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ATACMS-Raketen heimlich geliefert„Jetzt werden wir die Russen von der Krim vertreiben“

Lesezeit 5 Minuten
Eine ATACMS-Rakete wird bei einer Übung der US-Armee abgefeuert. Washington hat die Ukraine mit einer weitreichenden Variante des Raketensystem ausgestattet.

Eine ATACMS-Rakete wird bei einer Übung der US-Armee abgefeuert. Washington hat die Ukraine mit einer weitreichenden Variante des Raketensystem ausgestattet.

Die USA haben der Ukraine heimlich neue Raketen geliefert – Moskau droht und poltert. Für Kiew bieten sich im Krieg nun neue Optionen.

Die USA haben der Ukraine Raketen vom Typ ATACMS mit größerer Reichweite für den Einsatz innerhalb des ukrainischen Staatsgebiets bereits im März heimlich geliefert. „Ich kann bestätigen, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine auf direkte Anweisung des Präsidenten ATACMS mit großer Reichweite geliefert haben“, sagte Außenamtssprecher Vedant Patel am Mittwoch. Derweil kündigte US-Präsident Joe Biden nach der Freigabe eines milliardenschweren Hilfspakets für die Ukraine schnelle weitere Lieferungen an das von Russland angegriffene Land an.

Die Raketen seien Teil eines Hilfspakets aus dem März gewesen und „diesen Monat“ in der Ukraine angekommen, erläuterte Patel. Die Lieferung sei zunächst nicht bekannt gegeben worden, „um die operative Sicherheit der Ukraine auf deren Wunsch hin aufrechtzuerhalten“. Die Raketen sind demnach nicht Teil des am Dienstag vom US-Kongress verabschiedeten Hilfspakets für die Ukraine.

USA sollen mehr als 100 ATACMS mit großer Reichweite geliefert haben

Laut einem Bericht der „New York Times“ soll die Lieferung in der letzten Woche bei den ukrainischen Streitkräften eingetroffen sein. Mehr als 100 ATACMS-Raketen mit großer Reichweite seien geliefert worden, hieß es.

Die Ukraine soll die reichweitenstarken Raketen auch bereits eingesetzt haben. In den frühen Morgenstunden des 17. April seien sie erstmals gegen einen russischen Flugplatz auf der Halbinsel Krim zum Einsatz gekommen, der etwa 165 km von der Frontlinie entfernt liegt, berichtet „Reuters“, außerdemdem bei einem weiteren Angriff auf ein nicht näher benanntes Ziel.

ATACMS bieten neue Möglichkeiten im Kampf gegen Russlands Armee

Grundsätzlich ergeben sich mit den weitreichenden Raketen neue Möglichkeiten für die ukrainischen Streitkräfte – die gesamte Krim ist nun in Reichweite für Angriffe mit ATACMS, inklusive der strategisch wichtigen Krim-Brücke, die man in Kiew bereits lange als primäres Ziel ausgegeben hat.

Zerstören können die amerikanischen Raketen die Brücke jedoch nicht, dafür dürfte die Sprengkraft der Waffe Experten zufolge nicht ausreichend sein. Allerdings sei es durchaus möglich, einzelne Segmente der Brücke mit Angriffen zumindest zeitweilig zu beschädigen – und so die Nutzung durch Russland einzuschränken.

ATACMS-Raketen können Krim-Brücke wohl nicht zerstören

Die jüngsten Angriffe hätten „einmal mehr bewiesen, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld gewinnen kann, wenn sie über die richtigen Waffen verfügt“, erklärte Senator Roger Wicker den Zweck der amerikanischen Lieferung von Langstreckenraketen, die man sich in Kiew bereits lange gewünscht hatte.

„Die Ukraine kann jedes russische Ziel auf der Krim angreifen, einschließlich kritischer Munition- und Treibstoffdepots“, schrieb der Republikaner aus dem US-Bundesstaat Mississippi bei X. „Stellen Sie sich vor, sie hätten diese Raketen vor zwei Jahren gehabt.“

Konnte Russland sich durch die lange Verzögerung vorbereiten?

