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Adoption aus Kindersicht„Meine Mutter hat in der Zeitung neue Eltern für mich gesucht“

Lesezeit 7 Minuten
Anzeigenteil der Nordwest-Zeitung, 31. Juli 1973

In diesem Anzeigenteil der Nordwest-Zeitung suchte Ralf Lengens Mutter 1973 nach Pflegeeltern für ihren Sohn.

Adoptionen werden oft als Happy-End erzählt. Doch was bedeutet es wirklich für ein Kind, wenn es abgegeben wird? Ralf Lengen hat es erlebt und erzählt, wie diese drastische Erfahrung ihn bis heute prägt.

„Ich weiß nur, ich war wie betäubt und habe nicht geweint.“ An den schicksalhaften Tag im Sommer 1973, als er mit fünf Jahren plötzlich in einer neuen Familie leben sollte, kann sich Ralf Lengen nur noch schemenhaft erinnern. „Das normalste wäre doch, dass ein Kind in so einer Situation ausflippt. Doch mein Schmerz war so groß, ich hätte es nicht überlebt, ihn zuzulassen. Stattdessen fügte ich mich ein und habe alles verdrängt.“ Erst über 40 Jahre später habe er begriffen, was damals mit ihm passiert sei. Lengen fing an, seine Geschichte aufzuarbeiten und setzt sich seither dafür ein, die Sicht des Kindes bei Adoptionen in den Fokus zu rücken. „Welche Gefühle ein kleiner Mensch hat, der weggegeben wird, darüber wird bis heute viel zu wenig gesprochen.“

Mutter gab ihr jüngstes Kind über eine Anzeige in Pflege

Seine ersten Lebensjahre hatte Ralf Lengen mit seinem persischen Vater, seiner deutschen Mutter und seinen zwei Geschwistern in Iran gelebt. Als die Ehe scheiterte, zog seine Mutter mit den Kindern zurück nach Oldenburg zu ihren Eltern. „Es gab damals noch keine finanziellen Hilfen, meine Mutter arbeitete als Sekretärin, und drei Kinder durchzubringen war ihr zu viel“, erzählt er. „Mein Großvater sagte damals: ‚Einer muss weg!‘“ Die Mutter beschloss, ihn als ihr jüngstes Kind in Pflege zu geben. „Sie hat eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben, um Pflegeeltern für mich zu finden.“ Gleich die erste Familie habe gepasst. „Als mein erster Vater davon erfuhr, wollte er mich zu sich holen, doch meine erste Mutter und meine Pflege-Eltern haben das verhindert.“

Mein Großvater sagte damals: 'Einer muss weg!'
Ralf Lengen

Zunächst sei er nur vorübergehend in Pflege gekommen. „Und ich stand als Fünfjähriger zwischen zwei Familien und wusste nicht, was richtig war.“ Das sei ein furchtbarer Loyalitätskonflikt gewesen. „Ich konnte meine erste Mutter nicht mehr ‚Mama‘ nennen, dann wäre meine neue Mutter beleidigt gewesen – umgekehrt aber auch.“ Letzten Endes habe er es sich ja mit keinem verscherzen dürfen. „Es hätte immer sein können, dass meine Mutter mich wieder haben will oder ich bei Fehlverhalten womöglich sogar ins Heim komme.“

Foto des fünfjährigen Ralf Lengen

Ralf Lengen als Kind im Alter von fünf Jahren.

„Es ist kein Wunder, dass ein so junges Kind in solch einer Situation unsicher ist und Angst vor einer weiteren Veränderung hat“, sagt der Kölner Kinderpsychotherapeut Wolfgang Oelsner. „Da die abgebenden Eltern in einer Pflegesituation im Leben des Kindes weiter eine Rolle spielen, kann es nur schwer in Ruhe in der neuen Familie ankommen.“ Aus wissenschaftlicher Sicht sei es gut und richtig, bei Pflege oder offenen Adoptionen den Kontakt zu den Herkunftseltern zu fördern, doch für ein Kind habe das auch belastende Seiten. „Ich sehnte mich damals nach Klarheit“, erzählt Ralf Lengen. „Nach den Besuchen bei meiner ersten Mutter wollte ich immer schnell wieder ins neue Zuhause zurück. Ich wusste, ich kann nicht bleiben, da mochte ich das nicht in die Länge ziehen.“

