Der Hamas-Überfall auf Israel vor einem Jahr hat eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die sich unablässig weiterdreht. Im Libanon sind rund eine Million Menschen vertrieben worden. Ein Besuch.
7. Oktober und seine Folgen„Von Angst gelähmt“ – Wie der Nahe Osten in Flammen aufgeht
Die Anrufe der Israelis kommen mitten in der Nacht, danach bleiben meist nur Minuten bis zum Angriff. In gebrochenem Arabisch, in einem palästinensischen Dialekt, werden Bewohner und Bewohnerinnen aufgefordert, sofort ihr Haus zu verlassen. Die Anrufer, deren Stimmen technisch verzerrt sind, sprechen die Menschen mit ihren Namen an. Die Anrufkennung zeigt eine falsche libanesische Festnetznummer. Bei Lisa Sabras Vater, der trotz Warnungen bis zuletzt alleine in der Familienwohnung in Beiruts südlichen Vororten ausgeharrt hat, klingelt das Handy am vorvergangenen Samstag um 2.55 Uhr. Kurz nach seiner Flucht aus dem Gebäude ist von dem Apartmentblock nur noch ein rauchender Trümmerhaufen übrig.
„Es ist herzzerreißend“, sagt Lisa Sabra. Die 21 Jahre alte Übersetzerin – die anonym bleiben möchte und nicht wirklich so heißt – ist in der Wohnung im Vorort Dahiye aufgewachsen. „Ich war zweieinhalb Jahre alt, als wir eingezogen sind. Alle meine Kindheitserinnerungen spielen in der Gegend. Jetzt ist unsere Nachbarschaft zerstört.“ Die Familie habe zuvor nur etwas Kleidung und wichtige Papiere aus der Wohnung gebracht. „Wir dachten, wir sind nur ein paar Tage weg.“
Dahiye, sagt sie, sei inzwischen eine Geisterstadt
Dahiye ist eine Hochburg der Schiitten-Miliz Hisbollah und wird seit der Eskalation des Konflikts vor rund zwei Wochen regelmäßig von israelischen Streitkräften angegriffen. Ausländische Journalisten und Journalistinnen haben keinen ungehinderten Zugang. Wenn wieder ein lauter Knall zu hören ist, sieht man kurz danach dunkle Rauchwolken über dem Viertel aufsteigen. Sabra beteuert, ihre Familie habe mit der Hisbollah nichts zu tun. Dahiye, sagt sie, sei inzwischen eine Geisterstadt.
Die israelische Offensive gegen die libanesische Hisbollah ist nur eine Facette der Gewalt im Nahen Osten, die seit einem Jahr unablässig eskaliert – und die sich zu einem Krieg mit Folgen weit über die Region hinaus auszuwachsen droht. Am 7. Oktober vergangenen Jahres griffen Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen aus dem Gazastreifen heraus Israel an. Sie töteten mehr als 1200 Menschen und verschleppten mehr als 240 weitere, Dutzende Geiseln sind noch in ihrer Gewalt. Am Tag danach begann die Hisbollah, Israel aus dem Süden Libanons fast täglich mit Raketen zu beschießen.
Israelische Truppen marschierten im Gazastreifen und Anfang vergangener Woche schließlich auch im Süden Libanons ein, um die Hamas zu vernichten und die Hisbollah aus dem Grenzgebiet zu vertreiben. Beide Gruppen gehören zur sogenannten Achse des Widerstands, die vom Iran angeführt wird. Der Iran griff Israel erstmals im April und dann in der vergangenen Woche erneut direkt mit Raketen an. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat nach dem jüngsten Beschuss Vergeltung angekündigt. Die Spirale der Gewalt dreht sich unablässig weiter.
Die Bilanz des Horrorjahres jeweils nach offiziellen Angaben: Mehr als 40.000 Tote im Gazastreifen, den die israelischen Truppen weitgehend dem Erdboden gleichgemacht haben, und mehr als 2000 im Libanon. Israel beklagt neben den Opfern vom 7. Oktober mehr als 700 tote Soldaten. 60.000 Israelis mussten aus dem Norden des Landes fliehen. Im Libanon wurden rund eine Million Menschen vertrieben. Schulen im ganzen Land sind zu Flüchtlingslagern umgewidmet worden, was zur Folge hat, dass es im Libanon auf absehbare Zeit keinen Unterricht mehr gibt.
