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Druck, Kritik und Erwartungen„Viele Erwachsene geben ihren Eltern zu viel Macht über ihr Leben“

Lesezeit 7 Minuten
Junge Frau streitet mit ihrer Mutter.

Sich von der Meinung und dem Einfluss der Eltern freizumachen, das ist auch für erwachsene Kinder noch schwierig.

Auch als Erwachsene hungern wir oft noch nach der Zustimmung unserer Eltern. Das tut uns selten gut. Wie kann man sich davon befreien?

Man ist längst erwachsen und tut trotzdem so viel, um es den eigenen Eltern recht zu machen. Und fühlt sich immer noch ständig von ihnen kritisiert. Warum trifft einen das so? Und wie kann man sich von dieser Abhängigkeit lösen, ohne die Beziehung zu den Eltern zu verlieren? Ein Gespräch mit Diplom-Psychologin Sandra Konrad.

Sich von den Eltern zu lösen, sollte das nicht eigentlich im jungen Erwachsenenalter passieren?

Sandra Konrad: Es gibt in diesem Alter typische Meilensteine der Abnabelung, zum Beispiel der Auszug, die Berufsfindung oder die Familiengründung. Darunter aber findet die emotionale Ablösung von den Eltern statt. Sie gehört zu den schwierigsten Aufgaben unseres Lebens. Im Grunde ist Ablösung eine lebenslange Reise zu uns selbst.

Haben sich viele Erwachsene noch nicht ausreichend abgenabelt?

Ja, jeden Tag sitzen bei mir in der Praxis längst erwachsene Menschen, die sich mit dieser Ablösung quälen. Ihnen ist oft nicht bewusst, wie verstrickt sie noch mit ihren Eltern sind. Sie kreisen mit ihrem Denken und Fühlen um die Eltern, sind abhängig von ihrer Zustimmung und geben ihnen zu viel Macht über ihre Leben. Dann fallen beispielsweise Sätze wie „Ich fühle mich in Gegenwart meiner Eltern wie ein kleines Kind“ oder „Meine Eltern sind der Hauptstreitpunkt in meiner Beziehung“. Das sind typische Zeichen, dass sie noch nicht genug abgenabelt sind.

Diplom-Psychologin und Autorin Sandra Konrad

Dr. Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und arbeitet als Paar- und Familientherapeutin mit eigener Praxis in Hamburg.

Welche Rolle spielen dabei die Erwartungen der Eltern?

Viele erwachsene Kinder können sich nicht von den Erwartungen und „Aufträgen“ der Eltern befreien. Sie tun Dinge nur, um es ihnen recht zu machen. Eine meiner Klientinnen hat zum Beispiel von ihrer Mutter den Auftrag bekommen, sich nie von einem Mann abhängig zu machen. Als die Mutter im Sterben lag, sagte die aber: „Die größte Enttäuschung meines Lebens ist, dass du mir keine Enkelkinder geschenkt hast.“ Meine Klientin war total entsetzt, denn sie hatte ihr Leben dem Auftrag der Mutter gewidmet, war finanziell unabhängig und hatte sich nie länger auf einen Mann eingelassen.

Wie hat die Tochter auf die Worte der sterbenden Mutter reagiert?

Ihr erster Impuls war der Gedanke, wo sie mit Ende vierzig jetzt noch ein Kind herbekommen könnte. Dann haben wir in der Therapie zusammen auf ihr Leben zurückgeschaut. Sie hat unter anderem erkannt, dass sie wirklich keine Kinder wollte. Aber sie betrauerte auch manche Lebensschritte. Denn es hatte tatsächlich einen wichtigen Mann gegeben, mit dem sie nie zusammengezogen war, weil sie zu stark an die Worte der Mutter gebunden war.

Warum fällt es vielen so schwer, die Erwartungen der Eltern zu brechen?

Manche Menschen entwickeln sogar Schuldgefühle, wenn sie von den Wünschen der Eltern abweichen. Sie sind sehr verletzt von missbilligenden Kommentaren und denken, sie sind gescheitert oder nicht gut genug.

Und sie leben deshalb ein Leben, das sie gar nicht wollen?

Ja, Menschen, die die Wünsche der Eltern vor die eigenen stellen, entwickeln mitunter das Gefühl, an ihrem eigenen Leben vorbeigelebt zu haben. Deshalb sollte man immer schauen, welche Aufträge und Erwartungen unserer Eltern für unser Leben überhaupt passen und welche nicht.

Welche Folgen hat es noch, wenn wir uns zu sehr an den Eltern ausrichten?

Es zeigen sich auch Probleme in unseren anderen Beziehungen. Die Dramen, die mit den Eltern nicht gelöst sind, setzt man nämlich oft in Partnerschaften, im beruflichen Kontext oder im Umgang mit den Kindern fort. Einer meiner Klienten wurde zum Beispiel immer sehr wütend, wenn seine Frau ihn fragte „Wann kommst du heute nach Hause?“. Das hatte mit seiner bedürftigen Mutter zu tun, die ihn als Kind stark in seiner Autonomie eingeschränkt hatte. So musste er damals immer direkt nach der Schule nach Hause, um seiner Mutter Gesellschaft zu leisten, statt mit Freunden spielen zu dürfen. Und die Wut, die der Zwölfjährige auf die Mutter hatte, kriegt heute seine Frau ab.