Viele Adoptivkinder passen sich zeitlebens perfekt an

Später wurde Ralf Lengen von seinen Pflegeeltern adoptiert. „Die Treffen mit meiner ersten Mutter hasste ich, weil sie mich daran erinnerten, dass ich nicht so war wie meine Freunde.“ Wie eine möglichst normale Familie zu leben und sich gut einzufügen, das sei sein Weg gewesen. „Es gibt zwei Arten von Adoptiv- und Pflegekindern: die Verhaltensauffälligen und die Anpasser. Zur zweiten größeren Gruppe gehöre ich. Die Anpasser sind lieb und nett und oft sogar erfolgreich im Leben.“ Und natürlich habe es auch bei ihm viele glückliche Momente gegeben. „Ich hatte mit meinen Eltern eine gute Zeit.“ Und er habe sich stets so gut angepasst, dass alle davon ausgegangen seien, ihm habe das Ganze nicht geschadet. „Selbst ich glaubte das lange.“

Ich schäme mich auch, ein Kind zu sein, das nicht mal gut genug war für seine Mutter.
Ralf Lengen

Erst mit Ende vierzig, als er selbst in eine Ehe- und Lebenskrise gekommen sei, habe ihn seine Vergangenheit eingeholt. Bei vielen Adoptierten werde das durch eine Midlife-Crisis oder lebensverändernde Situation angestoßen. „Ich wartete wohl auch deshalb so lange, bis ich wirklich gerüstet war, das Thema in Angriff zu nehmen“, sagt Lengen. Zwei Therapien habe er gemacht, bei denen vieles ans Licht gekommen sei. „Ich merkte, dass ich bis heute Liebe immer auch mit Verlassenwerden gleichsetze.“ Er leide bis heute unter Verlustängsten. „Es heißt immer: ‚Deine Mutter wird bei dir bleiben, selbst wenn alle gegen dich sind!‘ Doch diese Sicherheit gibt es für mich einfach nicht.“ Selbst der Liebe seiner Pflegeeltern sei er sich bis heute nicht sicher. „Ich schäme mich auch, ein Kind zu sein, das nicht mal gut genug war für seine Mutter.“

Ralf Lengen

Ralf Lengen betreibt eine Kommunikationsagentur und ist Autor, Referent und Verleger der Reihe „Meistertricks – Besser schreiben, reden und managen mit Salomo & Co.“. Er lebt in Berlin, ist verheiratet und hat vier Kinder.

Nach vielen Jahren der Funkstille stehe er seit einiger Zeit wieder im Austausch mit seiner ersten Mutter. „Ich verurteile sie nicht und kann ihr Verhalten und ihre Gründe von damals einerseits verstehen – auf der anderen Seite aber auch wieder nicht!“ Immer wieder sei ihm gesagt worden, die Mutter habe ihn aus Liebe weggegeben. „Doch wenn sie mich so sehr geliebt hätte, dann hätte sie auch verstanden, dass mein Platz bei ihr ist, und alles daran gesetzt, es mit mir hinzubekommen.“

Bindungsverlust vermeiden: Heute starten Adoptionen möglichst früh

In der heutigen Zeit laufen Pflegschaftsverhältnisse und Adoptionen sehr viel strukturierter ab. Gerade das „Adoptionshilfegesetz“ von 2021 versuche einen solchen Bruch in den Herkunftsfamilien durch staatliche Unterstützung zu verhindern, erklärt Wolfgang Oelsner. „Und wenn aufgrund schicksalhafter Umstände eine Adoption nötig ist, bemüht man sich, diese so früh wie möglich zu starten, damit das Kind keinen frühen Bindungsverlust erleidet.“ Adoptiveltern seien in der Regel auch sehr fürsorgliche Eltern und wirtschaftlich gut aufgestellt. Dennoch dürfe man sich nichts vormachen: „Adoption ist meist für alle Beteiligten eine verflixte Herausforderung – besonders aber für das Kind.“

Dieses Nein der ersten Eltern ist so gewaltig, dass es durch das Ja der neuen Eltern nicht ersetzt werden kann.
Ralf Lengen

