Digitalfreie ZonenMedien-Prof empfiehlt Kindheit ohne PC und Smartphone
So ein Wald, der hat's nicht leicht. Früher galt er als ein Ort zum Fürchten: Hänsel und Gretel trafen dort die böse Hexe, Rotkäppchen den gefräßigen Wolf und Mascha den einsamen Bären. Heute wird er gern als Synonym für unbeschwerte Kindheit genutzt, wo die Kleinen auf Bäume klettern, im Matsch spielen und wie von selbst zu motorisch-kognitiven Idealwesen heranwachsen.
Und demnächst wird der Wald wahrscheinlich als letzte Bastion gegen Digitalisierung herhalten müssen. In diesem Sinne wünschen sich Gerhard Lembke, Professor für Digitale Medien, und der Gründer der Textagentur EcoWords, Ingo Leipner, die Schule in den Wald.
„Digitalfreie Zonen in Kindergarten und Grundschule“
„Wir brauchen mindestens in Kindergarten und Grundschule digitalfreie Zonen, damit Kinder vor allem Lernerfahrungen machen, die zu ihrer kognitiven Entwicklung passen“, heißt eine These aus ihrem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“. Mich machte neugierig, dass ein ausgewiesener Nerd – Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien und Präsident des Bundesverbandes für Medien und Marketing - als These aufstellt: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“
Was soll dieses Buch? Wie weit lebt der Nerd Lembke selbst nach seinen Thesen? Ich habe nachgefragt.
Unter Computerkind beschreibt die Journalistin Katja Reim, wie sie ihre siebenjährige Tochter auf die digitale Welt vorbereitet und gemeinsam mit ihr die Möglichkeiten und Herausforderungen des virtuellen Alltags erkundet.
Computerkind: Wen wollen Sie erreichen?
Gerhard Lembke: Mein Co-Autor Ingo Leipner und ich möchten mit dem Buch die Menschen erreichen, die in einer Vorbildfunktion für unsere Kinder sind. Dazu zähle ich in erster Linie „Vorbilder“ wie Eltern, Erzieher, Pädagogen und auch Führungskräfte in Organisationen, die ebenso immer mehr mit der Nutzung von Digitalität in den Unternehmen konfrontiert werden.
Sehen Sie sich eher als Mahner oder als Mutmacher?
Ich persönlich maße mir nicht an, die Menschen zu ermahnen. Viel mehr möchte ich aufklären und den Lesern Mut machen, Mut für ein Mehr an Autonomie, mehr selbständiges Denken und mehr Freiheit in der Nutzung Digitaler Medien. Leider werden wir immer mehr gefangen und verführt von Wirtschaft und Politik, wenn es um Digitalität geht - mehr Digitalität ist immer besser als weniger. Das sind meiner festen Überzeugung nach die falschen Signale an unsere Kinder.
Haben Sie Kinder und schaffen es, Zuhause eine digitalfreie Zone vorzuleben?
Ja, ich habe eine fast sechsjährige Tochter. Und ich als digitaler Nerd hatte bis vor 1,5 Jahren zu Hause mehrere iPads und Laptops herumliegen, natürlich auch die obligatorischen Smartphones. Wo man hinschaute, Digitalität überall, sofort verfügbar, immer online.
Vor 1,5 Jahren habe ich bis auf einen Laptop, ein Tablet für Reisen und ein Smartphone alles abgeschafft. Dazu kommt, dass TV während des Tages nicht läuft. Verführungen wie zum Beispiel „Feuerwehrmann Sam“, „Barbie House“ und ähnliche Sendungen werden nicht mehr aktiviert. Stattdessen bin ich täglich (sofern es meine Zeit zulässt) mindestens eine Stunde mit meiner Kleinen bei Wind und Wetter draußen, wir toben, machen Faxen und Blödsinn. Anschließend weichen alle bequemorientierten Bedürfnisse wie Medienkonsum - auf welchem Bildschirm auch immer - auf beiden Seiten der körperlichen Erschöpfung und gemeinsamen Freude.
Halten Sie frühe Medienkompetenz als Wertegerüst (nicht im Sinne der Wisch- und Bedienkompetenz) für verzichtbar?
Ja, ich halte es durchaus für verzichtbar. Denn warum sollte ich meinen Kindern so früh wie möglich alles beibringen? Mit vier Jahren schon Schwimmen und Radfahren, drei Fremdsprachen zeitgleich und das Reiten darf auch nicht fehlen, dann auch noch den Umgang mit Tablets lernen? Wofür?
Wir Menschen in der Industriegesellschaft sollten nicht unsere Ängste pflegen, dass unsere Kinder etwas verpassen oder wir sie nicht hinreichend erziehen, wenn Sie mit acht Jahren noch nicht alles beherrschen. Stattdessen sollten wir Möglichkeiten im Privaten anbieten - und ja, dazu gehört zum Beispiel auch das Präsentieren eines Tablets und dessen Erörterung durch einen Elternteil, was man damit macht.
