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Protest auch in Neonazi-HochburgenVon Sylt bis Pirna: Wie Demos gegen die AfD in kleineren Gemeinden laufen

Lesezeit 9 Minuten
Protest gegen Rechts auf Sylt: Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen vor dem Rathaus in Westerland am Samstag (20. Januar)

Protest gegen Rechts auf Sylt: Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen vor dem Rathaus in Westerland am Samstag (20. Januar)

Angesichts von hunderttausenden Demonstrierenden in Großstädten fallen Proteste in kleineren Städten oft nicht auf. Ein Blick auf die Demos.

Hunderttausende waren allein am vergangenen Wochenende gegen Rechtsextreme, gegen die AfD und für eine lebendige Demokratie auf der Straße. Angesichts der riesigen Menschenmengen in Städten wie Hamburg, Berlin, Köln und München geraten die Dutzenden kleinerer Demos und Kundgebungen schnell aus dem Blick. Dabei sind sie vielleicht viel wichtiger - um Menschen in AfD-Hochburgen Mut zuzusprechen, um die Debatte um den Zustand des Landes auch außerhalb der Metropolen lebendig zu halten.

Eine Deutschlandreise in diesen Demotagen zeigt: 600 Menschen können für eine Kleinstadt wichtiger sein als Zehntausende anderswo. Die „demokratische Zivilgesellschaft war auf der Straße ein Stück weit in der Defensive, vor allem im Osten“, sagt der Leipziger Protestforscher Alexander Leistner. Doch das ändere sich jetzt. Unter den Organisatoren ist eine Mischung aus altbekannten Akteuren wie Parteien, Fridays for Future und etablierten zivilgesellschaftlichen Bündnissen - und auch Privatleuten, die das erste Mal in ihrem Leben eine Demo anmelden.

Nichts zu holen für die AfD auf Sylt: Demo gegen extreme Rechte im Westerland

Westerland, 9000 Einwohner, AfD: 2,8 Prozent (Landtagswahl 2022), Demoteilnehmer: 1000.

Ganz oben links im Land, auf Sylt, ist für die extreme Rechte nichts zu holen. Und trotzdem - oder gerade deshalb - sind an einem windigen Samstag um die 1000 Teilnehmer dabei, bei der nördlichsten Demo Deutschlands gegen Rechtsextremismus. Die meisten hier in Westerland, unweit der Nordseepromenade, sind tatsächlich Insulaner, ein paar Touristen sind aber auch gekommen, lassen für einen Moment den Urlaub sein. Aufgerufen zur Demonstration hat eine wenige Tage zuvor gegründete Initiative, getragen von Insulanern, Lokalpolitikern, Personen des öffentlichen Lebens.

„Wir haben genau die gleichen Probleme wie alle anderen. Und wir können uns nicht immer heraushalten aus den politischen Diskussionen“, sagt Organisatorin Maike Belbe zum vermeintlich weniger rauen politischen Inselklima. Ausschlaggebend, sagt sie, sei ihr Sohn gewesen. „Ich will mir nicht irgendwann vorwerfen lassen, nichts getan zu haben.“ An ihrer Seite im scharfen Wind steht Imke Wein, eine auf Sylt lebende Autorin. Im Sommer bietet sie Yogakurse am Strand von Kampen an, jetzt aber ist nicht Strand-, sondern Kampfsaison: „Wir haben uns das angewöhnt, erst einmal zuzugucken. Aber Demokratie ist auch anstrengend“, sagt sie. „Man muss etwas tun. Sonst können Dinge passieren, die man für unvorstellbar hält.“

Andreas Arndt weiß, wie man etwas tut. Der Sylter, der ein Anti-AfD-Shirt über der gefütterten Lederjacke trägt, ist schon vor Jahrzehnten gegen die DVU auf die Straße gegangen, sei damals, wie er sagt, „von Altnazis angegeifert worden“. Jetzt sei die Zeit da, ihren geistigen Nachkommen entgegenzutreten. „Es gibt zu viele rechte Stammtischparolen, zu viele Menschen, die glauben, sie könnten sich jetzt mit ihren rassistischen Äußerungen nach draußen wagen.“

