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Als Russland Tschernobyl einnahm„Sie waren auf der Suche nach Biolaboren, aber wurden verstrahlt“

Lesezeit 6 Minuten
Ein russischer Soldat steht im März 2022 vor dem Hauptgebäude des AKW Tschernobyl. (Archivbild)

Ein russischer Soldat steht im März 2022 vor dem Hauptgebäude des AKW Tschernobyl. (Archivbild)

Vor 38 Jahren explodierte das AKW Tschernobyl. Nach Russlands Angriff war die nächste Katastrophe nah. Die erlebten jedoch schließlich nur russische Soldaten.

Vor genau 38 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich die Katastrophe im damals noch sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Vor zwei Jahren, direkt nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, wäre es schließlich fast erneut zu einem Desaster in dem berüchtigten AKW gekommen. Im Gespräch mit der „Kyiv Post“ erinnert sich Valerij Semenov, Leiter des Sicherheitsdienstes des havarierten Kernkraftwerks während der Besetzung, nun an die prekären Stunden und Tage nach Ankunft der russischen Truppen.

Dass am 24. Februar 2022 „russische Flugzeuge in einer Höhe von nur 30 Metern über die Anlage geflogen sind“, sei für das Personal das erste Zeichen für die baldige Ankunft russischer Truppen – und bereits das erste große Risiko gewesen, das die russische Armee bei ihrer Besatzung von Tschernobyl eingegangen sei. Über Atomkraftwerken gilt aus Sicherheitsgründen normalerweise eine Flugverbotszone. Bereits diese Manöver, bei denen russische Jets direkt über den havarierten Reaktor flogen, hätten in der Katastrophe enden können.

Russlands Armee in Tschernobyl: Kanonenrohre auf Reaktorblöcke gerichtet

Später am Tag sind schließlich die ersten Bodentruppen in Tschernobyl eingetroffen, erklärt Semenov. Der russische Konvoi habe direkt vor dem Hauptgebäude des AKWs geparkt – und die Kanonenrohre auf die Reaktorblöcke gerichtet. Angesichts dieser Lage habe der Sicherheitsdienst darauf verzichtet, Widerstand zu leisten. „Wir wussten ja von dem gelagerten Atommüll in den Gebäuden“, so Semenov. Dass auf dem Gelände geschossen wird, habe man unbedingt verhindern wollen. „Die Konsequenzen wären katastrophal gewesen.“

In den folgenden Tagen habe sich vor allem der mentale Zustand des ukrainischen Sicherheitspersonals drastisch verschlechtert, erklärt Semenov. „Es wurde jeden Tag schlimmer“, schildert der ehemalige Sicherheitschef die Lage seiner Mitarbeiter, die nur während der Mittagspausen einmal täglich Tageslicht erblickten. „Wir konnten die Russen aber davon überzeugen, dass sie selbst nicht in der Lage sind, das havarierte Kraftwerk zu kontrollieren“, schildert Semenov. So blieb das ukrainische Personal zwar im Dauereinsatz – stellte somit aber auch sicher, dass das Kernkraftwerk und die Notstromversorgung intakt blieben.

Russische Soldaten ignorierten radioaktive Gefahren in Tschernobyl

Schnell sei offensichtlich geworden, dass die russischen Truppen nicht wussten, wie gefährlich die Anlage auch heute noch ist. „Sie haben alte Ausrüstung von 1986 weggeschleppt, die bis heute stark kontaminiert ist.“ Sich länger als eine Stunde in der Nähe der damals zurückgelassenen Geräte aufzuhalten, sei „höchst unratsam“, erklärt Semenov. Die russischen Truppen hätten darauf jedoch nicht geachtet.

In den kommenden Tagen sei das Verhalten der russischen Soldaten sogar noch abstruser geworden, erinnert sich der Sicherheitschef. So hätten die Besatzer ihre Kleidung nach dem Waschen auf Drähten nahe den Reaktorblöcken aufgehängt, die bereits 1986 dort angebracht waren – und bis heute erheblich verstrahlt sind. Nach dem Trocknen auf der radioaktiven Wäscheleine, so Semenov, hätten die Soldaten ihre Kleidung einfach wieder angezogen.

Putins Propaganda: Verstrahlt auf der Suche nach angeblichen Biolaboren

„Sie dachten, sie bekommen in der Ukraine einen warmen Empfang“, erinnert sich Semenov an Gespräche mit den Soldaten, die überzeugt gewesen seien, dass es sich nur um einen dreitägigen Kurzeinsatz handeln würde. Zudem seien die von Moskau zuvor verbreiteten Propagandamärchen über geheime Biolabore in der Ukraine und ein „Nazi-Regime“ in Kiew unter den russischen Truppen populär gewesen, schildert Semenov. „Sie waren auf der Suche nach Biolaboren, wurden aber verstrahlt.“ Jeden Tag hätten die Besatzer auf dem Gelände gesucht, dabei immer wieder Atommüllhalden freigelegt und sich der hohen radioaktiven Strahlung der dort gelagerten Materialien ausgesetzt.

