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Ukrainischer Regierungschef: „Nicht nur der Krieg von Putin”

Lesezeit 5 Minuten

Kiew/Berlin – „Das ist Putins Krieg.” Bundeskanzler Olaf Scholz wird nicht müde, das zu sagen. Der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal ist da ganz anderer Meinung. „Es ist unmöglich, die Russen in gute und schlechte Russen zu unterteilen”, sagt er in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Am Sonntag treffen sich die beiden im Berliner Kanzleramt.

Die Ukraine hat Deutschland in den ersten Kriegsmonaten immer wieder mangelnde Unterstützung vorgeworfen. Haben Sie inzwischen das Gefühl, dass Deutschland genug für die Ukraine tut?

Deutschland hat einen immensen Fortschritt gemacht, was die Unterstützung der Ukraine mit Waffen angeht. Wir sind Deutschland dankbar, dankbar dem Bundeskanzler Scholz für die Unterstützung. Am Anfang wurden nur Schutzausrüstungen oder Helme geliefert, heute sind es modernste Waffen: Luftabwehrsysteme oder auch Mehrfachraketenwerfer, Artillerie und Ähnliches. Es ist aber natürlich unser Wunsch, noch mehr Waffen und Ausrüstung möglichst schnell zu erhalten. Wir benötigen einen Wandel in der Philosophie der Waffenlieferungen. Damit meine ich: Es sollten auch moderne Kampfpanzer geliefert werden.

Sie meinen also, Deutschland sollte Leopard-2-Panzer direkt in die Ukraine liefern?

Ja, genau das meine ich. Wir erwarten von den USA, dass sie uns ihre Abrams-Panzer liefern und von Deutschland erwarten wir Leopard 2. Das sind die modernen Panzer, die die Ukraine auf dem Schlachtfeld braucht. Die deutsche Seite hat auch die Lieferung von Luftverteidigungssystemen Iris-T an die Ukraine angekündigt. Wir könnten insgesamt 12 solcher Systeme für den umfassenden Luftraumschutz gebrauchen.

Welche finanzielle Hilfe erwarten Sie von Deutschland?

Gespräch mit dem deutschen Finanzminister Christian Lindner. Er versicherte, dass Deutschland sicherstellen wolle, dass die Ukraine diese Mittel so schnell wie möglich erhält.

Wir erwarten von Kanzler Scholz auch eine Führungsrolle, was weitere Hilfen des Internationalen Währungsfonds oder der EU-Kommission angeht. Ohne internationale Unterstützung läuft die Wirtschaft der Ukraine Gefahr, in eine Hyperinflation zu geraten. Daher ist die finanzielle Hilfe seitens der Europäischen Union, der Bundesrepublik, der internationalen Finanzinstitute nicht minder wichtig als die Waffenlieferungen.

In Deutschland wird inzwischen immer weniger über den Abwehrkampf der Ukraine geredet und immer mehr darüber, ob das Gas im Winter reicht und wie weit die Preise denn noch steigen sollen. Befürchten Sie, dass sich eine Kriegsmüdigkeit in Europa ausbreitet und die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine schwindet?

Am Anfang des Krieges hat man uns nur drei Tage gegeben, jetzt widerstehen wir dem russischen Angriff schon ein halbes Jahr. Wir stehen weiter zusammen mit unseren Verbündeten, mit unseren Partnern im vereinten Europa, mit den USA und Großbritannien. Wir stehen für die Freiheit ein. Ich glaube nicht, dass man müde werden kann vom Kampf für die Freiheit. Wer in Deutschland Diskussionen über Kriegsmüdigkeit anzettelt, sollte sich russische Talkshows anschauen. Da wird auch über Deutschlands Schicksal gesprochen, über die baltischen Staaten, über Europa insgesamt. Wir sind alle im Visier dieses Regimes. Wir müssen zusammenstehen und zusammen kämpfen für Freiheit in Europa.

Es gibt in Deutschland Forderungen, mit Putin zu verhandeln und Sanktionen gegen Russland zu lockern? Was entgegnen sie den Leuten, die das fordern?

