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Schwerste elf Minuten für US-PräsidentenJoe Biden wird vom Weltenlenker zur „lahmen Ente“

Lesezeit 4 Minuten
US-Präsident Joe Biden bei seiner TV-Ansprache.

US-Präsident Joe Biden bei seiner TV-Ansprache.

In einer emotionalen Ansprache begründet der 81-Jährige seinen Verzicht auf die Kandidatur. Donald Trump erwähnt er mit keinem Wort.

Für einen kurzen Moment ist man überrascht, das bekannte Gesicht hinter dem schweren Schreibtisch im Oval Office zu sehen. Eine ganze Woche war Joe Biden aus der Öffentlichkeit verschwunden – äußerlich in die Isolation getrieben durch eine Covid-Infektion, aber mehr noch innerlich angesichts des wachsenden Drucks aus seiner Partei. „Was ist mit Joe Biden los? Wo ist er?“, hatte Donald Trumps Kampagnenmanager Chris LaCivita die rechten Verschwörungsideologen angestachelt, die eifrig über einen schweren medizinischen Zwischenfall fabulierten.

Am Mittwochabend aber sitzt der amerikanische Präsident im Oval Office, zwei Fahnen und vier Familienfotos in seinem Rücken, und wendet sich zur besten Sendezeit an die Nation. „Meine amerikanischen Mitbürger“, setzt der 81-Jährige zur wichtigsten Rede seines Lebens an, die er nie halten wollte. „Ich bin noch nicht fertig“ und „ich werde nirgendwo hingehen“ hat er noch vor wenigen Wochen gesagt. Nun aber wird er den Verzicht auf seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit begründen und erklären: „Es ist Zeit für neuere, frischere, ja jüngere Stimmen.“

Joe Biden: „Es ist Zeit für neuere, frischere, ja jüngere Stimmen“

George Washington habe betont, „dass Präsidenten keine Könige sind“, beruft sich Biden zu Beginn auf seinen allerersten Amtsvorgänger. Die geliehene statt der absoluten Macht, die Interessen des Landes statt der eigenen – das wird das Thema seiner elfminütigen Ansprache sein. Bidens Stimme klingt heiser, zwischendurch ist er einige Male schwer zu verstehen. Das Gesicht ist deutlich stärker geschminkt als bei jener desaströsen Fernsehdebatte vor vier Wochen, die mit ihren Aussetzern und Patzern den brutalen Absturz des Präsidenten einleitete. Starr blickt er nun auf den Teleprompter. Keinesfalls will er nun, in diesem historischen Moment, noch einmal stolpern.

„Ich verehre dieses Amt, aber ich liebe dieses Land mehr“, sagt der 81-Jährige mit einem Anflug von Wehmut: „Es war mir die Ehre meines Lebens, Ihnen als Präsident zu dienen.“ Er hat sich schwergetan mit dem Loslassen. Neunzig Minuten eines TV-Duells dürften nicht über eine Präsidentschaft entscheiden, hat er sich Rückzugsforderungen aus seiner Partei anfangs störrisch widersetzt. Nun ist die Entscheidung gefallen: Am 20. Januar 2025 endet die Karriere des Mannes, der 1972 gerade mal 29-jährig einen langjährigen Senator aus dem Amt jagte und seither ein halbes Jahrhundert die amerikanische Politik prägte. Nun geht es für ihn selbst um einen würdigen Abgang und sein politisches Vermächtnis.

US-Präsident Joe Biden zusammen mit Ehefrau Jill im Weißen Haus.

US-Präsident Joe Biden zusammen mit Ehefrau Jill im Weißen Haus.

Zu den Gründen für seinen Rückzug hat sich Biden in seiner Erklärung vom Sonntag nicht geäußert. Nun sagt er: „Als Sie mich ins Amt gewählt haben, habe ich versprochen, Ihnen gegenüber immer aufrichtig zu sein und die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, meine Leistungen als Präsident haben eine zweite Amtszeit verdient.“ Das bestreiten seine parteiinternen Kritiker nicht. Doch sie sind überzeugt, dass der sichtbare altersmäßige Verfall dieses Vorhaben verunmöglicht.

„Ich glaube, meine Leistungen als Präsident haben eine zweite Amtszeit verdient“

In seinem Innersten scheint Biden das immer noch anders zu sehen. Er nennt nämlich nicht sein Alter oder eine mögliche Krankheit als Gründe für seinen Entschluss, sondern: „Ich muss meine Partei an diesem Punkt einen. Nichts darf sich der Rettung unserer Demokratie in den Weg stellen.“ Deshalb sei er zu dem Schluss gekommen, „die Fackel weiterzugeben“. Seine Stellvertreterin Kamala Harris preist er als „erfahren, zäh und fähig“ an.

Biden ist lange genug in der Politik, um zu wissen: Von diesem Moment an ist er das, was man in Amerika eine „lame duck“ (lahme Ente) nennt – ein Politiker im Abklingbecken der Macht. Für die Geschichtsbücher zählt er noch einmal seine Erfolge auf und beschreibt seine Vorhaben für die verbleibenden Monate. Die Beendigung des Gaza-Krieges und die Befreiung der israelischen Geiseln gehören ausdrücklich dazu. An diesem Donnerstag wird Biden den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im Weißen Haus empfangen. Beobachter spekulieren, der Präsident könne nun, da er keine Rücksicht mehr auf seine jüdischen Wähler nehmen muss, endlich eine klarere Sprache sprechen.

Joe Biden erwähnt Donald Trump mit keinem Wort

Sechs Monate bleiben Biden noch, während derer er sich ganz auf seine Präsidentschaft konzentrieren will. Die Republikaner werden im Stundentakt seinen sofortigen Rücktritt fordern und ihm so viel Knüppel wie möglich zwischen die Beine werfen. Ob er unter diesen Umständen noch viel von seiner Agenda umsetzen kann, ist fraglich.

Doch wichtiger als konkrete Gesetzesprojekte ist für Biden erkennbar die kommende Wahl: Nichts weniger als die Zukunft der liberalen Republik steht für ihn auf dem Spiel. Seinen Gegenspieler Donald Trump erwähnt der Präsident zwar mit keinem Wort. Aber es fällt schwer, nicht an den Möchtegern-Autokraten zu denken, wenn der Amtsinhaber eindringlich zur „Verteidigung der Demokratie“ aufruft.

Tatsächlich macht dieser für Biden erkennbar schwere Tag den Kontrast zwischen den beiden Politikern überdeutlich: Der Präsident räumt freiwillig den mächtigsten Posten der Welt. Sein Vorgänger wollte ihn nicht einmal nach einer verlorenen Wahl hergeben.