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Ukraine„Der Westen muss den Krieg als Signal begreifen, über sich nachzudenken“

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Journalisten filmen nach einem nächtlichen Drohnenangriff die zerstörte Näherei in der Hafenstadt Odessa. Bei dem Angriff sind drei Menschen getötet worden. Am 24.02.2024 jährt sich zum zweiten Mal der Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine.

Journalisten filmen nach einem nächtlichen Drohnenangriff die zerstörte Näherei in der Hafenstadt Odessa. Bei dem Angriff sind drei Menschen getötet worden.

Wirtschaftswissenschaftler Stefan Kolev sagt, die westlichen Demokratien wirkten im Umgang mit sich selbst defensiv. Das sei, bei aller berechtigten Kritik, unnötig.

Stefan Kolev ist fest davon überzeugt: Der aufopferungsvolle Widerstand der Ukraine gegen Russlands Angriff ist ein Beleg für die starke Anziehungskraft der Idee der westlichen Ordnung. „Wir leben in einer großartigen Welt, in der – historisch betrachtet – Freiheit und Wohlstand für so viele Menschen wie noch nie zugänglich sind“, sagt der Mann, der Wirtschaftspolitik an der Westsächsischen Hochschule Zwickau lehrt und seit einem Jahr das Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin leitet.

Der 42-Jährige stammt aus Bulgarien, wuchs dort auf und kennt aus eigenem familiären Erleben die schweren Verwerfungen, die die Transformation von der kommunistischen zur freien, demokratischen Gesellschaft mit sich bringt. Wohl gerade wegen der eigenen Erfahrungen mit einem diktatorischen System in Osteuropa tritt er vehement als Verteidiger von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft westlicher Prägung auf. „Natürlich müssen wir kritisch sein“, sagt Kolev auch angesichts vieler Debatten, die derzeit bundesweit stattfinden. „Aber wir brauchen eine bejahende und keine zersetzende Kritik.“

Der Westen müsse den Ukraine-Krieg als Signal begreifen, über sich selbst neu nachzudenken, aber nicht unter dem Aspekt der Selbstverleugnung, sondern unter dem Aspekt des Besserwerdens. Als wissenschaftlicher Leiter des Thinktanks Ludwig-Erhard-Forum will Kolev im politischen Berlin dem Ordoliberalismus in der Tradition von Erhard (1897–1977) wieder mehr Gehör verschaffen. Das ist jene ökonomische Schule, die mit ihren Prinzipien der freien Märkte und des Wettbewerbs plus sozialer Absicherung die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg hat so erfolgreich werden lassen.

Gerade die harten Debatten müssen in der politischen Mitte ausgetragen werden, und von dort muss das Signal ausgehen, dass diese Mitte Antworten auf die anstehenden Fragen hat.
Stefan Kolev, Ökonom

Das Ludwig-Erhard-Forum mit Sitz in Berlin ist die Forschungseinrichtung der 1967 gegründeten, in Bonn ansässigen Ludwig-Erhard-Stiftung und versteht sich als Denkfabrik für ordnungsökonomische Fragen der Sozialen Marktwirtschaft.

„Es kommt mir manchmal so vor, als würden wir im Jahr 1928 leben“, sagt Kolev und verweist auf „alle möglichen Spannungen innerhalb nationaler Demokratien, aber auch auf internationaler Ebene“. Viele Menschen würden der bisherigen Ordnung die Überwindung von Krisen nicht mehr zutrauen. Sie würden sich abwenden und nach einer anderen Ordnung suchen. Als ein solches alternatives Ordnungsangebot sehen manche auch die Politik diktatorisch regierter Staaten wie China, Iran oder Russland an.

Putin: Überhöhung der alten Sowjetordnung

Russlands Präsident Wladimir Putin, der durch und durch ein geistiges Kind der Sowjetunion sei, wolle zwar nicht zum Kommunismus zurück, aber er habe in einem groß angelegten Projekt in den vergangenen 20 Jahren eine „geistige Resowjetisierung“ der Gesellschaft in Gang gesetzt. Dazu gehöre die Überhöhung der alten Sowjetordnung ebenso wie die Herabsetzung der westlichen Demokratie, sagt Kolev.