Demonstration in der AfD-Hochburg Pirna: 1000 Menschen kommen zu von Schülerin organisiertem Protest

Pirna, 39.000 Einwohner, AfD: 38,5 Prozent (Oberbürgermeisterwahl, 2. Wahlgang, 2023), Demoteilnehmer: 1000

Als sich Steffen Richter am Sonntag auf dem Weg zur Demonstration machte, hatte er keine großen Erwartungen: „Ich mein‘: Es ist Pirna“, sagt er knapp. Und man muss vielleicht kurz erklären, was er damit meint: Steffen Richter gehört zum Verein „Akubiz“, der Fahrten zu NS-Gedenkstätten in der Region organisiert. Engagierte wie er fühlen sich schon länger in der absoluten Minderheit. Die Stadt war lange NPD-Hochburg, bis heute hat die Partei ein eigenes Hausprojekt. Bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen mischten sich immer wieder gewaltbereite Neonazis unter die Demonstranten.

Ende Dezember 2023 gewann Tim Lochner für die AfD die Oberbürgermeisterwahl: Sein Sieg war kein Triumph. Das ändert aber nichts an dem Fakt, dass die nächsten sieben Jahre ein Mann mit starken Verbindungen zur AfD im Rathaus sitzt, der glaubt, dass eine „Umvolkung“ im Gange sei. Wer sich traut, die Entwicklungen anzusprechen, Proteste unterstützt, muss mit Einschüchterungsversuchen rechnen - so wie zuletzt ein lokaler Unternehmer. Rechtsextreme riefen dazu auf, sein Restaurant zu meiden.

Umso überraschter war Richter, als am Sonntag 1000 Menschen in den Friedenspark gekommen waren, zu einer Demonstration, die Schüler organisiert hatten. Als die Organisatoren fragten, wie viele hier schon mal auf einer Demo waren, hob gerade mal ein Drittel die Hand. Richter sieht er darin ein wichtiges Signal: „Wer hier auf die Straße geht, kann nicht einfach untertauchen in der Masse, und steht unter Beobachtung“. Das war auch an diesem Tag so. An einer Straßenecke sammelte sich eine Gruppe Rechtsextreme, manche trugen Schlauchschals mit einer Totenkopfmaske, andere erinnerten mit ihren braunen Cord-Outfits und Lederstiefeln an finstere Zeiten.

Braucht es jetzt mehr solcher Demonstrationen? Richter glaubt, dass es gar nicht leistbar ist. Und: „wir sollten uns auch nicht die ganze Zeit an der AfD oder dem neuen Oberbürgermeister abarbeiten, wichtig ist auch die konkrete zivilgesellschaftliche Arbeit.“ In Pirna gründet sich gerade ein Bündnis, erzählt Richter. Wenn man ihn fragt, was es künftig noch braucht, sagt er: „Menschen aus der Politik, die hier auch klare Haltung zeigen – und nicht nur von den Linken.“

„AfD ist mir zu blöd“: Demo in Göttingen zieht Menschen aus allen Schichten an

Göttingen, 120.000 Einwohner, AfD: 4,6 Prozent (Landtagswahl 2022), Demoteilnehmer: 12.000

Die niedersächsische Unistadt Göttingen ist demonstrationserfahren. Und doch war am vergangenen Wochenende hier etwas anders als sonst. 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatte das Göttinger Bündnis gegen Rechts angemeldet. 12.000 Menschen kamen. „Das so viele hier gegen den Rechtsruck zusammengekommen sind, gibt uns Mut und Hoffnung!“ sagt Rosina Rost von der Linksjugend Göttingen.

Gekommen waren nicht nur die üblichen linken Gruppen. Das Altersspektrum reichte vom Kleinkind bis zum Senior. Hier eine Gruppe junger Studenten mit schriftlichen Kommentaren wie „AfD ist mir zu blöd“, dort eine Hand graumelierter Herren, die die vom Lautsprecher intonierte „Internationale“ und Wolf Biermanns „Du, lass dich nicht verhärten“ textsicher mitsingen konnten.

