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„Es ist beängstigend, totale Scheiße“„Panikmodus“ in Russland – Ukraine dringt immer tiefer nach Kursk vor

Lesezeit 5 Minuten
Ein Bild des russischen Verteidigungsministeriums soll russische Luftschläge auf ukrainische Panzer in der Region Kursk zeigen.

Ein Bild des russischen Verteidigungsministeriums soll russische Luftschläge auf ukrainische Panzer in der Region Kursk zeigen.

Die Lage in Kursk bleibt unübersichtlich. Die Ukraine rückt weiter vor – die Russen in der Region schimpfen derweil auf Moskau und die Armee.

Die Gefechte in der russischen Grenzregion Kursk dauern an. Bei der am Dienstag überraschend gestarteten Offensive sind ukrainische Truppen mindestens zehn Kilometer tief auf russisches Territorium vorgedrungen – und haben dabei offenbar mehrere Ortschaften und die strategisch wichtige Stadt Sudscha mindestens teilweise unter ihre Kontrolle gebracht. Dort befindet sich eine Messstation einer wichtigen russischen Gaspipeline Richtung Westeuropa. Zuvor war spekuliert worden, die Pipeline könnte eines der Ziele der ukrainischen Offensive sein.

Der russische Militärblog Rybar berichtete am Mittwochabend, der westliche Teil der Kleinstadt sei unter ukrainischer Kontrolle. Gekämpft werde um den Osten der Stadt. Hauptproblem für die russische Seite sei, dass die Ukraine noch weitere Kräfte heranziehen könne.

Kursk: Ukraine stößt mindestens zehn Kilometer nach Russland vor

Offiziell hält sich die Ukraine weiterhin bedeckt zu dem Vorstoß auf gegnerisches Gebiet. Im Morgenbericht des Generalstabs wurde die Offensive nicht erwähnt. Experten des amerikanischen Instituts für Kriegsstudien (ISW) bestätigten unterdessen anhand von Informationen in sozialen Netzwerken, dass die ukrainischen Truppen mindestens zehn Kilometer weit auf russisches Gebiet vorgedrungen seien.

Russische Militärblogger berichten unterdessen in ihren jüngsten Beiträgen, die ukrainische Armee sei mittlerweile rund 25 Kilometer tief nach Russland vorgedrungen. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben zunächst nicht. Die Lage in Kursk bleibt unübersichtlich, viele Informationen kommen erst mit Verzögerung an die Öffentlichkeit.

Ukrainische Offensive in Kursk: Große Landgewinne in nur 48 Stunden

Klar scheint jedoch: Mit der Offensive wurden die russischen Truppen in der Region kalt erwischt. Sollten die Angaben der Kriegsblogger zutreffen, „hat die Ukraine in den letzten 48 Stunden mehr Land erobert als in der gesamten Sommer-Gegenoffensive im letzten Jahr“, berichtete Yaroslaw Trofimov, Korrespondent des „Wall Street Journal“, im sozialen Netzwerk X.

Über Kursk wurde unterdessen der Ausnahmezustand verhängt, Tausende Menschen sind dort auf der Flucht. In Moskau nannte Präsident Wladimir Putin am Mittwoch den ukrainischen Angriff eine „groß angelegte Provokation“. Der amtierende Vizegouverneur von Kursk, Andrej Belostozki, behauptete im russischen Fernsehen derweil: „Der Feind ist keinen Meter vorangekommen, im Gegenteil, er zieht sich zurück.“

Kursk: Lügen des Kreml rücken auch in Russland in den Fokus

Die Berichte in russischen, dem Militär nahestehenden Telegram-Kanälen fallen allerdings seit Beginn der Offensive deutlich anders aus als die Angaben aus Moskau und von russischen Offiziellen. Es spricht wenig dafür, dass Belostozkis Behauptung der Wahrheit entspricht.

Bereits zu Beginn des Angriffs hatte der Kreml am Dienstag zunächst geleugnet, dass es einen erfolgreichen ukrainischen Vorstoß gegeben habe – und stattdessen verkündet, die ukrainischen Einheiten seien direkt an der Grenze gestoppt worden.

Zeitgleich berichteten Kriegsblogger in ihren Kanälen das Gegenteil – auch auf zahlreichen Videos in den sozialen Netzwerken waren Gefechte in der Region zu sehen. Auch Aufnahmen, die zeigen sollen, wie russische Soldaten sich in großer Zahl ergeben, kursierten im Netz. Moskau räumte den erfolgreichen ukrainischen Angriff schließlich einige Stunden später doch noch ein.