Ich wünsche mir, dass unsere Kinder mit acht noch keine Excel-Kalkulationen am Rechner machen (müssen), um die Effizienz des Kühlschrankes zu optimieren mit Blick auf eine spätere Ingenieur-Karriere bei Siemens. Wir wissen, dass alles was vor dem 15. Lebensjahr passiert und an Entwicklungsbahnen für das spätere Leben in die Wege geleitet wurde, doch meist von den Kindern selbständig umentschieden wird.
Die Grundlagen in jungen Jahren zu legen, nämlich Entscheidungen vorzubereiten, zu treffen und sie zu verantworten, ist um ein Vielfaches wichtiger, als IT zu beherrschen. Das ist mein Verständnis von Wertegerüst. Wenn man zu Hause für drei Stunden in der Woche dazu das Internet zur Hilfe nimmt, schadet es nicht. Mehr jedoch nicht bei Kindern bis ca. neun!
Digitale Medien erst für Kinder ab zwölf Jahren? Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.
Computerkind: Bezieht sich Ihre These „Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“ auch auf WhatsApp & Co, wo Dummheiten schnell eine viel größere Dimension bekommen können als im realen Leben?
Gerhard Lembke: Ich differenziere hier deutlich zwischen Schule und Privatleben. In der Schule bis zum 12. Lebensjahr plädiere ich für „digitalfreie Oasen“. Im Privaten lassen sich Computer und Smartphones meist nicht kontrollieren, je kleiner desto unmöglicher. Verbote helfen auch nicht. Also müssen Aufklärung und Regeln her, verbunden mit Kontrolle, bis das Kind den selbständigen Umgang mit digitalem Lernen erlernt hat.
Wir sind gerade am Anfang der Debatte, wie das Ergebnis eines guten und selbständigen Umgangs mit Digitalen Medien auszusehen hat. Es kann jedoch nicht so sein, dass unsere Kinder mehr als sieben Stunden Bildschirmzeit am Tage (ohne Schule!) komplett unkontrolliert praktizieren.
Daher sind liberale Erziehungsstrategien, wie von Jesper Juul proklamiert, in der Anwendung auf Digitale Mediennutzung auch nicht hilfreich. Stattdessen sollte Aufklärung und davon individuell abgeleitete Regeln zur Förderung von Medienkompetenz gefördert werden. Sinn muss es sein, Digitalität als Werkzeug und Hilfsmittel gezielt und kontrolliert einzusetzen. Wenn ich einen Aufsatz schreibe, nutze ich in dieser Zeit IT und Hardware gezielt. Ist diese Aufgabe beendet, ist auch die IT-Arbeit beendet. Dann muss ich nicht noch hunderte von Whatsapp-Nachrichten und Posts in die sozialen Netzwerke geben und das kommunizieren.
Sie beschreiben sehr anschaulich, wie Werbung auf die Kinder einprasselt. Ist es deshalb nicht wichtig, ihnen schon früh zu erklären, was der Sinn von Werbung ist, dass Fotos manipuliert werden und dass Glücksversprechen eine Illusion sind?
Da stimme ich mit Ihnen vollkommen überein. Wie ich in der vorgehenden Antwort schon erwähnte, haben die „Vorbilder“ aus Antwort eins genau diese Funktion und meiner Überzeugung nach die verdammte Verantwortung für die kritische Auseinandersetzung mit digitalen Medien. Aber ehrlich: Wenn Lehrer in Schulen keine konstruktiv-kritische Haltung haben, wenn in Familien dies nicht passiert, droht unseren Kindern und den nachfolgenden Generationen ein Kollaps. Sie werden sich später bewusst und entschieden von der Digitalität abwenden. Erste Bewegungen in diese Richtung sind den USA bereits heute zu erkennen.
Sie empfehlen den Einstieg in digitalen Medien erst für Kinder, die älter als zwölf sind. Meinen Sie damit nur am Computer oder auch schon am Smartphone?
Na ja, den Einstieg bekommen die Kinder schon vor dem 12. Lebensjahr, spätestens dann, wenn Eltern ihren Kindern ein Smartphone schenken, um sie kontrollieren zu können und ihrem persönlichen Sicherheitsdenken nachzukommen. Ich frage mich, ob sich unsere Eltern ohne Smartphones früher auch so häufig Gedanken über unsere Aktivitäten gemacht haben, in einer Zeit als sie noch nicht mit Messages und Telefonaten Aufenthaltsorte und Aktivitäten Ihrer Kinder kontrollieren konnten.
Eltern zu ängstlich, Lehrer zu unfähig?
Es scheint, als hätte Medienkompetenz für Lembke nichts mit Werten zu tun. Eltern sollen bei ihm zwar das Digitale dosieren, erklären und Regeln aufstellen, seien aber oft zu bequem und zu ängstlich. Und Lehrer, die mit digitalen Hilfsmitteln ihren Unterricht gestalten wollen, nennen die Autoren in ihrer fiktiven Zukunftsvision – man blickt aus dem Jahre 2050 aufs heute zurück - zu „Nerds, die keinen geraden Satz über die Lippen brachten...unfähig, sich in die Schüler und ihre Nöte hineinzuversetzen.“ Warum? Welcher Dialog soll entstehen? Vielleicht sieht da einer den Wald vor lauter Bäumen nicht...