Warum fühlen sich Kinder so sehr verantwortlich für die Eltern?

Das Bedürfnis wird oft schon in der Kindheit angelegt, wenn die Rollen umgekehrt werden. Sind Eltern sehr bedürftig, lernen Kinder früh, für sie zu sorgen. Sie haben oft bis ins erwachsene Leben das Gefühl, sie müssen ihre Eltern versorgen oder sogar retten. Geht es ihnen als Erwachsene gut, entwickeln sie häufig Schuldgefühle. Sie denken, ihnen dürfe es nicht besser gehen als ihren Eltern.

Viele Kinder erhoffen sich ihr Leben lang etwas von den Eltern. Wonach sehnen sie sich?

Viele Menschen sind enttäuscht, dass ihre Eltern nicht so sind, wie sie es sich wünschen – zum Beispiel, dass sie sie in der Kindheit nie genug gelobt oder ihnen nie genug Aufmerksamkeit geschenkt haben. Erwachsene Kinder hungern dem, was sie nicht von ihren Eltern bekommen haben, oft ihr ganzes Leben lang hinterher. Diese Wunde tut weh, bis sie versorgt wird.

Können die Eltern diese Wünsche überhaupt so spät noch „versorgen“?

Das muss man realistisch überprüfen. Manchmal sagt man den Eltern dauernd, was man sich von ihnen wünscht, und es verändert sich nichts. Dann kann es helfen, sie einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Sind die Eltern überhaupt in der Lage dazu? Welche Ressourcen und welche Wunden haben die Eltern selbst in ihrer Kindheit bekommen? Beim Blick durch eine erwachsene Brille, erkennen wir oft, dass die Eltern uns schon die besten Eltern waren, die sie sein konnten – auch wenn das für uns nicht immer genug war. Wir können dann mehr Empathie für sie entwickeln und eher Frieden mit ihrem Verhalten schließen.

Muss man Erwartungen auch gehen lassen?

Schon, irgendwann sollten wir aufhören, uns die Eltern so zu wünschen, wie sie noch nie waren oder dass sie uns das geben, was sie uns nie gegeben haben. Dieser Schritt ist oftmals sehr schmerzhaft, weil wir die Hoffnung aufgeben und Enttäuschungen akzeptieren müssen. Was hilft, ist dann, sich selbst die gute Mutter oder der gute Vater sein, die man sich immer gewünscht hat.

Wie geht das?

Es geht darum, die alten Verletzungen zu betrauern und zu versorgen. Insgesamt ist es wichtig, die abhängige Kind-Rolle aufzugeben, und stattdessen sowohl unsere Bedürfnisse als auch unsere Grenzen zu erkennen. Und die sollte man auch aktiv vertreten. Eine meiner Klientinnen ist zum Beispiel immer von ihrer Mutter im Homeoffice angerufen worden. Und obwohl sie ihr wiederholt sagte, dass sie das nicht möchte, rief die Mutter weiter an. Der Schlüssel war, das eigene Verhalten zu verändern, also den Anruf einfach nicht mehr anzunehmen.

Auch, wenn man Angst hat, die Eltern zu enttäuschen?

Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, unsere Eltern zu enttäuschen und von ihnen enttäuscht zu werden. Aber Ablösung bedeutet nicht, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen oder sie weniger zu lieben, sondern sie reifer zu lieben. Wenn wir Verantwortung für unsere Gefühle und unser Handeln übernehmen, verbessert das sogar die Beziehung zu den Eltern. Denn je mehr wir uns zeigen, wie wir wirklich sind, desto lebendiger werden auch unsere Beziehungen. Weil wir nicht mehr aus Pflichtgefühl, sondern mit echter Freude den Kontakt zu den Eltern leben. Klartext kann Klarheit schaffen und manchmal reagieren Eltern viel entspannter, als gedacht.

Und wenn die Eltern blöd reagieren?

Ablösung ist natürlich keine Einbahnstraße. Eltern müssen ihre Kinder altersgemäß loslassen. Wenn sie das nicht tun, wird die Ablösung schwieriger, aber verhindern können sie sie nicht. Im Zweifelsfall müssen sich die Kinder für das entscheiden, was für sie selbst und ihre neu gegründete Familie funktioniert. Es steht ja auch nirgends geschrieben, dass Eltern all unsere Handlungen gut finden müssen. Wenn wir gut von ihnen abgelöst sind, haben wir aber genug Selbstsicherheit, um ihre Kritik auszuhalten, ohne an uns selbst zu zweifeln. Denn die einzigen, vor denen wir unsere Entscheidungen rechtfertigen müssen, sind wir selbst.

Buchtipp: Sandra Konrad, „Nicht ohne meine Eltern – Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert“, Piper Verlag, 352 Seiten, 24 Euro