Wolodymyr Selenskyj (rechts), Präsident der Ukraine, legt neben Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin von Dänemark, und ihrem Ehemann Bo Tengberg Blumen während einer Gedenkfeier auf dem Marsfeld auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw nieder.

Wolodymyr Selenskyj (rechts), Präsident der Ukraine, legt neben Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin von Dänemark, und ihrem Ehemann Bo Tengberg Blumen während einer Gedenkfeier zum zweiten Jahrestag der Invasion auf dem Marsfeld auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw nieder.

Die alte Sowjetunion sei ein am Reißbrett entstandenes künstliches Gebilde gewesen, das als bewusster Gegenentwurf zum Westen gedacht war und von Anfang an das Ziel verfolgte, zu expandieren und dabei den Westen auszuhöhlen, zu schwächen und zu unterwandern. An dieses Ziel knüpfe Putin heute noch an, und deshalb sei die Hinwendung der Ukraine zum Westen, besonders zur EU, für ihn so schmerzlich, sagt Kolev. Gerade weil Putin die zweitgrößte ehemalige Sowjetrepublik als integralen Bestandteil einer Resowjetisierung betrachtet, ist es für ihn nicht hinnehmbar, dass dort Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft Einzug halten und sich somit eine Gesellschaft westlicher Prägung wie etwa im Nachbarland Polen entwickelt.

Um so wichtiger sei es, dass die Ukraine möglichst schnell Mitglied der Europäischen Union werde, erläutert Kolev. „Das wäre ein klares Zeichen, dass die vielen Opfer nicht umsonst waren.“ Zudem würde die Aufnahme der Ukraine in die EU die Union selbst zu wichtigen Reformschritten zwingen, die jetzt schon dringend nötig seien. Er wundere sich manchmal, sagt Kolev, dass die von den Ukrainerinnen und Ukrainern in ihrem Überlebenskampf hochgehaltenen Symbole wie Freiheit und Selbstbestimmung „bei uns selbst ziemlich verblasst sind“.

Der heutige Westen wirke im Umgang mit sich selbst defensiv und unsicher, dabei gelte es, „eine wirklich wunderbare Welt“ zu verteidigen. Die ist nach Kolevs Auffassung „sicher nicht die beste aller theoretisch möglichen, wohl aber die beste aller historischen Welten“. Sich ein neues Selbstbewusstsein zuzulegen, das seien die westlichen Demokratien auch der Ukraine schuldig, die täglich enorme Opfer im Kampf für eine westliche Ordnung erbringe.

Es kommt mir manchmal so vor, als würden wir im Jahr 1928 leben.
Stefan Kolev, Ökonom

Mit Blick auf Deutschland plädiert Kolev gegen ein Verbot und für einen furchtlosen Umgang mit der AfD. Nach bislang zwölf Jahren Lehrtätigkeit in Sachsen, wo die AfD derzeit mit 35 Prozent laut Umfragen stärkste Kraft ist, hat das FDP-Mitglied Kolev viel Erfahrung in der politischen Basisarbeit sammeln können und dabei vor allem eines gelernt: „Gerade die harten Debatten müssen in der politischen Mitte ausgetragen werden, und von dort muss das Signal ausgehen, dass diese Mitte Antworten auf die anstehenden Fragen hat.“

Er hält es beispielsweise für einen großen Fehler, dass das Thema Migration in Deutschland nie systematisch diskutiert wurde. Kolev ist überzeugt, dass die politische Mitte auch wieder Zulauf bekommt, wenn sie sich den anstehenden Themen stellt und zudem konsequent handelt. „Dann wird die Mehrheit auch wieder anerkennen, dass das der politische Raum ist, dem man eigentlich angehören sollte.“