Die Schüsse am 20. Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan-Platz markierten das Ende von Janukowytsch und die Geburt der freien Ukraine.
Zehn Jahre EuromaidanDie blutige Geburt der freien Ukraine
In jedem historischen Prozess gibt es den Moment, in dem sich alles entscheidet. Der Kipppunkt, wenn etwas unumkehrbar zerbricht. Der 20. Februar 2014 sollte für die Ukraine zum entscheidenden Tag werden, eine Zeitenwende einleiten.
Schon seit drei Monaten demonstrierten zu diesem Zeitpunkt Zehntausende Menschen im Herzen der ukrainischen Hauptstadt. Begonnen hatte alles mit dem Protest einzelner gegen Präsident Wiktor Janukowytsch, der ein angekündigtes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht mehr unterschreiben wollte.
Er hatte sich dem Druck Moskaus gebeugt. Auf einer Konferenz in Jalta im September 2013 hatte Moskaus Unterhändler Sergej Glasjew unter anderem im Falle des Abkommens Importsperren angedroht, zudem könnte Moskau die Staatlichkeit der Ukraine nicht mehr garantieren. Das wirkte offenbar. Die Kreml-nahe Regierung Janukowytschs legte alle Verhandlungen mit der EU auf Eis.
Oligarchen-Ökonomie mit ausufernder Korruption
Für die Mehrheit der Menschen in der zweitgrößten ehemaligen Sowjetrepublik war das ein Rückschlag: 22 Jahre nach der Unabhängigkeit hatten sich die Lebensverhältnisse im Land, anders als in Litauen, Estland oder Lettland mit ähnlichen Ausgangsbedingungen, kaum gebessert – eher noch verschlechtert. Im Land blühten eine jeden Fortschritt verhindernde Oligarchen-Ökonomie und ausufernde Korruption. Russland dominierte den Energie- und Infrastruktursektor. Die bescheidenen Früchte eines ersten Aufbegehrens 2004, der Orangen Revolution (die Farbe der Protestler gab für der Bewegung ihren Namen), fielen einem politischen Rollback der Kreml-nahen Fraktion zum Opfer.
Viele Menschen in der Ukraine waren entschlossen, sich nicht wieder mit Scheinreformen abspeisen zu lassen. Eine überwältigende Mehrheit im Land wollte neben politischen und ökonomischen Veränderungen auch eine kulturelle Revolution, wollte nach Jahrhunderten russischer Dominanz endlich Teil der freien Welt und der europäischen Völkerfamilie sein.
Ausgang des Ringens war offen
Zu jenem Zeitpunkt Ende Februar war der Ausgang des Ringens auf den Straßen Kiews offen: Das pro-russische Fernsehen verunglimpfte die Proteste mit aberwitzigen historischen Vergleichen. Unter anderem als Plan von Polen, Schweden und Litauen, sich für die Niederlage in der Schlacht bei Poltawa im Jahr 1709 an Russland zu rächen.
Die US-Administration von Präsident Barack Obama hielt sich komplett aus dieser innereuropäischen Angelegenheit heraus, sichtbar um Deeskalation mit Moskau bemüht, seit Präsident Wladimir Putin der Nato 2007 in München öffentlich den Fehdehandschuh hingeworfen hatte.
Washingtons einzige Maßnahme: Das Verhängen einer Einreisesperre gegen 20 Repräsentanten der Janukowytsch-Regierung, die für vorausgegangene Gewalttaten verantwortlich waren.
Lediglich der republikanische US-Senator John McCain reiste nach Kiew, unterstützte in einer Rede auf dem Maidan die Opposition und nutze die Gelegenheit, die Passivität der demokratischen Obama-Regierung bloßzustellen. Auch die EU reagierte eher zögerlich, sicherte den Menschen, die immer öfter Europa-Fahnen zeigten, ihre Solidarität zu. Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verurteilte am 18. Februar 2014 die gewalttätigen Ausschreitungen – sowohl der Regierungskräfte als auch der Oppositionsanhänger.
60 bis 70 Tote am 20. Februar
Zum entscheidenden Moment des Aufstands wurde der Morgen des 20. Februar 2014: Scharfschützen rund um den Maidan eröffneten das Feuer. Bis heute ist nicht geklärt, wer schoss – und in wessen Auftrag. Die Situation war chaotisch. Regierungsgegner und Sanitäter sprachen allein von 60 bis 70 Toten an jenem Tag. Janukowytsch konnte zu diesem Zeitpunkt nur noch auf die Polizei und den Inlandsgeheimdienst bauen. Seine Armee war wegen teilweisem Widerstands in den eigenen Reihen paralysiert.