Das Kernkraftwerk in Tschernobyl. Im Hintergrund ist die Schutzhülle um den havarierten Reaktorblock 4 zu sehen. (Archivbild)

Das Kernkraftwerk in Tschernobyl. Im Hintergrund ist die Schutzhülle um den havarierten Reaktorblock 4 zu sehen. (Archivbild)

„Ich konnte sie schließlich von der Gefahr ihres Unterfangens überzeugen“, erinnert sich Semenov. Schließlich hätte die russische Armee auch zugestimmt, Diesel für die Notstromgeneratoren heranzuschaffen. Als größte Errungenschaft des Sicherheitsdienstes sieht Semenov allerdings, dass es gelungen sei, die russischen Truppen von den hochsensiblen Bereichen des Atomkraftwerks fernzuhalten. „Alle anderen Bereiche haben sie geplündert“, erinnert sich der nunmehrige Soldat.

„Sie haben Geräte mitgenommen, die Jahrzehnte lang radioaktivem Staub ausgesetzt waren“

Dass das AKW auf die geplünderte Ausstattung für einen reibungslosen Betrieb angewiesen ist, sei den russischen Truppen dabei ebenso egal gewesen wie die mitunter heftige radioaktive Kontamination ihres Diebesguts. „Sie haben Ventilatoren mitgenommen, die seit Jahrzehnten radioaktivem Staub ausgesetzt waren“, erinnert sich der Sicherheitschef.

Am 31. März seien die Russen schließlich abgezogen – samt der mitunter radioaktiv verseuchten Beute im Gepäck. Das Personal des ukrainischen Sicherheitsdienstes, der seit dem 24. Februar im Dauereinsatz war, musste allerdings noch länger ausharren. „Am 3. April klingelte schließlich das Telefon“, erinnert sich Semenov. „Guten Morgen, hier sprechen die Streitkräfte der Ukraine“, habe eine Stimme gesagt – und Zutritt zu dem Gelände des Atomkraftwerks verlangt. Für Semenov und seine Kollegen bedeutete das die lang ersehnte Erlösung. „Es war das Beste, was ich jemals in meinem Leben gehört habe.“

Erlösung am 3. April: „Das Beste, was ich jemals gehört habe“

Am Jahrestag des Unfalls in Tschernobyl blickt jedoch nicht nur der ehemalige Sicherheitschef zurück, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meldete sich zu Wort – und warnte vor einer Wiederholung der Katastrophe in Europas größtem Atomkraftwerk in Saporischschja, das sich „in den Händen russischer Terroristen“ befinde.

Selenskyj ermahnte die Weltgemeinschaft, Druck auf Russland auszuüben, damit das Kraftwerk wieder unter ukrainische Kontrolle komme „und dass alle atomaren Objekte in der Ukraine sicher vor russischen Angriffen sind“. Allein das würde die Welt vor einer neuen atomaren Katastrophe bewahren.

Zugleich erinnerte der Präsident an die Menschen, die beim Atomunglück vor 38 Jahren um das Kraftwerk von Tschernobyl im Einsatz waren: „Zehntausende Menschen haben um den Preis ihrer Gesundheit und ihres Lebens die Ausweitung der Tschernobylkatastrophe gestoppt und dabei geholfen, ihre schrecklichen Folgen 1986 und in den Jahren danach zu beseitigen“.

Wolodymyr Selenskyj warnt vor neuer atomarer Katastrophe

Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor vier des damals sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl in der Nordukraine. Das Unglück gilt als die größte Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft. Wegen der Radioaktivität wurden weite Landstriche um das AKW in der heutigen Ukraine und im benachbarten Belarus gesperrt und Zehntausende Menschen zwangsumgesiedelt. Tausende Menschen starben an den Folgen der radioaktiven Strahlung. Das Kraftwerksgelände befindet sich nur gut 90 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Auch an die bedrohliche Situation zu Kriegsbeginn, als Tschernobyl für 35 Tage unter russischer Kontrolle war, und an die Lage der Sicherheitsleute um Valerij Semenov, die insgesamt 44 Tage auf dem Gelände ausharrten, erinnerte Selenskyj an diesem Freitag. „Russische Soldaten raubten die Laboratorien aus, nahmen die Wache in Gefangenschaft und haben das Personal erniedrigt“, schrieb der Staatschef. „Wir erinnern uns an den Einsatz der Menschen, die 1986 Leben gerettet haben. Wir danken jedem, der jetzt hilft, Leben zu retten“, fügte er an.