türkische Präsident

Jenseits aller aktuellen Debatten gibt es im westlichen Bündnis einen Grundkonsens: Bei allem, was im Schwarzen Meer geschieht oder geschehen soll, hat die Türkei eine Schlüsselrolle – schon wegen des Montreux-Vertrags.

Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte den Einsatz amerikanischer Kriegsschiffe ausschließen und stattdessen seiner eigenen Marine die Regie für mögliche Eskortaktionen übertragen. Dies würde der Türkei weltweit ein neues Profil verschaffen. Möglich wäre auch eine Beteiligung von Kriegsschiffen der Nato-Staaten Rumänien und Bulgarien.

Erdogan, rundum offen für Deals aller Art, will offenbar Szenarien dieser Art als Verhandlungsgegenstand einbringen: in Gesprächen mit den westlichen Staaten ebenso wie bei einer angeblich im August bevorstehenden persönlichen Begegnung mit Putin in der Türkei.

Unklar ist derzeit, ob Putin, nachdem er aus Angst vor einer Verhaftung eine Reise nach Südafrika abgesagt hat, tatsächlich dem Nato-Staat Türkei einen Besuch abstattet. Doch er und Erdogan, das weiß man, telefonieren auch viel.

Gelingt dem türkischen Präsidenten schon bald eine Entschärfung der Krise? Im Weißen Haus in Washington scheint man nicht nur auf Erdogan zu setzen. Auch von geheimen Kontakten zwischen US-Generälen und russischen Befehlshabern ist in Nato-Kreisen die Rede. Biden und seine Leute, so scheint es, arbeiten in diesen Tagen so gut es geht daran, eine Rückkehr in den brandgefährlichen Oktober 1962 zu verhindern. (RND)