Sie wollen die Ukraine von russischen Soldaten und von Homophobie befreien: Queere Soldaten kämpfen Seite an Seite mit ihren Kameradinnen und Kameraden an der Front. Der Krieg schweißt zusammen und zeigt, dass es wichtigere Dinge gibt, als wen man liebt.
„Plötzlich ist es egal, wen du liebst“Wie queere Soldaten die Ukraine verändern
„Plötzlich ist es egal, wen du liebst“, sagt Alina Sarnatska. „Es ist ein schrecklicher Krieg, aber er bringt uns zusammen.“ Die 36-jährige Soldatin ist lesbisch, hat eine Partnerin und kämpft an der Frontlinie von Donezk, wo in diesen Tagen einer der Schwerpunkte der ukrainischen Gegenoffensive liegt. Wir erreichen sie an ihrem freien Tag zwischen zwei Fronteinsätzen, sie erzählt von ihrer Einheit. „Wir sind wie Schwestern und Brüder, wir sind eine Familie.“ Als sie sich im März vergangenen Jahres, kurz nach Russlands Überfall auf die Ukraine, zur Armee meldete, ging sie offen mit ihrer Homosexualität um. „Ich wollte nicht lügen“, sagt sie. Aber natürlich sei es in der Truppe ein Thema, schwul, lesbisch oder bisexuell zu sein.
Der 27-jährige Borys Khmilevskiy aus Kiew trat unmittelbar nach Russlands Angriff im letzten Jahr in die ukrainische Armee ein. Dass er schwul ist, wissen die Kameraden in seiner Einheit. „Ich habe mich nie versteckt“, sagt er im Gespräch mit dem RND. Für die anderen Soldaten sei das Thema heute keine große Sache. „Es zählt nur, was man an der Front tut.“ Und an der Front ist kein Platz für Homophobie, dort geht es ums Überleben.
Zu Beginn des Krieges war die Situation noch anders, berichten Alina und Borys. „Einige Soldaten hatten Vorurteile“, sagt Alina und auch Borys berichtet von Stereotypen in den Köpfen einiger Kameraden. „Aber wenn man zusammen kämpft und es um Leben und Tod geht, kommt man sich näher“, sagt er. „Das zerstört einige Klischees über uns“. Ein Soldat in Alinas Einheit sei zu Beginn des Krieges besonders durch homophobe Äußerungen aufgefallen. „Er hat böse Dinge gesagt, aber wir leben zusammen, essen zusammen und inzwischen hat er sich geändert.“
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Und so, wie sich die Kameraden von Alina und Borys verändert haben, verändert sich auch die ukrainische Gesellschaft rasend schnell.
Erst vor wenigen Jahren sah es noch ganz anders aus: 2012 wurde in der Ukraine ein Gesetz nach russischem Vorbild verabschiedet, das jegliche positive Information über Homosexualität in der Öffentlichkeit und in den Medien verbietet. Wer dagegen verstößt, muss mit bis zu fünf Jahren Haft und hohen Geldstrafen rechnen. Um Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, die einem europäischen Kurs der Ukraine kritisch gegenüberstehen, hetzten Politiker und Parteien in der Vergangenheit auch gegen Homosexuelle. Vor allem im russischen Einflussbereich, wie auf der Halbinsel Krim, war staatlich geförderter Hass gegen sexuelle Minderheiten an der Tagesordnung. In den von Russland kontrollierten Volksrepubliken im Donbass wurde Homosexualität sogar wieder verboten. „Der Einfluss der russischen Propaganda in der Ukraine vor dem Krieg war unglaublich und hatte große Auswirkungen auf die Gesellschaft“, sagt Borys.
Für viele queere Soldaten geht es darum um mehr. Sie wissen: Gewinnt Russland, gewinnt auch der Hass auf Minderheiten und die menschenverachtende Propaganda Russlands dringt noch tiefer als in den vergangenen Jahren in die ukrainische Gesellschaft ein, die sich in diesen Monaten mit aller Kraft davon befreien will.
Sie kämpfen für die Ukraine und für Toleranz
Es geht voran: Hunderte ukrainische Soldatinnen und Soldaten haben sich geoutet und verbreiten Fotos und Videos von der Front in sozialen Netzwerken. Einige von ihnen tragen ein Einhornsymbol auf ihrer Uniform - ein sichtbares Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur LGBTQIA+-Gemeinschaft. „Unicorns in Uniforms“, nennen sie sich stolz. Die Bilder von queeren Soldaten an der Front wirken wie ein Katalysator für Toleranz und Akzeptanz in der ukrainischen Gesellschaft. „Da die Armee von der Gesellschaft sehr respektiert wird, werden auch wir LGBTQIA+-Soldaten sehr respektiert“, sagt Borys. „Die Menschen sehen mehr und mehr queere Personen an der Front kämpfen, und das verändert ihre Meinung.“ Auf einmal sind sie sichtbar, erhalten Anerkennung und Dank und werden als wichtiger Teil der ukrainischen Gesellschaft wahrgenommen.
Regierung offen für Gleichstellung
Die Sichtbarkeit queerer Soldaten und Soldatinnen im Krieg hat inzwischen auch zu einem Umdenken in der Politik geführt. Im Sommer 2022 forderte erstmals eine Petition mit mehr als 25.000 Unterschriften den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf, die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren. Dazu ist eine Verfassungsänderung notwendig, da die Ehe dort als Bund zwischen Mann und Frau definiert ist. Selenskyj und auch seine Partei zeigten sich offen für die Gleichstellung, allerdings dürfe die Verfassung während des Krieges nicht geändert werden, so Selenskyj.