Die Gesellschaft sehe bei einer Adoption das glückliche Kind, das mit offenen Armen empfangen werde, sagt Lengen. „Was man aber nicht sieht, ist der Ausschluss, der zuvor passiert ist. Das Kind wurde nämlich mit einem Tritt hinausbefördert. Und dieses Nein der ersten Eltern ist so gewaltig, dass es durch das Ja der neuen Eltern nicht ersetzt werden kann.“ Gerade deshalb müsse älteren adoptierten Kindern auch die Möglichkeit gegeben werden zu trauern. „Ich hätte mir damals mehr Verständnis für meine Gefühle gewünscht. Ich habe meine Eltern, meine Geschwister und meine Sprache verloren, durfte aber nicht darüber weinen, weil das meinen Pflegeeltern und der Gesellschaft gegenüber ja undankbar gewesen wäre.“ Erst wenn Adoptiveltern das Kind in seiner Trauer begleiteten, könne es sich voll und ganz dem neuen Leben und ihnen zuwenden.

Kinderpsychotherapeut Wolfgang Oelsner

Wolfgang Oelsner lebt in Köln. Er ist Pädagoge und analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, gibt Seminare für Adoptiveltern und führt Therapiegespräche mit Jugendlichen und ihren Adoptiveltern.

Viele adoptierte Kinder suchen ab Beginn der Pubertät ihre Identität

Anfangs laufe es in den Adoptivfamilien meist gut, so Oelsner. Spätestens mit Beginn der Pubertät interessierten sich aber viele adoptierte Kinder für ihre Geschichte. „Manche fragen sich etwa, ob sie einst ausgewählt wurden, weil man bei ihnen im Milieuwechsel die besten Förderchancen sah oder ob sie so schwierig waren, dass sie als erstes weg mussten.“ Oft gerieten sie bei ihrer Biografiearbeit zudem in ein Dilemma. „Je liebevoller die Adoptiveltern, desto größer ist oft auch das Schuldgefühl bei den Kindern.“ Sie wollten ihre Adoptiveltern schonen, weil die sich ohnehin von den Herkunftseltern bedroht fühlten. „Adoptiveltern wollen eine Familie sein wie jede andere“, sagt Lengen, „und durch jedes Erwähnen der Adoption wird in ihrem Trauma herumgewühlt, kinderlos gewesen zu sein.“ Für das Kind sei das eine Bürde. „Dieses Kind muss ein doppeltes Trauma tragen, sein eigenes und das der Eltern.“ Umso wichtiger findet er es daher, bei einer Adoption immer das Kind und dessen Wohlergehen ins Zentrum zu stellen.

Für seine lange kinderlos gewesenen Adoptiveltern sei er einst eine Art Ersatzlösung gewesen, nie aber habe man offen darüber gesprochen, sagt Ralf Lengen. „Der Königsweg ist die Aufklärung“, sagt auch Wolfgang Oelsner. „Adoptiveltern sollten am besten ganz früh im Leben des Kindes vermitteln: ‚Du bist unser Kind, aber es gibt eine andere Mama, die dich geboren hat. Und der danken wir, denn es ist schön, dass es dich gibt.‘“ Je regelmäßiger diese Begriffe im Alltag einen Platz fänden, desto besser könne das Kind damit umgehen lernen. „Warum nicht beim Spekulatius essen über die leibliche Mutter sprechen und danach das Kind regulär zum Handballtraining fahren.“

Buchtipps: Ralf Lengen, „Ins neue Leben getreten! – Adoption und Pflege aus Sicht des Kindes“, Inschluss, 342 Seiten, 32 EuroIn seinem Buch erzählt Ralf Lengen seine eigene Geschichte, bespricht das Thema Adoption aus Kindersicht aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dabei zitiert er auch berühmte Menschen, die adoptiert oder in Pflege gegeben wurden – von John Lennon über Steve Jobs bis zu Harry Potter.Wolfgang Oelsner/Gerd Lehmkuhl: „Familienplanung 2.0 – Identität in Zeiten sich auflösender biologischer Verwandtschaftsbeziehungen“, Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 162, Seiten, 20 Euro.