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Kommentar

Elternparanoia
Wie Furcht mich fast zu einer schlechten Mutter machte

Ein Kommentar von
Lesezeit 10 Minuten
Ein Kind, 9 Jahre alt, fährt auf einem Mountainbike downhill, Es trägt Schutzausrüstung, aber die Geschwindigkeit zeigt sich in der verschwommenen Umgebung.

Wenn es der Brut nicht rasant genug gehen kann, dann beiße ich als Mutter vor Angst oft ins Kissen.

Mit der Geburt meiner Kinder bin ich nicht nur Mutter geworden. Sondern auch eine Sorgenmaschine. Warum die Angst normal ist und gleichzeitig etwas anderes viel wichtiger.

Kinn zur Brust, dann Kopf in den Nacken. Ein Bewegungsablauf, der das Thema in meinen Augen recht präzise umreißt. Wenn unsere Kinderaugen glasig wurden und das Thermometer die 39 Grad erreichte, befahl unsere Mutter uns diese Kopfbewegung – manchmal mehrmals täglich. Und insistierte anschließend: „Geht das? Tut dir das weh?“ In ihrem Schlafzimmerschrank stand „Das große Buch der Kinderkrankheiten“ und darin zu lesen war allerhand Besorgniserregendes, ihr Lieblingskapitel war das über die Gehirnhautentzündung oder Meningitis. Nach Aussagen meines Vaters hat sie das Buch gelesen wie andere einen besonders aufreibenden Horror-Thriller.

Jedenfalls stand unter Meningitis, bei fiebernden Kindern sei in jedem Fall zu überprüfen, ob eine Nackensteifigkeit vorliege. Dazu sei das Kind auf den Rücken zu legen und das Kinn Richtung Brust zu drücken. Sollte das nur unter Schmerzen möglich sein, spräche das für eine Gehirnhautentzündung. Und für Großalarm in der Familie. „Allmächt!“ pflegte meine Mutter bei derlei Gelegenheiten auszurufen.

Das Buch hat mein Vater zur Wahrung des Familienfriedens heimlich entsorgt

Die Wahrheit ist: Die Sorgen meiner Mutter waren, was das betraf, immer unbegründet. In unserer Familie hat es nie einen Meningitis-Fall gegeben. Als wir Teenager wurden, haben wir meine Mutter für diese Alarmbereitschaft, die mit derlei Tests einherging, manchmal liebevoll ausgelacht. Die Brust-Nacken-Geschichte war eine beliebte Erheiterung verschiedener Geburtstagsrunden. Mein Vater sagte dann manchmal gut gelaunt, es habe wenig gegeben, worüber er sich mit meiner Mutter derart in die Haare kriegen konnte, wie über „Das große Buch der Kinderkrankheiten“. Irgendwann, so heißt es, hat er es wohl heimlich entsorgt – vorgeblich zur Wahrung des Familienfriedens.

Der Gerechtigkeit halber gaben wir Schwestern dann zum Beispiel noch folgende Geschichte zum Besten: Als ich, sein jüngstes Kind, mit 18 Jahren und einer Freundin nach Prag reiste, rechnete er fest damit, dass ich nicht mehr zurückkehren und stattdessen in die Hände eines osteuropäischen Mädchenhändlerrings geraten würde. Geschlafen habe er in diesen Tagen nach Aussagen meiner Mutter kaum. Was haben wir später darüber gelacht.

Die Alarmglocke bimmelt unablässig

Seit ich Kinder habe, ist mein Lachen über elterliche Besorgtheiten sehr leise geworden. Eigentlich lache ich gar nicht mehr. Denn die Wahrheit ist: Mit der Geburt meiner Kinder wurde ich nicht nur Mutter, sondern auch eine Sorgenmaschine. Mit dem ersten positiven Schwangerschaftstest vor gut 20 Jahren begann irgendwo in meinem Körper auch die Alarmglocke zu läuten, die die Beschützerinstinkt-Armee antreten lässt. Sie bimmelt seither unablässig. Abenteuerlichkeiten, denen ich früher mit zupackender Zuversicht begegnen konnte, rauben mir seither den Schlaf.