Was soll man dazu sagen, das ist ein Ausdruck von Naivität, von Schwäche oder Heuchelei. Man muss ganz klar sehen, dass Russland eine Gefahr darstellt - auch für ganz Europa. Da sind nicht nur militärische Gefahren, sondern es gibt eine hybride Kriegführung, zum Beispiel im Energie- und Ernährungsbereich. Das einzige Mittel ist der gemeinsame Kampf. Wir müssen diesen Sieg gegen Russland gemeinsam erringen. Die finanzielle Unterstützung der Ukraine und die Waffenlieferungen müssen weiter vorangetrieben und die Sanktionen weiter verschärft werden.

Die Ukraine hat Einreisebeschränkungen für russische Staatsbürger gefordert, die EU-Außenminister haben nun mit einem entsprechenden Beschluss darauf reagiert. Der Bundeskanzler steht Einreisebeschränkungen aber skeptisch gegenüber. Er sagt: „Das ist Putins Krieg.” Man könne nicht alle Russen dafür in Haftung nehmen. Stimmen sie ihm zu?

Leider Gottes ist es so, dass Umfragen belegen, dass rund 80 Prozent der Menschen in Russland den Krieg gegen unser Land unterstützen. Leider ist das nicht nur der Krieg von Putin. 200.000 russische Soldaten kämpfen gegen die Ukraine. Auch ihre Familien sagen nichts dagegen, die Bevölkerung insgesamt unterstützt diesen Krieg. Es ist unmöglich, die Russen in gute und schlechte Russen zu unterteilen. Es ist für uns unerträglich, dass ein Teil der Russen bei uns mordet und vergewaltigt und der andere Teil macht sich ein schönes Leben im Westen, macht Urlaub, Dolce Vita. Es muss eine kalte Dusche her für die russische Gesellschaft und zwar in der Form des Visa-Verbots für Touristen und Studenten.

Die Ukraine wirft Russland Völkermord vor. Erwarten Sie von Deutschland, dass es sich Ihrer Einschätzung anschließt?

Wenn man vergleicht, wie viele Soldaten gefallen sind auf ukrainischer Seite und wie viele Zivilisten ermordet wurden, dann sind die Zivilisten viel mehr. Es ist russische Politik, zielgerichtet Zivilisten in der Ukraine zu töten, nur weil sie Ukrainer sind. Das bezeichnet man als Völkermord. Wenn man alle Tatsachen betrachtet, dann sind alle Merkmale von Genozid, von Völkermord erfüllt. Wir erwarten von unseren Partnern, auch von Deutschland, dass sie sich unserer Einschätzung anschließen.

Sie treffen auch Bundespräsident Steinmeier in Berlin. Werden Sie ihn nochmals nach Kiew einladen?

Wir erwarten einen Besuch Steinmeiers in Kiew auf Einladung von Präsident Selenskyj.

Können Sie sich auch einen Besuch Selenskyjs in Deutschland vorstellen?

Selenskyj ist der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee in einem Krieg. Nur er kann entscheiden, wann es Sinn macht, Besuche außerhalb des Landes abzustatten.

ZUR PERSON: Denys Schmyhal ist seit März 2020 Ministerpräsident der Ukraine. Mit dem Amtsantritt von Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde der 46-Jährige zuerst im August 2019 Gouverneur des westukrainischen Gebiets Lwiw und anschließend Vizeregierungschef. Der verheiratete Vater zweier Töchter stammt selbst aus der westukrainischen Metropole Lwiw (Lemberg) und arbeitete nach seinem Studium anfänglich als Buchhalter. Über mehrere Stationen in verschiedenen Unternehmen und staatlichen Verwaltungen stieg der Doktor der Wirtschaftswissenschaften zum Direktor des Wärmekraftwerks Burschtyn in der Westukraine auf, bevor er in die Regierung eintrat.

© dpa-infocom, dpa:220902-99-602200/2 (dpa)