Über den Stadtring marschierte die gut betuchte Frau im edlen Mantel aus dem noblen Ostviertel neben dem Bierdosen-Punk in zerfledderter Jeans-Kutte. Auch etliche Familien machten hier ihren Sonntagsausflug. Am Ende des Zuges gab es einen Kinder-und-Familien-Block. Die Spitze bildete ein starker Antifa-Block, unter den sich aber ohne Scheu Teilnehmer mischten, die unverdächtig schienen, dem linksextremen Spektrum anzugehören. Später wird die Linksjugend bilanzieren, dass Göttingen deshalb so wehrhaft gegen Rechte sei, weil hier verschiedene, friedliche und militante Formen des Protests gemeinsam auf die Straße gingen und sich nicht wegen der unterschiedlichen Formen des Widerstands spalten lasse.

Und nicht nur Göttinger waren unterwegs. Auch aus dem Umland kamen die Teilnehmer. „Wir sind hier, weil wir unsere Zukunft sichern müssen. Wir haben Angst, dass es wieder so anfängt wie 1933?, sagen drei Personen aus dem Eichsfeld. „Wir sind aber auch hier, weil die Prognosen für die Wahl in Thüringen so gruselig sind. Wenn man es jetzt nicht versteht, versteht man es nie.“

20.000-Einwohner-Gemeinde: 600 Menschen protestieren in Luckenwalde

Luckenwalde, 20.000 Einwohner, AfD: 18,1 Prozent (Bundestagswahl 2021), Demoteilnehmer: 600

Caroline Fritsch ist in keiner Partei, war bisher nicht politisch engagiert und arbeitet auch nicht mehr in ihrer Heimatstadt Luckenwalde, sondern im 40 Bahnminuten entfernten Berlin. Aber sie ist noch gut vernetzt in der brandenburgischen Kreisstadt. Und als die 35-Jährige vergangene Woche die erste Demo ihres Lebens anmeldete, ging alles ganz schnell. Zu „Aufstehen Luckenwalde – Nie wieder ist jetzt!“ waren 200 Menschen angemeldet, drei Mal so viele kamen. Familien, Senioren, Jugendliche.

Es sprechen Abgeordnete aus Land- und Kreistag, der Bruder von Caroline Fritsch hält ein politikwissenschaftliches Kurzreferat. Kinder spielen in den letzten Schneehaufen, in denen selbst gemalte Schilder stecken: „Lieber kunterbunt als kackbraun“ und „Nazis essen heimlich Döner“. Es ist eine ruhige, pflichtbewusste, aber auch entschlossene Versammlung. Stimmung kommt auf, als der ausgerechnet der lokale Juso-Chef Bundes- und Landesregierungen kritisiert: „Es fehlt die klare Haltung, es fehlt vernünftige Politik“, ruft er. „Die Diskussionen in Berlin und Potsdam gehen so oft vorbei an der Realität, das befeuert die AfD mit ihrem feinen Gespür für soziale Schieflagen.“ Erst zögerlich, dann immer lauter rufen die Menschen: „Alle zusammen gegen den Faschismus“. Der Jungsozialist tritt von der Bühne. „Lief doch ganz gut“, sagt er über seine Rede. Auch Caroline Fritsch ist mit ihrer ersten Demo mehr als zufrieden. Für das erste Februarwochenende hat sie ihre zweite Kundgebung angemeldet. Ein Strohfeuer soll es hier nicht werden.

