Unerträgliche Situation in MoriaGriechenlands zynisches Abschreckungsspiel
- Eine Lösung für Moria und seine 13.000 Geflüchteten ist weiterhin nicht in Sicht.
- Griechenland hat offenkundig kein Interesse daran, die Menschen zu evakuieren oder die Zustände wesentlich zu verbessern.
- Kanzlerin Merkels Ruf nach einer gesamteuropäischen Lösung dürfte am zynischen Kalkül anderer europäischer Länder scheitern. Unsere Rechtskolumne.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat eine humanitäre Wende vollzogen und voller Eigenlob seine Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannten Lager Moria verkündet. Kurz zuvor sagte er im Rückblick auf die Flüchtlingskrise 2015/16: „Wir haben Ordnung geschaffen und das Geschehen im Griff.“ Doch davon kann keine Rede sein.
Was die Flüchtlingssituation in Deutschland angeht, so hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwar den in der Krise gewachsenen Berg an Asylverfahren weitgehend abgearbeitet. Und auch die Zahl der Flüchtlinge ist deutlich gesunken. Gleichwohl gelingt es nach wie monatlich vielen tausend Flüchtlingen, auf unterschiedlichen Wegen nach Deutschland zu kommen und hier einen Asylantrag zu stellen. Laut BAMF-Statistik wurden im vergangenen Jahr 146.619 Asylsuchende registriert, im ersten Halbjahr 2020 waren es 54.798.
Diese Zahlen machen deutlich, dass die Fluchtursachen, insbesondere die Kriege und kriegsähnlichen Verhältnisse in Syrien, Irak, und Afghanistan, fortbestehen. Außerdem warten im Nahen Osten und in der Türkei nach wie vor Hunderttausende Flüchtlinge auf eine Gelegenheit zur Weiterreise nach Europa. Für die meisten ist Deutschland das Wunschziel.
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Ferner ist nach den Erkenntnissen des österreichischen Migrationsforschers Gerald Knaus, Initiator des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals, davon auszugehen, dass sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Monaten nicht mehr an die im Abkommen mit der EU übernommene Verpflichtung hält, nicht asylberechtigte Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückzunehmen. Infolgedessen gelingt immer mehr Flüchtlingen die Weiterreise nach Deutschland. Dies wiederum hat zur Folge, dass bei uns die Zahl der Menschen kräftig steigt, die nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylbegehrens zur Ausreise verpflichtet sind. Sie liegt inzwischen bei 270.000.
Viele Gründe verhindern eine Abschiebung
Die Rückführung dieser Menschen in ihre Herkunftsländer erweist sich als äußerst schwierig. Meist scheitert sie ganz. Zahlreiche Ausreisepflichtige tauchen unter und sind für die Ausländerbehörde nicht mehr greifbar. Die Mehrzahl der Ausreisepflichtigen besitzt eine „Duldung“. Das heißt: Ihre Abschiebung ist lediglich vorübergehend ausgesetzt, etwa weil sie erkrankt sind oder ihnen in der Heimat wegen Kampfhandlungen Gefahren für Leib und Leben drohen. Häufig scheitert die Abschiebung auch daran, dass die Herkunftsländer eine Aufnahme wegen fehlender Ausweispapiere verweigern.
Abgesehen davon sind Tausende der vom BAMF abgearbeiteten Asylverfahren inzwischen bei den Verwaltungsgerichten anhängig und führen die dort tätigen Richter – zumal in der Corona-Krise – an ihre Belastungsgrenzen.
Der Gastautor
Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Als Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Reihe „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Was Moria und seine 13.000 Flüchtlinge angeht, ist eine humanitäre Lösung, die den Namen verdient, nicht in Sicht. Daran vermag die Bereitschaft der Kanzlerin und ihres Innenministers zur Aufnahme von 150 minderjährigen Asylsuchenden und 1553 Flüchtlingen aus Moria und von weiteren griechischen Inseln nichts zu ändern. Dort ist im Gegenteil mit einer Verschärfung der Situation zu rechnen. Denn Griechenland ist – wie sein konservativer Premier Kyriakos Mitsotakis erklärt hat – an einer Evakuierung nicht interessiert. Er geht davon aus, dass Moria von Flüchtlingen angezündet wurde, um eine Umsiedlung auf das Festland zu erzwingen. Mitsotakis will sich deshalb unnachgiebig zeigen und vermeiden, dass auch in anderen Lagern Brände gelegt werden.
Inhumanes Agieren der Regierung in Athen
Überdies hat Griechenland bewusst davon abgesehen, die EU-Mitgliedsländer um Übernahme der obdachlos gewordenen Flüchtlinge zu bitten. Die Absicht ist offenkundig – und zynisch: Die unerträglich gewordene Situation in den Lagern soll aufrecht erhalten werden, um weitere Flüchtlinge davon abzuschrecken, sich von der Türkei aus über das Meer nach Griechenland zu begeben.
Ein solches inhumanes Agieren ist auch deshalb empörend, weil Griechenland von der EU viele hundert Millionen Euro kassiert hat, um die Flüchtlingslager menschenwürdig auszustatten und zu Asylzentren an der Außengrenze Europas aufzubauen. Dazu ist es jedoch aufgrund fehlender organisatorischer Kompetenz und auch wegen des Versickerns von EU-Gelder in dunklen Kanälen nicht gekommen.
Vor diesem Hintergrund dürfte die nunmehr von Kanzlerin Merkel verfolgte Idee, die Flüchtlingslager künftig nicht mehr allein von Griechenland, sondern gesamteuropäisch verwalten zu lassen, ebenso scheitern wie ihre Forderung nach einer gesamteuropäischen Lösung der nach wie vor schwelenden Flüchtlingskrise.