Ukrainerin sorgt für InformationenSechs Monate Kampf um die Wahrheit

Ein halbes Jahr Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Spuren wie hier in Charkiw hinterlassen (Archivbild)
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Odessa – Maria Avdeeva hat das letzte Wochenende in Odessa verbracht, umgeben von der Schönheit einer vielleicht bald zerbrechenden Welt. Hat sie gut geschlafen? Diese Frage an eine Ukrainerin, am Telefon gestellt von einem Journalisten im sicheren Deutschland, 1600 Kilometer Luftlinie entfernt, klingt vielleicht etwas bizarr in diesen Zeit. Aber Maria Avdeeva geht längst nicht mehr wegen jedes Luftalarms in den Keller. Das kann man leichtsinnig finden, sogar haarsträubend. Doch es ist mal wieder gut gegangen.
Maria berichtet von einer relativ ruhigen Nacht. Zwar feuerten die Russen fünf Marschflugkörper vom Typ „Kalibr“ auf Odessa ab. Doch zwei davon konnten abgefangen werden von der ukrainischen Raketenabwehr. Und drei trafen landwirtschaftliche Einrichtungen außerhalb des Stadtzentrums. Es gab keine Verletzten. So begann am nächsten Morgen wieder dieser makabre Mix aus Krieg und Frieden.
In Odessa gibt es Live-Musik auf den Straßen. Die Märkte haben geöffnet. Ein kleiner, von der Armee freigegebener Strandabschnitt lockt Familien zum Baden und Planschen. Hier können auch die Ukrainer den Krieg für ein paar Stunden vergessen. Doch wie lange geht das alles noch gut? Was, wenn die russische Feuerwalze, die sich zwar nur langsam bewegt, aber letztlich doch vernichtend, wie man in Mariupol gesehen hat, irgendwann auch gegen Odessa wendet?
Ein Land im Widerstand „Odessa ist trotzig“, schrieb dieser Tage Roger Cohen, der seit 1990 bei der „New York Times“ arbeitet. Nicht nur ihre Lage am Schwarzen Meer mache die Stadt für den russischen Kriegsherrn Wladimir Putin interessant. Es gehe auch um etwas Kulturelles: „Die Offenheit und Vielfalt dieser Stadt verkörpern alles, was Putin zerstören will.“ Trotzig, sagt Maria, sei aber nicht nur Odessa. Trotzig sei inzwischen das ganze Land.
Das hätten die Russen sogar dort einsehen müssen, wo sie glaubten, leichtes Spiel zu haben, in Charkiw zum Beispiel, im Nordosten, einer 1,5-Millionen-Metropole, die nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Maria wurde in Charkiw geboren, sie war hier als Politologin tätig, als am 24. Februar der Einmarsch der Russen begann. Ihre Freunde und Bekannten, darunter Studentinnen und Studenten aus aller Welt, konnten es nicht fassen, dass nun tatsächlich russische Panzer in Weltkrieg-II-Manier mit wippenden Rohren auf Charkiw zurollten.
Die Stadt mit ihren Dutzenden Hochschulen und Fachhochschulen sah sich gerade noch als Hochburg einer neuen Zeit, mit Vernetzung und weltweitem Austausch wie noch nie. Ungläubig meldeten Studierende etwa der Fachbereiche Ingenieurwesen und Elektrotechnik ihren Eltern in Indien oder Südostasien, in Europa beginne gerade ein neuer großer Krieg – und sie selbst seien leider mitten drin.
Moskaus erste große Lüge
Wegen der Nähe zur Grenze wurde Charkiw der Ort des ersten großen Kräftemessens mit den Russen. Immer wieder setzten russische Militärkolonnen an zur Eroberung der Stadt, immer wieder aber auch gerieten sie in einen Hinterhalt von Verteidigern, die zwar in der Unterzahl agierten, aber mit cleveren Methoden. Die rasche Einnahme der Stadt jedenfalls wollte nicht gelingen. Frustriert über ihre Misserfolge im Häuserkampf zogen sich die Russen über die Grenze zurück in die nahe Region Belgorod. Dort ließen sie Artillerie auffahren und feuerten nun aus sicherer Distanz auf die kaum zu verfehlenden Hochhaussiedlungen.
Zu besichtigen war schon in diesen ersten Wochen des Krieges auf russischer Seite eine Kombination aus militärischem Unvermögen und dem nahtlosen Übergang zu massiven Kriegsverbrechen: Jeder Schuss auf ein Wohnhaus in Charkiw, jedes zusammengesunkene Studentenwohnheim, jede zerschossene Klinik markiert einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Begleitet wurde dies alles von Fanfaren des russischen Staatsfernsehens. Charkiw sei längst eingenommen, die Stadt werde jetzt von Russland kontrolliert, behauptete Margarita Simonjan, die Chefredakteurin von „Russia Today“. Es war Moskaus erste große Lüge in diesem Krieg.

Charkiw: Russische Raketen sind in der Morgendämmerung zu sehen.
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Das Regime glaubte freie Hand zu haben in der interationalen Nachrichtengebung. Schließlich gab es keine westlichen Kamerateams in Charkiw. Wenn es schon militärisch nicht ganz rund lief, kalkulierte der Kreml, sollte doch wenigstens die Propagandawalze funktionieren. Doch damit kam Russland nicht durch.
Das lag unter anderem an einer einzelnen, außergewöhnlich dickschädeligen Frau in Charkiw, einer gewissen Maria Avdeeva, die es nicht lassen konnte, immer wieder mit dem Smartphone loszuziehen und durch eigene Fotos und selbstgedrehte Videos zu beweisen, dass die Lage vor Ort anders war, als Russland sie darstellte.
Woher kam dieser Mut?