Noch am Abend versuchte der Präsident die Lage unter Kontrolle bringen, in dem er nach Gesprächen mit den Außenministern Deutschlands, Polens und Frankreichs den Forderungen der Demonstranten entgegenkam und noch für 2014 Neuwahlen versprach. Die EU bestand darauf, die Krise an einem runden Tisch unter Teilnahme aller Parteien zu deeskalieren: der ukrainischen Opposition, der Regierung Janukowytschs sowie Putins Ukraine-Vermittler Wladimir Lukin.
Tatsächlich wurde von allen Beteiligten ein Abkommen ausgearbeitet, dem aber Moskau am Ende die Unterschrift verwehrte.
Der strauchelnde ukrainische Präsident Janukowytsch indes hatte unterschrieben, brach aber am Folgetag das Abkommen und setzte sich aus Kiew ab. Längst hatte er da die Kontrolle über seinen Sicherheitsapparat verloren. Und auch die Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk und Wladimir Klitschko wurden auf dem Maidan ausgebuht. Sie hatten sich auf ein Abkommen mit dem verhassten Präsidenten eingelassen, der zu diesem Zeitpunkt bereits für Hunderte Todesopfer verantwortlich gemacht wurde.
Der Versuch der EU-Vertreter, eine Lösung zu finden, die auch Moskau und die ukrainische Kreml-Fraktion zufriedenstellte, war gescheitert: am Kreml, der bereits eifrig sein Narrativ einer „westlichen“, vor allem aber „amerikanischen Aggression“ verbreitete. Und an den Menschen in der Ukraine, die mehrheitlich eine radikale Trennung von Moskau wollten.
Janukowytsch mit Staatsstreich-Vorwurf
Bereits am 22. Februar sprach daher auch Janukowytsch von einem Staatsstreich, erklärte seine vom ukrainischen Parlament per Mehrheitsbeschluss vollzogene Absetzung für rechtswidrig, floh mit Putins Hilfe nach Russland.
Dazu der Völkerrechtler Jasper Finke auf tagesschau.de: „Es ist völlig unerheblich, ob Janukowitsch noch rechtmäßiger Präsident der Ukraine ist nach dem ukrainischen Verfassungsrecht. Denn hier greift der sogenannte Effektivitätsgrundsatz – das heißt, völkerrechtlich kommt es darauf an, ob die neue Regierung effektiv Herrschaftsgewalt in der Ukraine ausübt.“
Die Revolution hatte gewonnen, das Land setzte demokratische Reformen durch. Für den Historiker Andreas Kappler war die Maidanrevolution „im Kern eine basisdemokratische spontane Massenbewegung gegen eine autoritäre Regierung, die mit dem Zurückziehen der Unterschrift unter den Assoziierungsvertrag ihr Wort gebrochen und mit dem rücksichtslosen Einsatz von Gewalt ihre Legitimität eingebüßt hatte“, wie er in seinem Buch „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“. (C. H. Beck, 2023) schreibt.
Die von Moskau beschworene „zielgerichtete Planung und Durchführung des Euro-Maidan durch die USA und die EU“ verweist der Historiker ins Reich der Verschwörungstheorien.
Doch die Folgen des Umsturzes waren dramatisch – und dominieren bis heute das Nachrichtengeschehen: Umgehend begannen Gouverneure und Regionalabgeordnete im russischsprachigen Osten, die Autorität des Nationalparlaments in Kiew infrage zu stellen. Der Abgeordnete Wadim Kolesnitschenko bezichtigte die USA und die EU, den Staatsstreich organisiert zu haben.
Invasion der Krim im März
Im März besetzten uniformierte russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel Krim. Russland hielt ein international nicht anerkanntes Referendum auf der Krim ab und gliederte sie als Landesteil ein. Ebenfalls im März 2014 intervenierten in den ostukrainischen Oblast Donezk und Luhansk russische paramilitärische Gruppen, riefen die Volksrepubliken Donezk und Luhansk aus. Laut UN-Zahlen starben allein zwischen 2014 und 2018 fast 12.500 Menschen in der Region.
Es war das Vorspiel eines Krieges, den Russland dann am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch in der Ukraine eskalierte. (RND)