Das sieht die ukrainische Abgeordnete Inna Sovsun anders. Sie brachte im Frühjahr einen Gesetzesentwurf ein, der gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare fordert. „LGBTQIA+-Militärangehörige setzen ihr Leben für ein Land aufs Spiel, das sie nicht so akzeptiert, wie sie sind“, kritisiert sie. Sovsun sagt dem RND: „Unsere queeren Soldaten können nicht bis zum Ende des Krieges mit der Verfassungsänderung warten, weil sie dann vielleicht nicht mehr leben.“ Viele der Soldaten hätten große Angst, dass ihr Partner oder ihre Partnerin keine staatliche Unterstützung bekomme, wenn sie im Krieg sterben.
Tatsächlich haben gleichgeschlechtliche Partner nicht das Recht, wichtige Entscheidungen für ihren Partner zu treffen, wenn dieser stirbt oder schwer verletzt wird. Sie erhalten weder finanzielle Unterstützung noch offizielle Anerkennung. Einige befürchten, dass ihr Partner von der Beerdigung ausgeschlossen oder nicht einmal über ihren Tod informiert wird. Andere haben Angst, im Krankenhaus nicht zu ihrem verletzten Partner gelassen zu werden, weil sie nicht verheiratet sind. „Das müssen wir ändern“, sagt Sovsun. Für viele sei dieses Gesetz ein Zeichen, dass sich das Land in die richtige Richtung bewege und es einen Wandel in der Gesellschaft gebe.
Europäischer Gerichtshof übt Kritik an der Ukraine
Unterstützung erhält die ukrainische Abgeordnete vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In einem Urteil Anfang Juni kamen die Richterinnen und Richter zu dem Schluss, dass die fehlende Möglichkeit zur Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare in der Ukraine eine Diskriminierung und einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstelle. Geklagt hatte ein schwules Paar, das seit 13 Jahren zusammenlebt.
Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage* sind 69 Prozent der Menschen in der Ukraine dafür, dass queere Soldaten die gleichen Rechte haben sollten wie ihre heterosexuellen Kameraden. Das seien viel mehr als noch vor fünf Jahren, sagt Sovsun. „Die Gesellschaft hat gelernt, dass es LGBTQIA+-Soldaten in der Armee gibt, die für uns kämpfen und daher die gleichen Rechte, den gleichen Schutz und den gleichen Respekt verdienen.“ Eine deutliche Mehrheit befürwortet der Umfrage zufolge, dass queere Soldaten und Soldatinnen in der Armee kämpfen.
Die Umfrage zeigt auch, dass 57 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer queeren Mitmenschen positiv oder neutral gegenüberstehen. Verglichen mit der Akzeptanz in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ist dies zwar ein niedriger Wert, aber dennoch ein deutlicher und schneller Anstieg in der Ukraine.
Gleichzeitig zeigen die Umfrageergebnisse aber auch, dass der Weg zu mehr Akzeptanz noch weit ist: Ein Teil der Bevölkerung ist der Meinung, dass queere Menschen nicht die gleichen Rechte bekommen sollten. Dabei handelt es sich nach Einschätzung von Sovsun um sehr konservativ-traditionalistische Gruppen und Anhänger der großen Kirchen in der Ukraine. Die sehr einflussreichen Kirchen, allen voran die mit Russland verbundene Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK), hatten über viele Jahre mit Hassreden und der Verbreitung von Vorurteilen Homophobie in der Gesellschaft gesät. Nun verliert die Kirche an Einfluss, weil die ukrainische Regierung ihre Macht wegen der Verbindungen zu Moskau einschränken will. Davon profitiert letztlich auch die LGBTQIA+-Community in der Ukraine. „Homophobie ist immer noch ein großes Problem, sei es in der Armee oder in der Gesellschaft“, sagt Sovsun. Aber der Trend zu mehr Toleranz sei klar erkennbar. Dies liege vor allem an der Sichtbarkeit von LGBTQIA+-Soldaten in der Armee.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben sich auch viele Prominente geoutet, was vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen war. „Es war unmöglich, offen queere Menschen im Fernsehen zu sehen“, sagt Borys und erzählt von einem Kandidaten der TV-Show „The Voice of Ukraine“, der sich geoutet hat. Ein anderer Mann aus einer Reality-Show, der in dem TV-Format eine Frau suchte, lebe jetzt offen schwul.
Alina erzählt, dass ihre Kameraden heute ungezwungen über Schwule und Lesben sprechen. „Die anderen Soldaten machen Witze darüber, dass ich lesbisch bin“, sagt sie und lacht, aber das sei normal. „In unserer Einheit machen wir viele Witze.“ Die anderen Soldaten sind interessiert und fragen, was es bedeutet, lesbisch oder schwul zu sein. Alina gefällt es, dass die anderen neugierig sind. „Für mich ist das eine Möglichkeit, mein Land zu verändern und toleranter zu machen.“ Ein Kamerad aus ihrer Einheit hat sich inzwischen als bisexuell geoutet.
Borys und Alina sind sich sicher, dass die aggressive Homophobie aus Russland einen Anteil an dieser positiven Entwicklung in der Ukraine hat. „Weil Putin und Russland sehr homophob sind, wollen die Menschen in der Ukraine jetzt nicht homophob sein“, sagt Alina. „Die Menschen wollen nicht so sein wie Putin - sie ändern ihre Einstellung.“ Beide glauben, dass diese Fortschritte auch nach dem Krieg bleiben werden. „Diese europäischen Werte sind ein Schritt auf unserem Weg in die Europäische Union“, sagt Borys. Doch bis Schwule und Lesben vollständig akzeptiert seien, meint Alina, werde es wohl noch 10 oder 20 Jahren dauern.
*Die Umfrage wurde telefonisch durchgeführt und nicht in den von Russland seit einigen Jahren völkerrechtswidrig besetzten Gebieten des Donbass und der Krim.