Cottbus und Umland: Demo-Teilnehmer wollen Landbevölkerung mobilisieren

Cottbus, 100.000 Einwohner, AfD: 31,4 Prozent (Oberbürgermeister-Stichwahl 2022), Demoteilnehmer: 3500

In Cottbus steht Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) auf einem kleinen Podest vor der Stadthalle. Sein Parteifreund, Oberbürgermeister Tobias Schick, hat ihn zur Demo mitgebracht. „Ich stehe hier oben und habe Tränen in den Augen“, sagt Woidke. „Die Lausitz steht auf für Demokratie, die Lausitz steht auf gegen Rechtsextremismus und gegen Rassismus.“

In den vergangenen Jahren demonstrierten hier regelmäßig die Rechtsextremen, und regelmäßig waren die Gegenproteste kleiner. Nun war man endlich einmal mehr. Aufgerufen hatte das etablierte Bündnis „Unteilbar Südbrandenburg“. Dessen Sprecher Erik Hofedank ist mehr als zufrieden. „Das jetzt war sehr kurzfristig und trotzdem waren so viele Menschen da, darunter viele die zuvor nie auf Demos waren, vom Karneval- oder Sportverein“, sagte Hofedank. Erstmalig hatte auch der Fußballverein Energie Cottbus über die sozialen Netzwerke zu der Kundgebung aufgerufen. „Das gab es so vorher noch nicht“, berichtet der Bündnis-Sprecher. Energie war in der Vergangenheit mindestens duldsam gegenüber rechtsextremen Fan-Gruppierungen.

Am 3. Februar will „Unteilbar Südbrandenburg“ ein weiteres Mal in Cottbus auf die Straße gehen. Ob Woidke dann wieder auftreten wird, ist noch unklar. Sein Erscheinen könnte aber Stoff für Konflikte bieten, schließlich ist im September Landtagswahl in Brandenburg. Je näher der Wahltermin rückt, umso problematischer wird es, wenn Regierungspolitiker auf diesen Demos sprechen. Noch sei es für ihn ein Erfolg, dass Politiker dabei waren, meint Hofedank. Schließlich könnten sie etwa ein Verbotsverfahren anstoßen. „Aber wir wollen dann auch Ergebnisse sehen und nicht einfach als Bühne für die Parteien dienen.“

Am anderen Ende Brandenburgs, in der dünn besiedelten Prignitz, macht sich Andrea van Bezouwen Gedanken über die nächsten Schritte auf dem Land. Auch sie hat am Wochenende ihre erste Demo angemeldet, 600 Menschen kamen in der 12.000-Einwohner-Stadt Perleberg zusammen. Wer nicht kam, waren die Skeptischen, die Ampel-Gegner, die AfD-Sympathisanten. „Es waren viele da, die sich auch sonst engagieren“, sagt van Bezouwen. „Jetzt ist es unsere Aufgabe, an die Landbevölkerung heranzukommen, die unzufrieden sind mit der Regierung.“ Die nächste Demo ist im Nachbarlandkreis in Kyritz, sie hofft zudem auf Termine in den Nachbarstädten Pritzwalk und Wittenberge.

Bundesweit, 83,2 Millionen Einwohner, AfD: 10,3 Prozent (Bundestagswahl 2021), Demoteilnehmer: Hunderttausende

Samuel Marfo sammelt bundesweit alle Termine für seine neue Website, von Westerland bis Pirna, von Wismar bis Bad Säckingen. Demokrateam.de heißt das Projekt von fünf jungen Enthusiasten, die nicht nur Karten und Listen von Kundgebungen sammeln, sondern auch Tipps und Hinweise für Demo-Unerfahrene veröffentlichen. Der Student aus Hamburg ist gerade einmal 20 Jahre alt. „Mein Vater stammt aus Ghana, ich wäre also von den Plänen der Rechtsextremen direkt betroffen“, sagt er über seine Motivation. „Wir haben mit fünf Leuten Demokrateam aufgezogen. Unserer Generation wird ja immer abgesprochen, politisch zu sein. Aber es gibt auch kaum Politikangebote, die sich an uns richten. Daher machen wir es selbst. Wir wollen Demokratiefluencer sein - informieren, begeistern und überzeugen.“

Es gäbe gerade für seine Generation viele Gründe, unzufrieden zu sein, sagt Marfo. „Auch dagegen sollten wir protestieren. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es in Deutschland demokratisch bleibt.“ Die Welle, die Hunderttausende mit aufgebaut haben, dürfe jetzt nicht wieder abebben. „Wir müssen so lange weitermachen, bis sich etwas ändert.“