Zum Höhepunkt ihres Wahlkampfes präsentiert sich Kamala Harris souverän und versöhnend. Doch dann erlaubt sich Joe Biden einen ärgerlichen Lapsus.
Der Präsident als Party-CrasherHarris predigt Einigkeit, doch Biden liefert Trump neuen Zündstoff
Das nächtlich erleuchtete Weiße Haus strahlte im Hintergrund, aber doch weit genug entfernt, um auf dem Fernsehbild nur unscharf zu erscheinen, als sich Kamala Harris am Dienstagabend mit der abschließenden Botschaft ihres Wahlkampfes an die amerikanischen Bürger wandte. Der Ort - eine Grünfläche zwischen dem Regierungssitz und der Mall - war sehr bewusst gewählt, nicht nur, weil er Nähe und doch Distanz zur Macht verkörpert: Hier hatte Donald Trump am 6. Januar 2021 den rechten Mob aufgehetzt und auf den Marsch zum Kapitol geschickt.
Harris brauchte dann auch keine lange Einleitung, um zum zentralen Thema ihrer halbstündigen Rede zu kommen: dem Kontrast zwischen dem Ex-Präsidenten und ihrer Person. Trump sei ein „labiler, von Rachegelüsten besessener Mensch, der von Missgunst zerfressen und auf unkontrollierte Macht aus ist“, warnte die Demokratin. Ihr republikanischer Gegenkandidat habe ein Jahrzehnt lang versucht, „das amerikanische Volk zu spalten und ihm Angst voneinander zu machen“. Mit diesem Drama müsse Schluss sein: „Ich bin heute Abend hier, um zu sagen: So sind wir nicht.“
Harris warnt vor „Tyrann“ Trump: Schluss mit Drama und Chaos
Da brach ein gewaltiger Jubel unter den Zuhörern aus, so als hätten viele lange auf diesen Moment gewartet. Schon Stunden zuvor war der Zustrom zu der Kundgebung beeindruckend gewesen. Die Schlange der Wartenden wand sich dreimal hin- und zurück um das gesamte Gelände des Weißen Hauses. Viele standen schon drei Stunden an, als das Gitter zum Veranstaltungsort wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Die Menge strömte dann auf die Mall bis zum Washington Monument. Insgesamt 75.000 Menschen - und damit deutlich mehr als bei Trumps Auftritten - sollen es nach Veranstalterangaben gewesen sein.
Neben Harris waren rund ein Dutzend amerikanischer Flaggen aufgestellt. Die 60-Jährige trug einen schwarzen Hosenanzug zur eleganten weißen Bluse. Das Setting war wie der Ton der Ansprache betont präsidial angelegt. „Unsere Demokratie verlangt nicht, dass wir in allem übereinstimmen“, sagte Harris. Unterschiedliche Meinungen machten niemand zum „Feind im Inneren“ - ein Seitenhieb gegen Trumps feindselige Rhetorik. „Als Amerikaner steigen und fallen wir gemeinsam“, erklärte die Vizepräsidentin.
Harris will Präsidentin für alle sein
Sich selbst präsentierte Harris als Vertreterin einer neuen Generation. Umfragen zeigen freilich, dass eine beträchtliche Zahl von Amerikanern immer noch keinen klaren Eindruck von ihr hat. Trump wütet, diffamiert und hetzt. Aber auf eine erschreckende Weise wirkt er authentisch. Harris zeigt sich stets freundlich, aber sehr kontrolliert. Sie erwähnt die immer gleichen Stationen ihres Lebens und gibt wenig wirklich Persönliches preis.
Das war auch an diesem Abend nicht anders. Die Passagen über ihre Vergangenheit als Staatsanwältin hatte man schon öfter gehört. Ansonsten präsentierte sich die Kandidatin als jemand, der allen zuhören wolle, „selbst wenn sie mich nicht gewählt haben“ und auf Konsens und Kompromiss hinarbeite. Diese Botschaft zieht sich zentral durch Harris' Wahlkampf, bei dem sie öfter mit moderaten Republikanern auftrat. Die Bewegung in die politische Mitte kommt nicht von ungefähr: Harris muss eine breite Koalition von linken Demokraten über unentschlossene Wechselwähler bis zu moderaten Republikanern schmieden, wenn sie die Wahl gewinnen will.
