Rund 1,5 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche in der Region Cherson droht die Verwüstung, weil das Bewässerungssystem zerstört ist. Zudem sind viele Felder vermint und mit Blindgängern übersät. Und die Russen haben Getreide im Wert von einer Milliarde Dollar gestohlen.
Tausende Tonnen Fisch fehlenStaudamm-Zerstörung hinterlässt riesige Schäden in der ukrainischen Landwirtschaft
Die mutmaßlich durch russische Truppen herbeigeführte Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine mit bislang 45 Todesopfern bringt neben dem unendlichen menschlichen Leid auch riesige Schäden für Natur und Umwelt sowie für die Landwirtschaft mit sich.
Die Schädigung des Ökosystems ist in ihrem ganzen Ausmaß noch nicht absehbar, wird aber nach Einschätzung von Experten gewaltig sein. Die Nichtregierungsorganisation Ukraine Nature Conservation Group (UNNG) berichtet unter anderem über die Auswirkungen auf Fischbestände.
„Zum Zeitpunkt des Terroranschlags beherbergte allein der Kachowka-Stausee nicht weniger als 43 Fischarten, von denen 20 von kommerzieller Bedeutung waren“, heißt es auf der UNNG-Website. Die Wiederherstellung dieser Bestände wird mindestens sieben bis zehn 10 Jahre dauern.“
Tausende Tonnen Fisch würden für die Versorgung fehlen. Ebenso würden zahlreiche Vogelarten, die in der Region nisten, verschwinden. Es sei derzeit noch nicht möglich, die gesamten Auswirkungen der Austrocknung des Stausees auf die Vogelpopulation abzuschätzen.
In Cherson wurden 21 Prozent des gesamten ukrainischen Treibhausgemüses angebaut
Hinzukommen Umweltschäden durch ausgelaufene Treibstoffe und Chemikalien, die auch der Landwirtschaft in der Südukraine zu schaffen machen. Sie ist wegen ihrer fruchtbaren Böden und der guten klimatischen Bedingungen von besonderer Bedeutung.
Das jetzige Überschwemmungsgebiet Cherson hatte 2021 einen Anteil von 21 Prozent an der Gesamtproduktion von Treibhausgemüse wie Tomaten, Gurken oder Melonen in der Ukraine, erläutert Per Brodersen, Geschäftsführer der German Agribusiness Alliance beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Vor der russischen Invasion war der Aufbau des Bewässerungssystems in der betroffenen Region eines der größten landwirtschaftlichen Projekte der Ukraine. So befanden sich bislang beispielsweise etwa 58 Prozent der künstlich bewässerten Anbaufläche für Getreide des Landes in der Region Cherson. Da in den Sommermonaten enorme Hitze herrscht, ist Ackerbau ohne Bewässerung kaum möglich.
Wie Brodersen unter Bezug auf ukrainische Quellen berichtet, sind im Raum Cherson etwa 92 Prozent der Bewässerungsanlagen zerstört und in der Region Saporischschja etwa 70 Prozent.
In der Region Cherson existieren etwa zwei Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche, von denen 85 Prozent mit Hilfe ständiger Beregnung bewirtschaftet werden. „Da funktioniert jetzt fast nichts mehr“, sagt Agrarexperte Brodersen.
Drei bis sieben Jahre, um Bewässerungssystem wiederherzustellen
Nach seiner Einschätzung wird trotz der dramatischen Situation, in der viele Landwirtschaftsbetriebe vor dem Nichts stehen, die Ukraine auch in diesem Jahr ihre Selbstversorgung mit Getreide und Ölsaaten absichern können. Die bebaubaren Felder sind laut Agrarministerium zu 100 Prozent bestellt.
Allerdings werden die Verluste im Export zu Buche schlagen, wo der Ukraine wertvolle Einnahmen verloren gehen. So kamen bislang etwa neun Prozent der gesamten Getreideexporte aus den bewässerten Regionen um den Kachowka-Staudamm.
Wenn es nicht gelingt, dass aus einem riesigen Geflecht von Rohren, Drainagen und Gräben bestehende Bewässerungssystem möglichst schnell zu reparieren, droht eine Verwüstung vieler Felder.
„Es ist von 1,5 Millionen Hektar Fläche die Rede, die dann nicht mehr genutzt werden könnten“, sagt Brodersen. Das sei ein schwerer Schlag ins Kontor. Und offizielle Stellen in der Ukraine gehen von drei bis sieben Jahren aus, um das System wiederherzustellen.
Russische Truppen sollen rund vier Millionen Tonnen Getreide gestohlen haben
Zu den Überschwemmungsschäden kommen noch die Belastungen durch Munition hinzu. Nach Schätzungen des Kiewer Landwirtschaftsministeriums sind mindestens 2,5 Millionen Hektar Ackerland vermint beziehungsweise mit Granaten oder Blindgängern belegt.
Die Bergung ist mühsam, hochgefährlich und dauert lange, weil sie nur von Spezialisten ausgeführt werden darf, von denen es nicht genug gibt.
Außerdem haben die russischen Besatzer riesige Mengen Getreide gestohlen und nach Russland verbracht. Wie Brodersen unter Bezug auf ukrainische Quellen berichtet, sind bislang rund vier Millionen Tonnen Getreide mit einem Marktwert von etwa einer Milliarde Dollar durch russische Truppen gestohlen worden.
In der Summe verschlechtert sich die Gesamtsituation der Landwirtschaft in der Ukraine. War 2022 vieles noch mit den Anschubbedingungen aus Friedenszeiten unter Dach und Fach gebracht worden, so nimmt jetzt zunehmend die Liquidität der Betriebe ab.
„Die Bauern fragen sich natürlich, ob es sich noch lohnt, in neues Saatgut zu investieren oder ob sie sicher sein können, dass sie ihre Produkte noch exportieren können“, erläutert Brodersen. Es gehe um Nachschub bei Dünger und Pflanzenschutzmitteln ebenso wie um die Verfügbarkeit von Arbeitskräften.
Deshalb sei es wichtig, dass die Bundesregierung die bestehenden Kundenbeziehungen beispielsweise zwischen westlichen Saatgutherstellern und ukrainischen Landwirten weiterhin unterstützt, unter anderem durch Exportkreditgarantien.
Russland nutzt Getreideabkommen als Druckmittel
Moskau nutzt das Abkommen immer wieder, um auch auf die internationale Staatengemeinschaft Druck auszuüben. Sollte es erneut zum Ausfuhrstopp über See kommen, würde das nicht nur der Ukraine schaden, sondern durch die Verknappung auch zu steigenden Preisen auf dem Weltmarkt führen.
„Russland ist ein großer Player im internationalen Getreidehandel“, sagt Brodersen und fügt hinzu: „Schon die destruktive Haltung und das immer neue Hinauszögern einer Entscheidung führt zur Verunsicherung auf den Märkten und treibt letztlich die Preise hoch.“ (RND)