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VerkehrswendeReaktivierung von Bahnstrecken würden sich immer mehr lohnen – woran es hakt

Lesezeit 4 Minuten
An einem Tunneleingang für die Reaktivierung der stillgelegten Hermann-Hesse-Bahn bei Calw ist ein vorgezogener Tunneleingang aufgebaut, der zu den aufwändigen Maßnahmen zum Fledermausschutz zählt.

Eine Reaktivierung von Bahnstrecken würde sich in immer mehr Städten und Gemeinden lohnen.

Immer mehr Kommunen wollen wieder ans Bahnnetz angeschlossen werden. Drei von vier Machbarkeitsstudien fallen positiv aus. Verbände fordern mehr Geld und schnellere Genehmigungen für die Reaktivierung von Schienensträngen.

Verkehrswende? Welche Verkehrswende? Diese Fragen stellen sich unwillkürlich beim Blick auf die klaffenden Lücken im Bahnnetz. Dabei würd sich eine Reaktivierung bei immer mehr stillgelegten Strecken lohnen. Doch es hakt gewaltig bei der Umsetzung. 2023 kamen null Kilometer und diesem Jahr kommen gerade einmal 30 Kilometer alter Schienenwege hinzu, auf denen wieder Züge fahren.

Dem stehen inzwischen 325 Strecken mit einer Länge von 5426 Kilometern gegenüber, wo Schienenverkehr zwar sinnvoll wäre, aber nicht stattfindet. Dies geht aus einer aktuellen Aufstellung hervor, die der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und das Bündnis Allianz pro Schiene am Montag vorgelegt haben.

Reaktivierungen könnten die Wirtschaft „gerade auf regionaler Ebene erheblich stärken“, betont der VDV-Experte Martin Henke. Der Schienenanschluss erhöht einerseits die Attraktivität von Kommunen für Ansiedlungen von Unternehmen. Zugleich wird mit der Rückkehr der Eisenbahn die Mobilität der Bürger erhöht. Das kann auch helfen, den Druck auf dem Wohnungsmarkt in Ballungsgebieten verringern und zugleich die Einnahmen von Kommunen in der Provinz stärken.

Reaktivierungen könnten die Wirtschaft auf regionaler Ebene stärken

Doch die Entwicklung geht in die umgekehrte Richtung. Auf der aktualisierten Liste der beiden Verbände sind in den vergangenen zwei Jahren 74 Strecken mit einer Länge von 949 Kilometern neu hinzu gekommen.

Aufgrund vielfältiger Faktoren wird für zunehmend mehr Kommunen attestiert, dass es sich lohnt, stillgelegte Trassen wieder in Betrieb zu nehmen - das gelte insbesondere beim Gütertransport. Ein Kriterium ist die Nähe zu wichtigen Verkehrsachsen. Die Vorteile eines Schienenverkehrs im Vergleich zum Busverkehr spielen eine Rolle, sowie der Aufwand für die Reaktivierung. Genauso wie die Entlastung überlasteter Straßen oder auch der Nutzen von zusätzlichen Regio-Verbindungen für den Personenfernverkehr auf der Schiene. Zu Newcomern zählt eine ganze Reihe von Strecken in Niedersachsen, wie etwa die Verbindungen Celle-Soltau, Salzwedel-Dannenberg Ost oder Nienburg-Diepholz.

Wann sich da was tut, ist allerdings völlig offen. Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, spricht von Schneckentempo und fordert, dass Bund und Länder dringend mehr tun müssten, um Initiativen vor Ort zu unterstützen. Denn: „Die Menschen wollen eine Schienenanbindung.“

Viele Strecken, bei denen eine Schienenanbindung sinnvoll wäre

Auf der langen Liste stehen inzwischen insgesamt 379 Städte und Gemeinden, für die der Anschluss ans Bahnnetz sinnvoll wäre. Insgesamt leben in den betroffenen Kommunen 3,8 Millionen Menschen. Krass ist dabei, dass dazu auch gut ein Dutzend Kreisstädte und insgesamt 123 sogenannte Mittelzentren gehören, wo kein Zug mehr hält. Die Liste führt Bergkamen in NRW mit fast 49.000 Einwohnern an. In dem Bundesland liegen insgesamt sechs Städte der Top-10-Mittelzentren ohne funktionierenden Gleisanschluss. Zwei niedersächsische Städte (Aurich, Stuhr) sowie Geesthacht (Schleswig-Holstein) und Taunusstein (Hessen) kommen hinzu.

Flege betont: „Das Engagement der Menschen vor Ort ist unglaublich.“ Immer häufiger würden aufwendige Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben. Diese sind die Grundlage für eine Reaktivierung. Bemerkenswert sei, dass bei mehr als drei Viertel der Expertisen ein positives Ergebnis rauskomme. Doch bis die erste Lok über die neuen alten Trassen rollt dauert es oft viele Jahre. Deshalb Fleges Forderung: „Nun geht es darum, Planungsprozesse zu beschleunigen und nicht durch unnötige Bürokratie auszubremsen.“

Wie groß der Bedarf ist, zeigt sich auch daran, dass aktuell für eine Förderung durch den Bund über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz vorliegen wie jemals zuvor. Dort müssen nach Henkes Worten die Mittel von jetzt zwei Milliarden Euro auf dauerhaft drei Milliarden jährlich aufgestockt werden. Dies hätte eine enorme Hebelwirkung, um die Schienenstränge mit Blick auf die Klimaziele im Verkehrssektor um- und auszubauen. Alles andere schade dem Standort Deutschland.

Planungsprozesse müssen beschleunigt werden

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist eines der dunklen Kapitel in der deutschen Verkehrspolitik. Streckenstilllegungen seien häufig nicht am öffentlichen Interesse ausgerichtet gewesen, „sondern an der ständigen Versuchung, den mangels Finanzierungsquellen besonders defizitären Schienenpersonennahverkehr in der Fläche loszuwerden“, heißt es im Reaktivierungsbericht der beiden Verbände. Es habe bei der früheren Bundesbahn überdies oft an einer „brauchbaren Kostenstellenrechnung“ gemangelt.

Welche Strecken es dann traf, habe „häufig von politischen Einzelfallentscheidungen mit sehr subjektivem Charakter“ abgehängt, aber auch von der Hartnäckigkeit, mit der sich Bundestagsabgeordnete für die Infrastruktur in ihren Wahlkreisen einsetzten. (rnd)