Distanzierung von Joe Biden
Es sei ihr eine Ehre gewesen, unter Präsident Joe Biden zu arbeiten, sagte Harris, aber: „Meine Präsidentschaft wird anders sein.“ Eine solche vorsichtige Distanzierung ist angesichts der schlechten Umfragewerte des 81-Jährigen geboten. Erstmals begründete Harris sie am Dienstag auch inhaltlich: Bidens Priorität sei es gewesen, die Corona-Pandemie zu beenden und die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. „Nun ist es unsere größte Herausforderung, die Lebenshaltungskosten zu senken“, sagte Harris.
Von billionenteuren Infrastruktur- oder Klimaprogrammen ist bei ihr daher nicht mehr die Rede. Die Kandidatin will Preiswucher bekämpfen, Arzneipreise begrenzen, den Hauskauf fördern, den Kinderfreibetrag erhöhen und die häusliche Pflege bezuschussen. Begeisterte Unterstützung erntete sie für ihr Versprechen, das Recht auf Abtreibung wiederherzustellen und zu verteidigen. An der Grenze wolle sie „Chaos und Gewalt“ beenden, zugleich aber für Migranten, die schon lange in den USA leben und hier integriert sind, einen Pfad zur Erlangung der Staatsbürgerschaft eröffnen.
Das klang alles um Lichtjahre vernünftiger und kongruenter als die wilde Mischung von apokalyptischen Untergangsszenarien, rassistischen Ausfällen, narzisstischen Selbstpreisungen und spontanen Steuerversprechungen, die Trump seit Wochen darbietet. Gegen „Chaos und Spaltung“ setzte Harris „Freude und Optimismus“. Donald Trump wolle seine Gegner ins Gefängnis werfen: „Ich werde ihnen einen Platz am Tisch geben.“
Das wäre eine perfekte Botschaft und an einem klaren Herbstabend ein geradezu bilderbuchhafter Abschluss des Wahlkampfes gewesen, wenn es nicht zwei Störgeräusche gegeben hätte. Das eine kam von Rasseln und Tröten einer kleinen Gruppe pro-palästinensischer Demonstranten, die bald hinauskomplimentiert wurden. Das andere stammte ausgerechnet aus dem Oval Office hinter der Rednertribüne.
Biden liefert Trump Zündstoff mit Satz über Anhänger
In einem Interview hatte sich Präsident Biden nämlich über die Diffamierung des Insel-Archipels Puerto Rico als „Müll-Insel“ auf Trumps Kundgebung in New York am Sonntag erregt: „Die Einwohner von Puerto Rico sind gute, anständige, ehrenwerte Leute“, sagte Biden und setzte laut dem Transkript des Weißen Hauses hinzu, der einzige Müll, den er herumschwimmen sehe, sei die Dämonisierung der hispanischstämmigen Amerikaner durch einen Trump-Unterstützer („The only garbage I see floating out there is his supporter's --- his --- his demonization of Latinos“). Im Englischen freilich kann man gesprochen den Genitiv kaum vom Plural des Wortes „supporter“ unterscheiden. Man kann den Mitschnitt des seltsam gestammelten Satzes daher auch so verstehen, dass Biden die Unterstützer selbst als Abfall tituliert.
Genau das tat selbstverständlich die Trump-Kampagne. Der Ex-Präsident verschickte sofort einen Spendenaufruf mit dem Titel: „Ihr seid kein Müll. Ich liebe Euch.“ Bei den Demokraten hingegen herrschte Entsetzen - scheint der Lapsus des 81-Jährigen doch der zentralen Botschaft von überparteilicher Versöhnung diametral zu widersprechen. Vor der Kundgebung hatten einige Beobachter kritisch angemerkt, dass Harris den greisen Präsidenten offenbar nicht mit auf der Bühne haben wollte. Nach diesem Vorfall muss die Kandidatin den Abstand zum glücklosen Amtsinhaber dringend noch vergrößern.