Wenn mein heute sieben Jahre alter Sohn vor mir immer schneller in die Pedale tritt, sich schräg über den Lenker lehnt, um noch rasanter über den Asphalt zu sausen, dann klopft mein Herz direkt in meinen Ohren, schreckliche Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf. Sehr viel Blut und abgetrennte Körperteile. Wenn meine mittlerweile erwachsene Tochter anruft, dann bin ich immer darauf gefasst, mindestens einen Beinbruch, wahrscheinlich aber Schlimmeres berichtet zu bekommen.

Die Sorge ist nicht wählerisch. Sie braucht für ihren großen Auftritt gar nicht die ganz große Katastrophe. Manchmal reicht ihr als Bühne eine anstehende Urlaubsreise in Verbindung mit einem abgelaufenen Kinderreisepass. Die zeitliche Überlappung von Fußballtraining und Kindergeburtstagseinladung. Eine Bootsfahrt auf einem idyllischen Alpenvorlandsee mit einem Nichtschwimmer in der Familie. Abendfüllende Thriller kann mein Gehirn daraus stricken.

Die ganze Familie an der Grenze festgehalten, Urlaub futsch, heulende Kinder, Beziehungskrise, Ferien im Dauerregen – alles nur wegen eines wenige Tage überfälligen Reisedokuments, gerne in der EU und trotz Schengen. Verpasst das Mädchen nicht das wichtigste erste Spiel, wenn es zum Geburtstag zwanzig Minuten zu spät kommt? Kann es sich dann überhaupt noch integrieren? Ein in den See fallender Vierjähriger. Wie kann ich die Schuhe am schnellsten von meinen Füßen kriegen, ehe ich ihm hinterherspringe? Soll ich die Schuhe besser anlassen? Wahrscheinlichkeiten interessieren mich in solchen Momenten kein bisschen. Meine Fantasie weiß, was theoretisch alles passieren könnte. Kein Drama ist ausgeschlossen. Man hat schon Pferde kotzen sehen. Ich bleibe in Sorge, und das dauernd.

Die Angst wohnt in jeder Besteckschublade, auf der Balkonbrüstung, an jeder Kreuzung

Immerhin: Ich bin damit nicht alleine. Eltern in Deutschland machen sich große Sorgen um ihre Kinder. Furcht-Studien können Bibliotheken füllen. Unzählige wissenschaftlich begleitete Albträume gewissermaßen: Familienmonitor 2023, Bepanthen-Kinderförderung 2021, „Familien in der Krise“ der Pronova BKK, um nur jüngstes zu nennen. In allen Untersuchungen kann man nachlesen, wie es um den Alarmmodus in Elternköpfen bestellt ist. Zur Angst vor Unfällen und Krankheiten, die quasi im eigenen Haushalt, in banalen Besteckschublade, an geöffneten Fenstern, auf Balkonbrüstungen und selbstverständlich an jeder Kreuzung in der Nachbarschaft wohnt, kommen gerechtfertigt globale Anlässe zum Besorgtsein: Schulbildung, Staatsschulden, Wohlstandsverlust, Gesundheit, eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, Umweltverschmutzung, Leistungsdruck, Klimawandel, Diskriminierung, Pandemien, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, Armut. Und die schrillenden Glocken sind lauter geworden. Die Corona-Pandemie als „kollektive Krisenerfahrung“, auch das legen die Studien nahe, könnte als eine Art Brandbeschleuniger für Elternängste gewirkt haben.

Forscher wissen: Angst ist generell ein gesundes Gefühl. Sie bewahrt uns davor, uns und unsere Liebsten ständig in gefährliche Situationen zu bringen. Aber gerade Mütter trifft sie übertrieben hart, wenn sie im Schlepptau des Beschützerinstinkts wie ein Bulldozer unaufhaltsam angepoltert kommt. Mehr als die Hälfte aller Mütter ist laut Studien nach eigenen Angaben „übervorsichtig“ mit den eigenen Kindern. Jede Dritte hat gar Angst, der eigene Nachwuchs könnte entführt werden.

