Zwei Palästinenser sprechen über ihr Leben seit dem Massaker des 7. Oktober: Ein Mediziner aus Köln und Issa Al-Qassis, Bürgermeister von Bergisch Gladbachs Partnerstadt Beit Jala.
Jahrestag des Hamas-Überfalls„Ich weiß gar nicht, ob ich das vergangene Jahr über einmal gelacht habe“
Fawzi Abu Ayyash, 74 Jahre, Köln Klettenberg
Dieses ganze vergangene Jahr ist geprägt von Traurigkeit. Ich schalte sofort nach dem Aufwachen den Fernseher an und verfolge die Nachrichten, egal ob um drei oder um sieben Uhr morgens, oft zehn Stunden täglich. Alle zwei bis drei Tage spreche ich mit meinem Bruder und dem ganzen Rest der Familie, die alle in Bethlehem wohnen. Ich weiß gar nicht, ob ich das vergangene Jahr über überhaupt einmal wirklich gelacht habe.
Ich fühle mich solidarisch mit der Zivilbevölkerung in Gaza und in der Westbank. Nicht alle gehören der Hamas an, etwa 40 Prozent der Toten sind Frauen und Kinder. Diese Bilder belasten mich unglaublich. Aber auch meine Familie in Bethlehem leidet derzeit sehr unter der Schikane der Siedler. Mein Bruder, dem ein Olivenhain etwas außerhalb gehört, verzichtet dieses Jahr auf die Ernte. Erst dieser Tage rief er mich an und sagte: Wir gehen da nicht rein. Wir werden nur mit Steinen beworfen. Sie leben in Angst. Auch wenn Netanjahu öffentlich sagt, die Osloer Verträge seien tot, oder Finanzminister Smotrich Landkarten von Großisrael präsentiert, die keinerlei Platz für einen palästinensischen Staat lassen, deprimiert mich das sehr.
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Hier in Deutschland fühle ich mich nicht diskriminiert als Palästinenser. Es gibt im Gegenteil auch viel Solidarität, die ich erfahren habe. In meinen 35 Jahren als niedergelassener HNO-Arzt in Köln habe ich sehr viele Menschen untersucht, einige davon haben mich angerufen und gefragt, wie es meiner Familie geht. Aber ich bin zurückhaltender geworden.
Die Stadt Köln hat sich meiner Meinung nach komplett auf die Seite von Tel Aviv geschlagen und ihre andere Partnerstadt Bethlehem dabei aber vergessen. Ich besuche ungern Feiern oder rede mit Fremden über Politik. Ich habe Angst, in ein Gespräch verwickelt zu werden, ich will keinesfalls missverstanden oder als Antisemit wahrgenommen werden. Mir geht es um Menschlichkeit.
Ich bin im Ganzen nicht sehr optimistisch. Aber Hoffnung, dass die Vernunft siegen könnte, habe ich schon. Kraft geben mir Demonstrationen in Köln, wo Israelis und Palästinenser Seite an Seite für den Frieden einstehen. Oder die Palästinensische Filmwoche zuletzt, die auch von vielen Israelis besucht wurde. Solche Begegnungen machen mir Hoffnung auf Frieden.
Issa Al-Qassis, Bürgermeister von Bergisch Gladbachs Partnerstadt Beit Jala im Westjordanland, 62 Jahre:
Die Situation in Beit Jala ist sehr schlecht. Die Menschen hier leiden. Vor dem 7. Oktober passierten hier viele Palästinenser die israelische Sperranlage und gingen in Israel zur Arbeit. Damals hatten wir hier ein vergleichsweise sehr gutes Leben. Wir lebten in Frieden mit unseren Nachbarn. Das hat sich verändert, die Mauer wird militärisch bewacht. Also sitzen die meisten palästinensischen Arbeiter zu Hause, sie verdienen kein Geld, wissen nicht, wie sie die Schul- oder Studiengebühren für ihre Kinder bezahlen sollen.
Auch Menschen, die bei der Kommune beschäftigt sind, bekommen nur einen Teil ihres Gehaltes, den Rest müssen wir dafür verwenden, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Schließlich hat auch die Stadt kein Geld, weil die Steuer- und Gebühreneinnahmen weitgehend weggefallen sind. Wir haben außerdem zu wenig Wasser, die israelische Regierung gesteht uns 14.000 Liter täglich zu, das ist für 250.000 Menschen in der Region aber zu wenig.
Meine Aufgabe ist es, hier das tägliche Leben für alle so gut wie möglich zu gestalten: Dass jeder Wasser und Strom hat, die Kinder zur Schule gehen können. Die große Politik überlasse ich den Politikern. Mir als Palästinenser ist es ohnehin nicht erlaubt, mich direkt mit Israelis zu treffen. Diese Regeln respektiere ich.
Die Regierung koordiniert aber einen Austausch zwischen Palästinensern und Israelis. Wir wissen also, dass es auch Israelis gibt, die in Frieden mit uns leben wollen und wir alle hoffen und beten, dass dieser verrückte Krieg bald endet. Übrigens überall auf der Welt, auch in der Ukraine. Die Menschen arbeiten ihr ganzes Leben, um ein kleines Haus bauen zu können. Und dann zerstört eine Bombe dieses Haus von heute auf morgen, dazu die Schulen, die Straßen, die Krankenhäuser. Das ist Irrsinn. Niemand kann Krieg wollen, allen geht es im Frieden besser.