Besuch in einem Mädchengymnasium in Beirut: Helfende geben gerade Mittagessen aus, pro Person gibt es einen Teller Bohneneintopf mit Reis. Organisiert wird das Lager von der Badr-Stiftung, für die Inaam Abu Salih arbeitet. 345 Flüchtlinge seien in der Schule untergekommen, sagt die junge Frau. „Wir sind voll und müssen viele Menschen abweisen. Das ist besonders bei Familien mit Kindern und bei älteren Menschen herzzerreißend.“
„Wir sind nicht auf den Winter vorbereitet“
Der Libanon gilt weitgehend als gescheiterter Staat, dessen Institutionen nur noch eingeschränkt funktionieren. Salih sagt, Unterstützung für das Camp komme vom UN‑Flüchtlingshilfswerk UNHCR und von Hilfsorganisationen, nicht aber von den Behörden. Derzeit gebe es ausreichend Nahrung, das könne sich aber ändern, sollte sich der Krieg in die Länge ziehen. Dann drohten noch andere Probleme. „Wir sind nicht auf den Winter vorbereitet. Es gibt hier kein warmes Wasser und in den Räumen keine richtige Heizung.“
In einer umfunktionierten Grundschule in Beirut sind vier Familien in einem Klassenraum untergekommen. An einer Wand kleben lateinische Buchstaben und die Klassenregeln auf Englisch, daneben stapeln sich Matten, die die Flüchtlinge nachts auf dem Boden ausbreiten. Einige von ihnen trinken in einem kleinen Hof vor dem Raum Tee, sie bitten darum, nicht fotografiert zu werden – den Wunsch äußern in diesen angespannten Zeiten fast alle Interviewpartner.
Sanaa Fares liegt rauchend auf einer Liege in dem Hof, der Elektriker stammt aus dem Süden des Libanons. Neben ihm steht ein Rollstuhl, auf den der 45‑Jährige seit einem Unfall angewiesen ist. „Wenn ich operiert würde, könnte ich wieder laufen“, sagt Fares. Durch die Flucht werde der Eingriff immer weiter verzögert. „Ich habe um einen Arzt gebeten, aber es ist keiner gekommen.“ Sein Zustand verschlechtere sich mit jedem Tag.
Fares’ Sohn Ali hat sich zu seinem Vater gesellt, der Siebenjährige geht eigentlich in die zweite Klasse. „Ich vermisse meine Schule und mein Zuhause“, sagt der Junge. „Und ich vermisse mein Spielzeug. Ich konnte nichts davon mitbringen.“ Seine Mutter Maryam Mahanna (25) wirft ein: „Wir können froh sein, dass wir überhaupt lebendig rausgekommen sind.“
Auf der Bühne in der Aula liegen Männer auf Matten, viele schlafen an diesem Vormittag noch. „Die Bomben halten uns nachts wach“, sagt Youssef Ibrahim (44), der mit seinem 14 Jahre alten Sohn Mahdi aus dem Süden Libanons geflohen ist. „Die Kinder wachen mitten in der Nacht auf und haben Angst.“ Ein 13‑Jähriger namens Hussain Bazzi will bei dem Reporter aus Deutschland unbedingt etwas loswerden, er sagt mit Blick auf die Hisbollah: „Möge Gott unsere Leute beschützen, die an der Grenze kämpfen.“
Die Hilfsorganisation Amel ist eine der größten ihrer Art im libanesischen Gesundheitssektor, unterstützt wird sie vom deutschen Hilfswerk medico international. Im Süden und in Dahiye musste Amel Kliniken schließen, mobile Teams besuchen stattdessen Flüchtlingslager. „Die Hygiene in den Schulen ist schlecht“, sagt Amel-Mitarbeiter Samer Mansour. Dort gebe es keine Duschen, zahlreiche Menschen müssten sich Toiletten teilen. „Es werden viele Krankheiten ausbrechen.“ Mansours Kollegin Sophie Azizi sagt, alle Schulen seien inzwischen voll mit Geflüchteten. Amel benötige mehr mobile Teams für deren Versorgung.
