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Warnung vor Angriff auf die Nato„Wir haben eigentlich gar keinen Tag mehr Zeit“

Lesezeit 6 Minuten
Ukrainische Soldaten feuern auf russische Stellungen. Boris Pistorius hat zuletzt vor einer Ausweitung des Krieges auf Nato-Länder gewarnt. Das sei vor allem ein innenpolitisches Signal, sagt Thomas Jäger von Universität zu Köln. (Archivbild)

Ukrainische Soldaten feuern auf russische Stellungen. Boris Pistorius hat zuletzt vor einer Ausweitung des Krieges auf Nato-Länder gewarnt. Das sei vor allem ein innenpolitisches Signal, sagt Thomas Jäger von Universität zu Köln. (Archivbild)

Boris Pistorius und die Nato warnen vor einem russischen Angriff auf ein Nato-Land. Was steckt dahinter und müssen die Deutschen nun Angst haben? Im Interview spricht der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger über die Warnungen und über die Bedrohung, die von Russland für Deutschland und Europa ausgeht.

Boris Pistorius hat vor einem Krieg zwischen Russland und einem Nato-Land gewarnt – und ist damit nicht allein. Was steckt dahinter?

Thomas Jäger: Der Hauptadressat all dieser Warnungen ist der Bundeskanzler. Der hat nämlich noch nicht verstanden, dass die eigene Stärke dazu führt, dass ein Krieg unwahrscheinlicher wird. Je mehr die Bundeswehr in die Lage versetzt wird, wirklich abschreckend zu wirken, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Es ist Russlands Kalkulation, dass die europäischen Staaten sich nicht in die Lage versetzen, wirklich Krieg führen zu können.

Zuletzt kursierten Zeiträume, in denen ein russischer Angriff auf ein Nato-Land wahrscheinlich sei: Zwei Jahre, fünf Jahre, 20 Jahre.

Diese ganzen Zeithorizonte, die nun genannt werden, sind ein ziemlicher Kokolores. Und zwar, weil es ganz unterschiedliche Formen eines Angriffs geben kann: Da sind Desinformationskampagnen. Da ist politische Erpressung. Da ist der Versuch, Druck auf Staaten auszuüben, die dann militärisch nicht antworten können.

Putins Pläne: „Die Ukraine ist ein Mosaikstein“

Also wird Europa bereits jetzt von Russland angegriffen.

Ja, natürlich. Bei der Auseinandersetzung, die Putin führt, ist die Ukraine ein Mosaikstein. Das Land will er besetzen. Aber die Destabilisierung der Europäischen Union und der Staaten in der EU, die läuft schon.

Der Vorstoß von Boris Pistorius ist also vor allem ein innenpolitisches Signal?

Ja, denn nach außen – also gegenüber den Verbündeten und gegenüber Russland – wird er nicht laut sagen: „Leute, wir müssen viel, viel mehr machen.“ Diese Botschaft richtet sich also nach innen. Sie richtet sich an diejenigen, insbesondere auch in seiner eigenen Partei, die immer noch der Ansicht sind, dass die eigene militärische Schwäche einen Krieg verhindert. Was nur damit erklärt werden kann, dass sich diejenigen mit der Frage noch nie seriös beschäftigt haben. Eine kriegstüchtige Armee wirkt auf die Gegenseite abschreckend.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) spricht mit Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Pistorius will – und würde weit mehr investieren“, sagt Thomas Jäger von der Universität zu Köln. (Archivbild)

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) spricht mit Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Pistorius will – und würde weit mehr investieren“, sagt Thomas Jäger von der Universität zu Köln. (Archivbild)

Derartige Warnungen wecken Sorgen. Müssen die Deutschen Angst vor einem Krieg zwischen Russland und der Nato haben?

Die Menschen sollten Druck auf die Politik machen, damit die Bundeswehr so gut wie möglich ertüchtigt wird, um dann möglichst wenig Angst haben zu müssen.

Putin behauptet, kein Interesse an einem Krieg mit der Nato zu haben. Gleichzeitig verkündet Moskau, die deutsche Nato-Brigade in Litauen mache eine „Eskalation“ wahrscheinlicher und Medwedew droht regelmäßig mit Atomschlägen. Sind diese doppelten Botschaften eventuell nur Geplänkel, um die Ziele in der Ukraine zu erreichen?

Nein. Die Planungen in Russland gehen über die Ukraine hinaus. Der erste Schritt ist, die Ukraine einzunehmen. Die Russen wissen, das kann dauern, weil der ursprüngliche Plan eines Enthauptungsschlags gegen Kyjiw nicht aufging – und dass sie jetzt warten müssen, bis sie einen Vorteil an Rüstung und Personal haben. Andererseits laufen bereits Desinformationskampagnen in den EU-Staaten. Es werden von höchster politischer Stelle und aus der russischen Gesellschaft heraus Drohungen gegenüber dem Baltikum und Polen ausgesprochen. Die russischsprachige Bevölkerung werde dort „wie Schweine behandelt“, wie Putin es ausgedrückt hat. Das ist ein bekanntes Drehbuch.