„Zurückzufahren ist beängstigend, es ist totale Scheiße“

Das Vorgehen des Kremls sorgt auch unter russischen Bürgern mittlerweile für Ärger. Die Falschangaben aus Moskau werden in Telegram-Kanälen mittlerweile offen angeprangert. „Die Russen, die in der Gefechtszone leben, konnten gestern in den Nachrichten lesen, dass alles in bester Ordnung und die Angreifer besiegt worden seien, nur um am Morgen festzustellen, dass sich die Kämpfe ausgedehnt haben – und sie jetzt nicht einmal abhauen können“, hieß es von einem Blogger, dem bei Telegram mehr als 100.000 Menschen folgen.

Ein anderer Russe schildert in einem Video eine gefährliche Lage in der Region. „Hier sind Panzer“, sagt der Mann, der angibt, zunächst vor den ukrainischen Gruppen geflohen zu sein, dann jedoch zurückkehrt sei, um Dokumente aus seinem Haus zu holen. „Zurückzufahren ist beängstigend, es ist totale Scheiße“, beschwert sich der Russe in dem Video. „Es gibt keine Luftverteidigung in Kursk – wo ist unsere glorreiche Armee?“

Russische Kriegsblogger „vollständig im Panikmodus“

Unabhängig überprüft werden können die Angaben nicht – doch ähneln sich die Berichte stark. Die russischen Militärblogger befänden sich „vollständig im Panikmodus“, fasste Trofimov seine Eindrücke zusammen, die sich mit denen des Historikers und Osteuropa-Experten Martin Sauerbrey zu decken scheinen. „Jeder einzelne Account, der dem russischen Militär nahesteht, dreht wegen der Lage in Kursk gerade völlig durch“, schrieb Sauerbrey bei X.

Das Atomkraftwerk in Kursk befindet sich nur rund 60 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. (Archivbild)

Das Atomkraftwerk in Kursk befindet sich nur rund 60 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. (Archivbild)

Über das Ziel des ukrainischen Vorstoßes wird derweil weiter gerätselt, denn eigentlich bräuchte die Ukraine die Truppen, um die bröckelnde Front im Gebiet Donezk zu stabilisieren. Andererseits verschafft ihr der Angriff ein Überraschungsmoment. Auch Russland wird gezwungen, seine Kräfte umzugruppieren.

Welches Ziel verfolgt die Ukraine mit ihrer Offensive in Kursk?

Neben dem Ziel der Entlastung ist es laut Experten jedoch auch denkbar, dass die Ukraine das Gebiet besetzten wolle, um es als Verhandlungsmasse einsetzen zu können. An diesem Szenario gibt es allerdings Zweifel, da der militärische Aufwand für eine dauerhafte Besetzung von Kursk hoch wäre.

So könnte auch Infrastruktur wie die Gaspipeline in der Region oder das örtliche Atomkraftwerk in Kursk ein Ziel der Offensive sein. Die russische Nationalgarde verstärkte am Donnerstag den Schutz für das AKW, das sich nur gut 60 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt befindet.

Kryptische Botschaft aus Kiew: „Krieg ist Krieg – mit seinen eigenen Regeln“

Kiew schweigt dazu weiterhin, zu den Zielen der Offensive in Kursk gibt es auch am Donnerstag noch keine konkreten Angaben. Michailo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, äußerte sich jedoch am Donnerstag zur Offensive in Kursk – blieb dabei allerdings reichlich kryptisch.

„Russland hat immer geglaubt, dass restriktive Rechtsnormen für sie nicht gelten und dass man ungestraft die Territorien von Nachbarländern angreifen kann, während man heuchlerisch die Unverletzlichkeit seines eigenen Territoriums fordert“, schrieb Podoljak bei X. „Aber Krieg ist Krieg – mit seinen eigenen Regeln, bei denen der Aggressor unweigerlich die entsprechenden Konsequenzen erntet“, fügte er an.

Damit dürfte Podoljak auch auf eine Wortmeldung der russischen Außenamtssprecherin Maria Sacharowa angespielt haben, die zuvor die internationale Gemeinschaft aufgefordert hatte, den ukrainischen Angriff auf russisches Hoheitsgebiet zu verurteilen – und damit ein aktuelles Beispiel für die von Podoljak bemängelte Heuchelei des Kremls geliefert hatte.