Beim amerikanischen Institut für Kriegsstudien (ISW) kommt man zu einer ähnlichen Einschätzung: „Die Ankunft von ATACMS-Langstreckenraketen in ausreichender Menge wird es den ukrainischen Streitkräften ermöglichen, die russische Logistik zu beeinträchtigen und russische Flugplätze in tief im Hinterland liegenden Gebieten zu bedrohen“, schreiben die US-Analysten in ihrem aktuellen Lagebericht.

Allerdings habe die „monatelange Verzögerung“ des US-Hilfspakets den russischen Truppen Zeit verschafft, um die Auswirkungen der neuen ATACMS-Raketen „auszugleichen“, heißt es beim ISW. Außerdem müssten die Angriffe mit den Raketen erfolgreich mit Bodenoperationen koordiniert werden, um das volle Potenzial der Waffe nutzen zu können.

„Jetzt werden wir sie von den Flughäfen der Krim vertreiben“

In Kiew herrscht angesichts der Entscheidung in Washington unterdessen Freude. Dort hatte man schon lange auf die Lieferung weitreichender westlicher Raketen gedrängt – auch die deutschen Taurus-Marschflugkörper hätte man in der Ukraine gerne.

Bereits im März hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, warum die Raketen für die Ukraine so wichtig sind. „Wenn Russland weiß, dass wir diese Jets zerstören können, werden sie von der Krim aus nicht angreifen“, erklärte Selenskyj mit Blick auf Angriffe auf russische Flugplätze auf der Halbinsel. „Es ist wie mit der Seeflotte. Wir haben sie aus unseren Hoheitsgewässern vertrieben. Jetzt werden wir sie von den Flughäfen der Krim vertreiben.“

Ukraine musste lange auf Raketen mit 300 Kilometern Reichweite warten

Die USA hatten der Ukraine erstmals im vergangenen Jahr ATACMS-Raketen geliefert – aber nur mit einer Reichweite von 165 Kilometern. Seit dem stand der Wunsch nach der nun gelieferten Ausführung der Waffe im Raum. Die ATACMS-Variante mit der längsten Reichweite kann Ziele in bis zu 300 Kilometern Entfernung treffen. Das Pentagon bestätigte, dass es sich bei den nun gelieferten Raketen um die Variante mit größerer Reichweite gehandelt habe – und dass es dabei nicht bleiben soll.

Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, kündigte an, dass die USA weitere Raketen mit großer Reichweite an die Ukraine liefern werden. „Sie werden viel bewegen“, sagte Sullivan. Er wiederholte gleichzeitig seine Aussage, dass es keine „Wunderwaffe“ im Krieg zwischen Russland und der Ukraine gebe. Sullivan sagte zudem, es sei möglich, dass Russland in den kommenden Wochen weitere taktische Fortschritte erzielen könne. Die ukrainische Armee leidet derzeit unter Munitionsmangel und Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Soldaten. Zuletzt hatte die russische Armee an der Ostfront Geländegewinne verzeichnen können.

Olaf Scholz bleibt bei Nein zu Taurus – Moskau droht mit Problemen

Die Entscheidung des US-Kongresses für das Hilfspaket zeige, „dass Putin sich verrechnet, wenn er glaubt, die Staaten in Europa, in den USA, all die anderen Unterstützer würden die Ukraine irgendwann im Stich lassen“, kommentierte Bundeskanzler Olaf Scholz die Entscheidung der USA. Sein zu den immer wieder heiß diskutieren deutschen Taurus-Marschflugkörpern bekräftigte der Kanzler jedoch im gleichen Atemzug.

Weniger freudig fielen unterdessen die Reaktionen in Russland aus. „Wir werden unser Ziel erreichen, aber das wird der Ukraine selbst noch mehr Probleme bereiten“, drohte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch der staatlichen Nachrichtenagentur Ria zufolge.

„Die russischen Streitkräfte haben bereits mehrere ATACMS-Raketen abgeschossen. Sie werden dies auch weiterhin tun. Weder diese Raketen noch andere Waffen können helfen, die Russische Föderation zu besiegen“, erklärte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow – und warf der Ukraine ohne jegliche Beweise vor, mit den neuen Raketen das tun zu wollen, was Russland bereits seit Kriegsbeginn nahezu täglich in der Ukraine tut, nämlich „Schulen, Kindergärten und Brücken“ zerstören zu wollen. (mit afp)