Drohungen gegen das Baltikum: „Ein bekanntes Drehbuch“

Auch die Angriffe auf die Ukraine wurden vom Kreml stets mit der angeblich bedrohten Lage der russischsprachigen Bevölkerung vor Ort begründet.

Genau. Nun stellt sich die Frage: Versetzen sich die baltischen Staaten zusammen mit ihren Verbündeten in die Lage, Russland klarzumachen, dass es militärisch nicht erfolgreich sein wird? Gelingt das, ist die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Angriffs geringer, als wenn man blank dasteht. Das heißt aber nicht, dass die militärische Abschreckung die einzige Abwehr gegenüber Russland ist. Die russische Seite unterstützt ja auch bestimmte politische Parteien in EU-Ländern, die, würden sie an die Macht kommen, möglicherweise ganz andere Entscheidungen treffen würden.

Kremlchef Wladimir Putin behauptet, keinen Krieg mit der Nato führen zu wollen. Moskau behauptete allerdings auch lange, dass es die Ukraine nicht angreifen werde. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin behauptet, keinen Krieg mit der Nato führen zu wollen. Moskau behauptete allerdings auch lange, dass es die Ukraine nicht angreifen werde. (Archivbild)

Man kann Russland also auch an der Wahlurne abschrecken? In der Slowakei hat das nicht funktioniert. Der pro-russische neue Ministerpräsident Robert Fico forderte jüngst die Aufgabe ukrainischer Gebiete und schürt Weltkriegsängste.

Richtig. Das ist eine Strategie, auf die sich Russland für viele Jahre eingestellt hat. Für die Russen ist das alles ein Projekt von mehreren Jahrzehnten.

Was kommt nach Wladimir Putin?

Wladimir Putin ist nicht mehr der Jüngste. Ist das lediglich sein Plan oder der Plan Russlands?

Das ist Putins Plan für Russland, der nach Putin weitergeführt wird.

Europa bleibt im Grunde also nichts anderes übrig, als sich angesichts dieser Gefahr zu rüsten?

Und das nicht nur kurzfristig, sondern für die nächsten Jahrzehnte. Diese prägende Auseinandersetzung zwischen zwei Ordnungsmodellen wird andauern, solange in Russland dieses Regime herrscht. Und es ist nicht abzusehen, wie das zusammenbrechen soll.

Es sei nicht abzusehen, dass Putins Regime in Moskau bald zusammenbricht, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität zu Köln. (Archivbild)

Es sei nicht abzusehen, dass Putins Regime in Moskau bald zusammenbricht, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität zu Köln. (Archivbild)

Die „Zeitenwende“ bei der Bundeswehr scheint nur langsam ins Rollen zu kommen. Ist die Unterstützung der Ukraine kurzfristig alles, was Deutschland und Europa tun können?

Das ist ein wesentlicher Baustein, um Russland einzudämmen. Wenn Russland an der Ukraine scheitert – und das tut es momentan, es erreicht seine Kriegsziele nicht –, dann wirkt das eindämmend. Wenn Russland seine Ziele in der Ukraine aber erreicht, dann bekommt der Kreml das, was mit dem Angriff intendiert war: 36 Millionen mehr Menschen, mehr volkswirtschaftliches Vermögen und mehr Raum, der in Europa gewonnen wurde. Das war der Plan.

Um die deutschen Taurus-Marschflugkörper tobt seit Monaten eine rege Debatte. Bisher will Scholz sie nicht liefern.

Wenn Scholz bei Lieferungen an die Ukraine zögert, ist das nur die eine Seite. Die andere ist: Warum werden Taurus für die Bundeswehr nicht angeschafft? Von Flugabwehr bis Artilleriegeschossen – warum wird das nicht jetzt angeschafft? Wo sind denn da die Bestellungen ausgelöst worden? Es ist absolut unverständlich, dass der Ertüchtigungsprozess der Bundeswehr noch nicht einmal angefangen hat.

Ist Bürokratie oder Unwillen der Grund dafür?

Das ist Unwillen. Seit Februar 2022 weiß man eigentlich, dass wir gar keinen Tag mehr Zeit haben. Dass zwei Jahre nichts getan wurde, hat nur etwas damit zu tun, dass man nicht will. Pistorius’ Hinweis ist ja auch einer an den Kanzler. Pistorius will – und würde weit mehr investieren. Aber Scholz – wir wissen ja nicht genau, wo er steht – ist auch in seiner Partei gebunden und hat es dort mit den Ralf Stegners zu tun, die nicht verstehen, was gerade geschieht und die keine ernstzunehmenden Gesprächspartner dabei sind. Aber sie haben eben eine Stimme.


Thomas Jäger, 1960 in Hanau geboren, ist Politikwissenschaftler an der Universität zu Köln. Im Jahr 1999 wurde Jäger in Köln zum Professor für „Internationale Politik und Außenpolitik“ berufen. Auf X (vormals Twitter) findet man seine Beiträge unter: @jaegerthomas2