Freunde rieten ihr, sich endlich in Sicherheit zu bringen und nach Westen zu fliehen, einige winkten sogar mit Forschungsaufträgen im Ausland. Maria sagt heute, sie hätte es als verkehrt empfunden, ihrer Heimat den Rücken zuzukehren. Dass sie damals zögerte, hat nicht zuletzt mit ihrer fachlichen Ausrichtung zu tun. Sie forschte schon vor dem Krieg zum Thema russische Desinformation. Im In- und Ausland war die Politologin aus Charkiw eine gefragte Rednerin auf Konferenzen, in denen es um Tricks und Täuschungen des Kremls ging. Und nun sollte sie verschwinden – in einem Moment, in dem Moskau die von ihr theoretisch immer wieder beschriebenen Methoden der Desinformation mit voller Wucht im Kampf um ihre eigene Heimatstadt anwendet? Das kam ihr schräg vor. Also blieb sie.
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Marias Mut inspirierte quer durch die Ukraine Blogger und Netzaktivisten zu Formen des digitalen Widerstands. Schon bald hielten westliche Chronisten fest, Russland sei dabei, den Info-Krieg in den sozialen Netzwerken zu verlieren. Die ukrainische Regierung allein hätte dies nie bewirken können, es lag am wachsenden Vertrauen in viele unabhängige Quellen, darunter auch Maria Avdeevas One-Woman-Show.
„Scholz war erstaunlich locker“
Inzwischen hat sie 106.530 Follower, von denen viele auch ihrerseits einflussreiche Leute sind, Politiker, Journalisten und sogar Militärs in aller Welt. Ausländische Fernsehsender fragen Maria in Interviews nach ihren Einschätzungen, mitunter heuern sie sie auch als Beraterin bei Arbeiten und Recherchen in der Ukraine an. Als deutsche Fernsehteams Mitte Juni über den Besuch von Olaf Scholz in Kiew berichteten, bekam Maria hinter der Bühne sogar Gelegenheit zu einem kurzen Austausch mit dem deutschen Bundeskanzler: „Wir haben nett miteinander geredet, er war erstaunlich locker.“
Die zuweilen etwas bärbeißige Deutschen-Kritik in der Ukraine hat Maria nie mitgemacht – auch wenn Berlin bei den Waffenlieferungen langsamer war als andere. Sie weiß, welchen weiten Weg die Deutschen zu gehen hatten. Inzwischen aber mache etwa die deutsche Panzerhaubitze 2000 auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied. Maria lobt auch das deutsche Engagement für die Ukraine auf sozialem Gebiet, nicht nur durch Aufnahme von Geflüchteten, sondern auch bei Hilfen in der Ukraine selbst, etwa im medizinischen Sektor. Sagt sie das nur aus Höflichkeit einem deutschen Gesprächspartner gegenüber? „Nein“, sagt Maria. „Das, was Deutschland für die Ukraine tut, wird bei uns tatsächlich manchmal ein bisschen unterschätzt.“
Wie wird nun alles weitergehen, nach sechs Monaten Krieg?
Maria sieht in Cherson im Süden die entscheidende Kampfzone. Schon in den kommenden Wochen werde sich zeigen, ob es gelingt, die im März als erste ukrainische Großstadt von den Russen besetzte 300.000-Einwohner-Metropole wieder zu befreien. Große Risiken und große Chancen, sagt Maria, lägen in Cherson nahe beieinander. Und dann wird sie ein bisschen düster. Man spürt, dass sie auch nach vielen Gesprächen mit ihren Kontaktleuten beim ukrainischen Militär nicht ganz sicher ist, wohin die Reise geht. „Wenn wir zu spät angreifen, zieht Russland dort ein Referendum durch und erklärt die Stadt für russisch“, sagt sie „Greifen wir zu früh an und mit zu wenig Ausrüstung, bringen wir unsere eigenen Truppen in Gefahr.“
Immerhin, sagt Maria, drehe sich in Cherson gerade psychologisch etwas: „Die Russen bekommen dort Angst.“ Dies liege nicht allein an den durch westliche Waffenlieferungen gewachsenen Möglichkeiten der ukrainischen Armee zu präzisen Artillerieattacken aus großer Distanz. Hinzu komme die auch nach einem halben Jahr konstant russenfeindliche Atmosphäre in der Stadt: „Die Russen trauen sich nicht auf die Straße, weil sie wissen, dass sie in Cherson unwillkommen sind.“
Die Besatzer seien nur noch in große Kolonnen unterwegs, mit hohem Aufwand für den Eigenschutz. Eine neue Ängstlichkeit der Russen sei auch auf der von Cherson nicht weit entfernten Krim spürbar. Die Reihe von immer noch rätselhaften Attacken auf russische Munitionsdepots und Flugfelder auf der seit 2014 von Russland besetzten Halbinsel habe Moskau sichtlich durcheinander gebracht. Hinzu komme auch hier viel Psychologie: Die massenhafte Flucht russischer Urlauber habe in den letzten Tagen neue Bilder geschaffen, die das ukrainische Publikum mit Wohlgefallen sehe: Russen, die die Nerven verlieren, Russen, die schnell ihr Zeug zusammenpacken und sich beeilen, die Ukraine zu verlassen.
Werden die russischen Truppen bald dem Vorbild der Touristen folgen? Da bleibt Maria skeptisch. Manches sehe zwar im Augenblick ganz gut aus für die Ukraine. Doch der Winter werde schwer. In der EU drohe eine wachsende Aufregung über die Energiepreise. Russland werde auf und hinter der Bühne alles tun, um die europäischen Gesellschaften nervös zu machen und zu spalten. Wenn infolgedessen die Unterstützung für die Ukraine nachlässt, drohe ihrem Land eine böse neue Situation: „Dann war unser Kampf umsonst.“