Nächtelanges Grübeln, ob die erwachsene Brut den Urlaub überlebt hat

Als meine Tochter sieben Jahre alt war, ging sie mal alleine zum Spielplatz, den ich vom Küchenfenster aus beobachten konnte. Vielleicht habe ich kurz eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank geholt oder das Spülmittel gesucht. Wer weiß das heute schon noch genau. Jedenfalls war sie plötzlich verschwunden. Ich habe das ganze Veedel abgesucht, der Polizei – den ganzen Kopf voller Tränen und schlechtem Gewissen – beschrieben, welche Farbe ihre Haare und Hosen hatten. Ich sah mein kleines Mädchen schon geknebelt und mit Angst in den Augen in einem Lastwagen sitzen. Letztlich tauchte sie nach einer Weile im Schlepptau einer verwirrten älteren Dame mit Hunden und in Begleitung mehrerer Kinder aus der Nachbarschaft bestens gelaunt wieder auf. Sie hatte den kleinen Rauhaardackel sogar kurz an der Leine führen dürfen.

Und die Sorge endet nicht. Obwohl meine Tochter schon ausgezogen ist, grüble ich manchmal nächtelang darüber, ob sie gesund von der Party heimkommt, die Urlaubsreise überlebt oder mit den Herausforderungen im Job oder der eigenen Familie klarkommt.

Zwischen Elternparanoia und der Generation Rücksitz

Soziologen wie der englische Buchautor Frank Furedi sprechen inzwischen schon von einer „Elternparanoia“. Andere haben die „Generation Rücksitz“ ausgerufen. Sie stellten fest, dass der sogenannte Streifradius von Grundschulkindern – also das Gebiet, das sie selbständig entdecken können – binnen weniger Jahrzehnte von 20 auf vier Kilometer geschrumpft ist. Denn: Alleine Draußensein gilt vielen Eltern heute als deutlich zu gefährlich. Ohne Handyortung komplett unverantwortlich. Also wird mit dem Auto chauffiert.

Social Media tut sein Übriges. Zuletzt habe ich Mama-Influencer entdeckt, die mich mit neuen Gefahren-Fantasien versorgten. Gefahren, die scheinbar minütlich bereitstehen, um unsere Brut ins Unglück oder in den Tod zu zerren. Pools und Teiche – für die perfekte Horrorvorstellung gern mit Wasserpumpen – sowieso, aber auch Gartenschläuche oder sich in der Sonne aufheizende Bleche können da in unserer Fantasie ihre Mäuler aufreißen. Bleche! Wie konnte ich die bisher übersehen?

Hält mein „Nicht so schnell!“ mein Kind vom Mutigsein fern?

Gutes tun wir unseren Kindern mit all den Vorsichtsmaßnahmen freilich nicht. „Besorgnis ist Gift für das Selbstwertgefühl des Kindes. Sie ist eine Misstrauenserklärung“, hat der große Kinderpsychologe Jesper Juul mal gesagt. Umschiffen wir mit anstrengenden Wendemanövern auf hoher See jedes auch noch so kleine Risiko, das dem eigenen Nachwuchs begegnen könnte, lernt er nicht zu scheitern – und nach dem Tränentrocknen daran zu wachsen. „Krisenklau“ nennt das die Kölner Professorin Sigrid Tschöpe-Scheffler in ihrem Buch „Perfekte Eltern und funktionierende Kinder“. Mir gräbt sich da gleich eine weitere steile Sorgenfalte in die Stirn. Was, wenn die ganze Furcht mich zu einer schlechten Mutter macht, die ihre Kinder vom Mutigsein fernhält? Mein „Nicht so schnell“, das ich meinen rennenden Kindern hinterher brülle, mein „Nicht so hoch“, das ich kleinen Baumkletterern mit auf den Weg gebe. Mein Straßenseitenwechseln, wenn ein großer Hund des Weges kommt.