„Die Lage ist katastrophal“, sagt Mansour. „Nirgends im Libanon ist man mehr sicher. Niemand weiß, wo als Nächstes eine Bombe einschlägt.“ Die Israelis nehmen vor allem im Südlibanon und in Dahiye Ziele ins Visier, aber nicht nur dort. Israel spricht von Präzisionsangriffen, immer wieder sterben aber auch Zivilisten und Zivilistinnen. Schutzräume gibt es nicht, Luftalarm eben so wenig, von einer effektiven Luftabwehr wie dem Iron Dome in Israel ganz zu schweigen. UN‑Generalsekretär Antonio Guterres warnte kürzlich, dass der Libanon „kein zweites Gaza“ werden dürfe.
Detonation der Pager hatte furchtbare Folgen
Die UN‑Sonderkoordinatorin für den Libanon, Jeanine Hennis, beschreibt Beirut als „eine normalerweise pulsierende Hauptstadt, die von Angst gelähmt ist“. Dazu tragen die israelischen Drohnen bei, deren penetrantes Surren man in den Straßen hört. Ein Gefühl der Bedrohung vermittelt der Bevölkerung auch, wie erstaunlich gut israelische Sicherheitskräfte informiert sind: Nicht nur kennen sie namentlich die Bewohner und Bewohnerinnen einzelner Gebäude in Beirut und deren Handynummern, nicht nur ist ihnen die Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gelungen. Dass sie Pager der Hisbollah zu ferngezündeten Sprengsätzen umbauen und im vergangenen Monat zeitgleich detonieren lassen konnten, hat weltweit für Verblüffung gesorgt.
Nach libanesischen Angaben wurden mindestens 37 Menschen getötet, darunter auch Kinder, und fast 3000 weitere verletzt. Die meisten von ihnen führten die Pager mit ihren Händen vor ihre Augen, nachdem sie alle zeitgleich eine Nachricht bekamen – dann explodierten die Geräte. UN‑Menschenrechtsexperten sprachen von einem „erschreckenden“ Verstoß gegen das Völkerrecht.
Baha’ Noureddin ist Chefaugenarzt am Krankenhaus der Amerikanischen Universität in Beirut, er hat viele der Verletzten behandelt. „Wir haben in 125 Fällen operiert“, sagt er. „Bei jedem Einzelnen, der eine Augenverletzung hatte, mussten Finger amputiert werden.“ Die Folgen für die meist jungen Menschen seien katastrophal, sagt Noureddin. „Blind zu werden und die Hände nicht mehr nutzen zu können, ist furchtbar. Sogar wenn sie auf einem Auge noch ein wenig sehen können, können sie ihre Hände nicht dazu nutzen, zu essen, zur Toilette zu gehen, zu duschen.“
Auch im Krieg müsse es Regeln geben, sagt der Augenarzt. „Ich bin kein Hisbollah-Anhänger, aber ich kann Ihnen sagen, dass diese jungen Männer und Frauen keine Frontsoldaten waren. Sie waren Aktivisten, die etwa in Kliniken gearbeitet haben. Sie haben Gemeindearbeit geleistet. Einer war ein IT‑Experte.“
Das öffentliche Gesundheitssystem im Libanon stand schon vor dem Krieg am Rande des Zusammenbruchs, nun spitzt sich die Lage zu. Jihad Saadeh ist Direktor des Rafik-Hariri-Krankenhauses in Beirut, dem größten öffentlichen Krankenhaus des Landes. „Wir sind noch nicht ganz voll, aber fast“, sagt er. Etwa die Hälfte des Personals komme nicht mehr zur Arbeit. Auch an Material mangele es. „Wir bekommen Hilfe und Spenden, aber wir verbrauchen mehr. Wir greifen unsere Reserven an.“ Wie lange die Vorräte noch reichen? „Nicht länger als zehn Tage.“
Auf Saadehs Schreibtisch stapeln sich Papiere, seine Telefone klingeln ständig. Der Arzt wirkt erschöpft. „Wir sind nicht in Sicherheit“, sagt er. „Israel hat im Gazastreifen auch Krankenhäuser angegriffen, vielleicht geschieht dasselbe hier.“ In seinem Krankenhaus würden keine Hisbollah-Kämpfer behandelt. „Aber Israel kennt keine roten Linien.“ An ein baldiges Ende der Gewalt glaubt Saadeh nicht. „Ich denke, dass der Krieg noch Jahre andauern wird“, sagt er. „Und ich hoffe, dass das hier nicht der Anfang des dritten Weltkriegs ist.“
Mitarbeit: Lamis Sbeity