Corona-Spätfolgen„Es ist brutal schwer, Long-Covid bei Kindern zu diagnostizieren“
Auch wenn eine Corona-Infektion mild verlaufen ist, können sich danach noch körperliche Spätfolgen zeigen. In Deutschland leiden etwa 370.000 Erwachsene an Long-Covid. Aber auch ganz junge Menschen können davon betroffen sein.
Wie groß ist das Risiko für Kinder und Jugendliche? Und was können Eltern bei einem Verdacht tun? Ein Gespräch mit Dr. Daniel Vilser, dem Leiter der ersten Kinder-Long-Covid-Ambulanz in Jena.
Wie hoch ist das Risiko, dass Kinder an Long-Covid erkranken?
Daniel Vilser: Es gibt bisher keine verlässlichen Zahlen, wie viele Kinder und Jugendliche Long-Covid bekommen. Die Angaben dazu sind sehr verschieden, es schwankt zwischen zwei und 40 Prozent der Infizierten. Meiner Einschätzung nach liegt der Wert eher bei zwei Prozent. Dennoch schätzt eine aktuelle Studie aus Großbritannien, dass dort etwa 30.000 Kinder von Long-Covid betroffen sind.
Selbst wenn es hier bei uns nur die Hälfte wäre, ist das ein relevanter Anteil an Kindern, die leiden. Ich hoffe, dass die Kinder nicht vergessen werden, weil die Zahlen geringer sind und ihre Fälle sich weniger dramatisch darstellen als die Erwachsener.
Wer ist besonders betroffen und welche Symptome könnten auf Long-Covid hindeuten?
Es sind häufiger Jugendliche betroffen. Das Durchschnittsalter unserer Patienten hier in der Ambulanz liegt etwas darunter bei zehn, elf Jahren. Insgesamt trifft es auch eher Mädchen.
Die Symptome, die in der Regel erst einige Zeit nach einer Corona-Infektion auftreten, sind ähnlich wie bei den Erwachsenen. Im Vordergrund steht oft eine Müdigkeit und geringe Belastbarkeit – man kennt das auch als Fatigue-Syndrom.
Oftmals treten auch Kopf-, Glieder-, Gelenk- oder Bauchschmerzen auf oder Patienten leiden unter Durchfall oder anhaltenden Geschmacks- und Geruchsstörungen. Typisch sind auch kognitive Einschränkungen wie Konzentrationsschwierigkeiten, Merkstörungen oder Lernprobleme. Manchmal verschlechtern sich nach einer Corona-Infektion auch schon bestehende Grunderkrankungen wie Asthma. Es ist ein weites Bild.
Wie schwierig ist es, überhaupt die Diagnose Long-Covid zu stellen?
Es ist brutal schwer, Long-Covid bei Kindern zu diagnostizieren. Das Krankheitsgeschehen ist extrem komplex und es gibt keinen harten Diagnose-Marker, an dem wir das festmachen könnten. Am Ende ist Long-Covid eine Ausschlussdiagnose.
Wenn wir wissen, dass es eine Corona-Infektion gab, anhaltende Symptome bestehen, die passen könnten und wenn andere Erklärungen scheitern, dann nennen wir das Ganze Long-Covid.
Bleiben da nicht viele Fälle unentdeckt? Betroffene denken ja wahrscheinlich gar nicht daran, dass es Long-Covid sein könnte…
Das ist das Problem, oft wird die Verbindung zu einer Corona-Infektion gar nicht hergestellt, auch weil viele Kinder bei der Infektion gar keine Corona-Symptome zeigten. Viele Eltern und Kinder bleiben deshalb vorher im Gesundheitssystem hängen und werden nicht ernst genommen.
Treten bei einem Kind Symptome wie Wesensveränderungen und Schlafstörungen auf, werden die oft eher auf die Folgen des Lockdowns geschoben und nicht als mögliche Spätfolgen einer Corona-Infektion in Erwägung gezogen. Die Long-Covid-Dunkelziffer ist sehr hoch.
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An wen sollten Eltern sich zunächst wenden, wenn sie einen Verdacht haben?
Wenn Eltern merken, ihr Kind hat sich körperlich oder kognitiv verändert - erst recht nach einer bekannten Corona-Infektion -, sollten sie zunächst zum Kinderarzt gehen. Und dort auch nachfragen, ob die Möglichkeit von Long-Covid bestehen könnte.
Der Kinderarzt kann erste Bereiche abklären. Wenn es aber keine Diagnose gibt und der Leidensdruck des Kindes weiter hoch ist, sollten Eltern dran bleiben. Dann kommt eine Kinder-Long-Covid-Ambulanz wie unsere ins Spiel. Leider gibt es solche Anlaufstellen bisher kaum, bei uns ist die Nachfrage deshalb auch konstant hoch.