Ich muss mich also mal in die Eistonne setzen. Runterkühlen. Die Jüngsten guter Dinge und angstfrei wachsen lassen. Der Grat ist schmal, natürlich. Manche Gefahren sind real. Der tote Winkel des Lastwagens im Alltag ebenso wie die Krisen in der Welt wie Krieg, Klimawandel oder die Erosion der Demokratie.

Dennoch ist es an der Zeit, für Gelassenheit und Zuversicht im Elternsein zu plädieren. Und Müttern und Vätern dabei zu helfen, mehr Vertrauen in ihre Kinder zu haben. Einfach auch mal daran zu glauben, dass sie selbst viel können. Und dass sie – selbst wenn sie noch wenig können – nur durch Ausprobieren sehr viel lernen. Selbstwirksamkeit nennt das die Psychologie. „Hat geklappt“ nennt das mein Sohn, wenn er auf dem Elternbett so lange den Salto geübt hat, dass er sich dabei nicht mehr die etwas zu wenig angezogenen Beine an der Kante anstößt.

Krisen tragen dazu bei, dass Menschen neue Fähigkeiten entwickeln

Und auch ich, die Mutter, lerne aus derlei abenteuerlichen Sporteinheiten Wichtiges: Dass ich meinem Kind vertrauen kann. Dass es zumindest immer mal wieder tatsächlich selbst weiß, wie weit es gehen kann. Ich beiße also nicht mehr ins Kissen, sondern versuche zu lächeln, wenn der Junge zum Sprung ansetzt. Ich entwickle neue Ansätze der Krisenbewältigung, würden Forscher wahrscheinlich sagen. Das ist uns Eltern übrigens scheinbar auch in der Pandemie gelungen. Familien gingen in großer Zahl enger zusammengerückt aus der Corona-Zeit hervor. Resilient, könnte man vielleicht sagen. Und derart gestärkt, dass Alltagshindernisse, wie ein Brückentag ohne Betreuung oder ein ordentlich verschnupftes Kind, die uns früher für Alarm gereichten, heute wie Spaziergänge um den Block erscheinen. Schließlich tragen Krisen dazu bei, dass Menschen neue Fähigkeiten ausbilden. Und das gilt eben nicht nur für Kinder, sondern auch für ihre Eltern.

Und natürlich: Handeln könnte helfen. Wer sich davor fürchtet, der Klimawandel könnte die Zukunft der Kinder bedrohen, wird mit Grübeleien und Sorgenfalten wenig ausrichten. Mit dem Vorbild, dass man Erledigungen und Schulwege per Fahrrad statt mit dem Auto zurücklegen kann, schon eher. Wem Nachrichten von weltweiten Krisen und Kriegen zusetzen, der tut gut daran, einen Flohmarkt zu veranstalten und das für die alte Carrerabahn eingenommene Geld an eine Hilfsorganisation zu spenden. Mal bei den Tafeln hospitieren. Die eigenen Kinder ermutigen, sich bei der Feuerwehr oder in der Nachbarschaftshilfe zu engagieren. Immer den Fahrradhelm aufsetzen. Das Seepferdchen machen. Viel Brokkoli oder gar Spinat essen. Konflikte gewaltfrei lösen. Denn nichts hilft so gut gegen die Angst wie das Gefühl, selbst etwas zur Verbesserung der Lage beitragen zu können.

Manchmal rettet uns übrigens auch die Verschleierung. Und ein bisschen aufgesetzte Zuversicht. Damit man die übertriebene Sorge, die in einem wohnt und da ständig den Alarmknopf drückt, wenigstens nicht auch in die nächste Generation einpflanzt. Meine Tochter, die mittlerweile selbst Mutter ist, sagte letztens mal zu einer Freundin: „Die Mama hat mir beigebracht, dass Kinder robust sind und man ihnen das Leben zumuten kann.“ Ich lächelte ertappt, einerseits beschämt angesichts der derart erfolgreich verheimlichten Panik, andererseits stolz auf mein schauspielerisches Talent und einen meiner wenigen Erziehungserfolge und habe mir sofort vorgenommen, an meiner Enkelin niemals den Brust-Kinn-Test durchzuführen.