Am 3. Oktober begehen wir den Tag der Deutschen Einheit. Doch von einem Gemeinschaftsgefühl im Land kann keine Rede sein.
Zum Tag der Deutschen EinheitDemokratie oder Diktatur – Die Einheit am Scheideweg
Dirk Oschmann lässt auf den Osten nichts kommen. Das Wahlverhalten der Menschen in den fünf gar nicht mehr neuen Ländern sei „nicht besonders auffällig“, sagte der Autor des keineswegs zufälligen Bestsellers „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Es entspreche dem, was man in Italien, Frankreich, England oder den USA ebenfalls finde. An anderer Stelle ließ sich der Leipziger Literaturprofessor mit den Worten zitieren: „Der Westen spaltet die Gesellschaft – nicht der Osten.“
Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes beklagte er schließlich, dass sich der Westen selbst feiere und der Osten außen vor bleibe. „Denn seit 1990 gilt: Für die Ostdeutschen ist es eine Demokratie zum Zugucken, nicht zum Mitmachen.“ Die Sätze zeigen, wie tief wir im Schlamassel stecken.
Die Wessis sind schuld
Das Potpourri der Aversionen lässt sich fortsetzen. So streute Alexander Osang in eine „Spiegel“-Kolumne über seinen Kauf von Gazprom-Aktien den Satz ein: „Caren Miosga kann nicht mal das Wort Matroschka aussprechen, fragt aber Sahra Wagenknecht, ob sie demnächst russische Holzpuppen mit ihrem Gesicht als BSW-Merchandise vertreiben will.“ Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff behauptete: „Die AfD ist zunächst einmal ein Westprodukt. Viele ihrer Spitzen kommen aus dem Westen.“ Sie werde bloß „im Osten etwas (!) mehr gewählt“.
2016 hatte der CDU-Politiker die Feststellung der damaligen Ostbeauftragten Iris Gleicke (SPD), der Rechtsextremismus sei „eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung“ Ostdeutschlands, mit der Warnung vor „Verallgemeinerungen“ gekontert. Jetzt, wo sich der Vormarsch der vielfach offen rechtsextremistischen AfD nicht mehr leugnen lässt, wird die Verantwortung nach „drüben“ verlagert. Auch die antifaschistische SED hatte den Faschismus ja in der alten Bundesrepublik verortet. Haseloff setzt diese Tradition fort. Eigenverantwortung der Wählerschaft? Niemals. Die Wessis sind schuld.
Zwar konstatiert der wackere Ost-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk mit Blick auf die letzten Ostwahlen: „Es ist eben kein Zufall, dass mit der AfD und dem BSW zwei Parteien obsiegten, die für einen autoritären Staat, die Abkehr vom Westen und die Nähe zum Putin-Regime stehen.“ Viele Ostdeutsche machten sich „den Feind ihres Feindes zum Freund“. Der ehemalige Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde konstatiert: „Längst dominieren Rassismus, Nationalismus und ein unfassbarer West-Hass im Osten.“
Der Osten gilt als Opfer
Freilich reicht dieser Hass über das Milieu von AfD und BSW hinaus. War die PDS in den 1990er-Jahren noch dafür gescholten worden, dass sie alles schlecht rede und die Ostdeutschen zu Objekten westdeutscher Dominanz erkläre, so hat sich diese Erzählung Mitte der 2020er-Jahre bis in die CDU durchgesetzt. Der Osten gilt als Opfer und wehrt sich mit dem Stimmzettel. Die Ergebnisse wirken wie das ferne Echo einer von westdeutschen Eliten nach westdeutschen Regeln gestalteten Transformation.
Gewiss hat Ostdeutschland wirtschaftlich aufgeholt. Doch bleibt es beim Gefälle von finanzieller Macht und daraus resultierendem politischen Einfluss. So zeigte eine Erhebung des MDR, dass in Westdeutschland zuletzt rund neunmal so viel steuerpflichtiges Vermögen vererbt wurde wie in Ostdeutschland. Westdeutsche spüren die Differenz nicht. Ostdeutsche schon.
Würde historische Erfahrung zählen, müssten allen voran Ostdeutsche der Ukraine beistehen
Dass viele Ostdeutsche von einer liberalen Flüchtlingspolitik ebenso wenig halten wie von Solidarität mit der Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffs, ist trotzdem schwer nachzuvollziehen. Immerhin sind Ostdeutsche selbst vor 1989 millionenfach gen Westen geflohen, um politisch freier und materiell besser leben zu können. Und waren es nicht die Ostdeutschen, die seit dem Mauerbau 1961 mehrheitlich in einem Staat festgehalten wurden, den es ohne die sowjetische Vormacht gar nicht gegeben hätte? Die Devise scheint zu lauten: Was die Westdeutschen richtig finden, finden wir eben darum falsch. Es geht um Affekte, nicht um Argumente. Würde historische Erfahrung zählen, müssten allen voran Ostdeutsche der Ukraine beistehen – so wie es Polen oder Balten tun.