Wie gehen Sie bei einer Untersuchung in Ihrer Ambulanz vor?
Die Diagnose-Findung bei uns in der Ambulanz passiert in einem großen interdisziplinären Team verschiedener Fachärzte. Ein Kind durchläuft ambulant an einem Tag in etwa sechs Stunden verschiedene Tests. Wir prüfen, welche Ursachen es für die Beschwerden geben könnte. Unsere Hauptaufgabe ist zunächst, organische Schäden auszuschließen. Wir untersuchen Herz-, Leber- und Nierenfunktion.
Im zweiten Teil befassen wir uns mit den kognitiven Bereichen. Wir schauen, ob es sich um eine Depression oder psychosomatische Beschwerden handeln könnte, die behandelbar sind. Am Ende sichten wir die Befunde und überlegen, was für oder gegen eine Long-Covid-Diagnose spricht.
Wie wird Long-Covid bei Kindern langfristig behandelt?
Man kann immer nur einzelne Symptome behandeln. Am schwierigsten zu behandeln ist das Fatigue-Syndrom. Manche Patienten sind schon nach geringer körperlicher Tätigkeit tagelang total erledigt. Und in diesem Zustand kann man mit ihnen nur schwer Übungen machen. Bei anderen helfen Physiotherapie und regelmäßiges Training.
Es ist eine ganz individuelle Sache. Keiner der 40 Long-Covid-Patienten, die ich bisher in unserer Ambulanz behandelt habe, war annähernd gleich.
Welche Fälle gab es denn zum Beispiel zuletzt in Ihrer Ambulanz?
Eine 14-jährige Patientin von uns leidet zum Beispiel unter Belastungs- und Bewegungsstörungen, sie hat Schwindel und Herzrasen, wenn sie sich bewegt. Es ist schwer, das mit Physiotherapie zu behandeln.
Gleichzeitig gibt es bei ihr den Verdacht, dass es auch psychische Ursachen geben könnte, deshalb arbeiten wir mit einer Psychotherapeutin zusammen. Weil sie erhebliche Einschränkungen hat, haben wir sie jetzt stationär aufgenommen.
Eine andere Patientin, sie geht in die vierte Klasse, hat seit einer Corona-Infektion kognitive Störungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Eltern berichten, dass sich ihr Wesen verändert hat, dass sie ganz anders spielt und ganz wenig Interesse an Dingen hat. Vor allem schulisch hat sie sich sehr verschlechtert. Davor war sie eine Einserschülerin, jetzt bekommt sie keine Empfehlung mehr fürs Gymnasium.
Sind Long-Covid-Symptome ganz heilbar oder drohen langfristige Beeinträchtigungen?
Es ist heilbar in dem Sinne, dass die Selbstheilungskräfte des Körpers es doch langfristig schaffen und sich die Symptome bei den meisten mit der Zeit bessern. Vor allem mit der Unterstützung durch Reha-Maßnahmen wie Psycho- oder Ergotherapie. Stationäre Rehas für Kinder-Long-Covid-Patienten gibt es allerdings noch nicht.
Ich arbeite gerade zusammen mit einer Rehaklinik an einem Konzept für Kinder. Es müsste in diesen Rehas darum gehen, den mentalen Zustand und die Belastbarkeit der Kinder wieder zu stärken.
Bisher gibt es sowieso nur zwei Kinder-Long-Covid-Ambulanzen in Deutschland. Glauben Sie, es werden bald noch mehr?
Das hoffe ich. Wir müssen den Kindern ein Versorgungsangebot machen. Aber das liegt auch an der finanziellen Unterstützung der Politik. Prinzipiell haben vor allem die großen Kliniken die technischen Voraussetzungen für eine solche Kinder-Long-Covid-Ambulanz.
Aber die Reihe an aufwändigen Untersuchungen, die zu einer solchen Ambulanz gehört, ist nicht gerade kostenneutral. Und die Ambulanz muss organisiert und aufgebaut werden.
Das Grundlegende ist, dass man die Patienten erkennt, ernst nimmt und den Willen dazu hat, sich damit zu beschäftigen. Ich habe inzwischen Anfragen mehrerer Kollegen bekommen und unser Diagnostik-Konzept auch gerne weitergegeben.
Sollten Kinder Ihrer Meinung nach gegen Corona geimpft werden?
Die Stiko empfiehlt, nur Kinder mit Vorerkrankungen zu impfen. Hauptgrund ist, dass noch ausführliche Daten fehlen und das ist meiner Meinung nach zum momentanen Zeitpunkt, bei den niedrigen Inzidenzen, das richtige Vorgehen. Wie es dann im Herbst aussieht, muss natürlich abgewartet werden.