Worte zur UnzeitKölner Psychiater antwortet auf Alice Schwarzers offenen Brief
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Krieg macht Menschen heimatlos. Die Äußerungen verschiedener deutscher Intellektueller zeigen, wie sehr auch ihnen in dieser „Zeitenwende“ sozusagen ihre geistige Heimat abhanden gekommen ist, in der sie sich über Jahrzehnte engagiert und liebevoll eingerichtet hatten. Es mutet geradezu tragisch an, wie da anerkannte Wissenschaftler hilflos versuchen, das, was sie seit Jahrzehnten durchdacht haben, auf die surreale Situation anzuwenden, die nun seit dem 24. Februar 2022 tatsächlich besteht – und wie sie mit diesem Versuch grotesk scheitern. Solche situationsblinden Texte sind Ausdruck der Trauer über den verlorenen Frieden und haben psychologisch vor allem eine Selbsttrostfunktion.
Die Publizistin und Feministin Alice Schwarzer, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel und ihre Mitstreiter haben am 29. April in Schwarzers Zeitschrift „Emma“ einen Text veröffentlicht, der unstreitige ethische Prinzipien benennt; Prinzipien freilich, die auf die jetzige Situation überhaupt nicht anwendbar sind. Ihr offener Brief analysiert vielmehr präzise die Situation des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 25. Februar, als die Amerikaner ihm anboten, ihn aus seinem Land auszufliegen. In diesem Moment entschied sich wahrscheinlich nicht nur das Schicksal der Ukraine, sondern auch die Zukunft Europas.
Tatsächlich betonen Schwarzer, Merkel und Co. zu Recht, dass auch das Opfer einer Aggression eine Mitverantwortung für das Gesamtgeschehen hat. Dieser Mitverantwortung musste der ukrainische Präsident nach dem Überfall auf sein Land gerecht werden. Er musste sich fragen, ob Widerstand gegen die übermächtige russische Angriffswelle überhaupt eine Chance haben könnte, die Freiheit der Ukraine zu verteidigen. Wäre er, wie übrigens fast alle westlichen Beobachter, zum Ergebnis gekommen, dass es keine Aussicht auf Erfolg gäbe, wäre es seine moralische Pflicht gewesen, sich – wie angeboten – ausfliegen zu lassen. Die Ukrainer hätten dann bald die Waffen niedergelegt, und mehrere Zehntausend Menschen würden jetzt noch leben. Außerdem musste Selenskyj sich fragen, ob seine Landsleute selber ihr Leben einsetzen wollten, um ihre Freiheit zu verteidigen. Auch dies bejahte er, und weil er mit beiden Antworten – wie wir heute wissen – recht hatte, war seine Entscheidung verantwortbar.
In der aktuellen Lage aber sind die Überlegungen des offenen Briefs völlig ungeeignet. Jetzt geht es um die simple Frage, ob man der vergewaltigten, gefolterten und gequälten Ukraine die Waffen geben soll, die verhindern können, dass Ukrainerinnen und Ukrainer weiter vergewaltigt, gefoltert und gequält werden.
Auch dem zutiefst besorgten Text von Jürgen Habermas am 28. April in der „Süddeutschen Zeitung“ merkt man die Fassungslosigkeit an, mit der der große Philosoph des gewaltfreien Diskurses das Grauen dieses realen Krieges erlebt. Zu Recht rät Habermas zur verbalen Abrüstung, zu einer Abkehr von schriller Kriegsrhetorik, die zukünftige pragmatische Waffenstillstandslösungen erschwert. Aber seine Anmerkungen sind zu einem Zeitpunkt, zu dem der Aggressor noch massenhaft vergewaltigt, foltert und mordet und keinerlei ernsthaftes Interesse an einem Waffenstillstand hat, weil er noch auf militärischen Erfolg setzt, genauso realitätsfern wie Alexander Kluges traurige und nachdenkliche Überlegungen zum Westfälischen Frieden in der Wochenzeitung „Die Zeit“.
All das dürfte erst bedenkenswert werden, wenn Russland sich müde gekämpft hat und dadurch gesprächsbereit ist. Auf die jetzige Situation bezogen wirken diese Gedanken hingegen zwar offensichtlich gut gemeint, aber wie aus der Zeit gefallen und für die gegenwärtigen Opfer im Wortsinne rücksichtslos, zumal geschichtsbewusste Ukrainer jetzt wohl auch nicht ausgerechnet aus Deutschland unerbetene Ratschläge hören wollen. Vor allem aber dürften solche ängstlich besorgten, gelehrten Wortmeldungen leider Putins Bild vom schwachen und uneinigen Westen auch noch bestärken und ihn ermutigen, propagandistisch und militärisch weiterzumachen.
Die moralische Frage nämlich, um die es jetzt geht, ist – wie alle moralischen Fragen – im Kern gar nicht besonders kompliziert: Der Aggressor ist zweifellos Putins Russland, das Opfer ist die Ukraine. Dem Opfer muss man helfen, sich gegen den brutalen Aggressor wirksam zu wehren. Und dabei darf man sich von einer Atommacht nicht erpresserisch daran hindern lassen, seine eigene Freiheit zu wahren und die Verteidigung der Freiheit eines widerstandswilligen Volkes wirkungsvoll zu unterstützen.
Es ist verhängnisvoll, dass es der russischen Propaganda gelungen ist, fast ein ganzes Volk über die Realität zu täuschen. Aber es wäre fatal, wenn auch wir selber uns zwar nicht von zynischer Propaganda, sondern von intellektuellen Träumen dazu verleiten lassen würden, die Realität zu verkennen. Schließlich hat eine ganze Gesellschaft solche Träume mitgeträumt. Doch auch Friedensträume können, zur Unzeit geträumt, zu einem Schlafwandeln führen, das vor 108 Jahren in der Katastrophe endete.