Aber das geschieht nicht, die Geschichtsbetrachtung bleibt selektiv. Dies führte in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zum Triumph zweier Parteien, die die Demokratie von innen zerstören und/oder Deutschland aus dem Verbund westlicher Demokratien herauslösen wollen. Damit geht nicht allein das Scheitern der „inneren Einheit“ einher.
35 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der anschließenden Vereinigung, die der Demokratisierung Ostdeutschlands dienten, nähern wir uns einem gefährlichen Kipppunkt ins Gegenteil: Der wachsende Autoritarismus in Ostdeutschland hat das Potenzial, die gesamtdeutsche Demokratie in den Abgrund zu reißen. Denn Alarmsignale gibt es längst auch im Westen, allen voran die alarmierenden AfD-Ergebnisse im Süden der alten Bundesrepublik. Nicht allein Brandenburg und Sachsen werfen Fragen auf. Das Hubert-Aiwanger-Bayern tut es auch. Leipzig und Köln haben wiederum mehr gemein als Erfurt und der Wartburgkreis.
Es braucht die Bereitschaft zur Selbstkritik
Auch deshalb wäre es völlig falsch, wenn Westdeutsche angesichts der Ost-Aversionen mit gleicher Münze heimzahlten. Anders als gescheiterte Ehepartner können sich die beiden Deutschländer ohnehin nicht trennen. Es läge stattdessen näher denn je, dem rationalen Kern dieser Ablehnung nachzuspüren. Tatsächlich hat das Gros der Westdeutschen bis heute keinen Schimmer, wie groß ihr Übergewicht unverändert ist. Erst wenn dieser harte innerdeutsche Konflikt bearbeitet wird, kann man zur Sache selbst vorstoßen, etwa zu der Frage, ob die Ostdeutschen nach 1989 wirklich wieder unter russischen Einfluss geraten wollen.
Ohne Bereitschaft zur Selbstkritik wird das hier wie dort nicht gehen. Wer Verständnis für die geschundene Ost-Seele reklamiert, der sollte jedenfalls nicht weniger Verständnis für jene West-Seelen aufbringen, denen bei 32,8 Prozent für eine Nazi-Partei der Schreck in die Glieder fährt. Hilfreich ist dabei die Erkenntnis, dass die Demokraten beidseits der alten Grenze in der Mehrheit sind. Noch. So wählen zwei Drittel der Ost-Wähler nicht AfD. Wer der Erzählung von „dem“ Westen und „dem“ Osten auf den Leim geht, der hat verloren.
Manche Ost-Intellektuelle sehen die Lage ja sehr klar. So schreibt der Ost-Berliner Ilko-Sascha Kowalczuk: „Millionen Ostdeutsche hatten sich 1990 über die Bundesrepublik getäuscht, aus dieser Täuschung entstand eine große Enttäuschung – daran änderte auch der Aufschwung nichts.“ Und weiter: „Viele Ostler fremdeln mit der repräsentativen Demokratie und der Freiheit. Sie geben das schon lange an ihre Kinder und Enkel weiter – der häusliche Abendbrottisch ist wirkmächtiger als Schule oder Medien.“
Die Publizistin Ines Geipel, in Dresden zur Welt gekommen und als jugendliche Leistungssportlerin nach Jena geschickt, notierte nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen: „Gewonnen haben diejenigen, die die Legende vom Opfer-Osten über Jahre promotet haben, um sie gegen die Erfolgsgeschichte der Einheit und der Demokratie in Anschlag zu bringen. Die mit ihren Appellen an den Heimatkörper, Friedenskörper, Volkskörper um die Ecke kamen, um die Wähler in ein Kontinuum zu manövrieren, das Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 in sich verklebt.“ Geipel findet: „Es geht nicht nur um neue Bündnisse zwischen Ost und Ost. 35 Jahre nach der Revolution braucht es vor allem eine offensive neue Erzählung zwischen Ost und West.“ Denn: „Der Osten ist kein Opfer.“
Durs Grünbein nicht zu vergessen. Der Lyriker mit dem Geburtsort Dresden und einem Wohnsitz in Rom, mahnt, es gehe „darum, gemeinsam daran zu arbeiten, dass diese freiheitliche Ordnung ausreichend geschützt ist“.
So lange sich Ostdeutsche als Opfer der Westdeutschen wahrnehmen und diese gar nicht begreifen, warum, wird das schwerlich gelingen. 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution wird es keine Einheit ohne Demokratie geben - und keine Demokratie ohne Einheit. Gespalten schlittern wir gemeinsam in die dritte deutsche Diktatur.