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Serie „Allein unter Vielen“Wie drei Frauen den Weg aus der Einsamkeit geschafft haben

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Einsamkeit ist mehr als ein verlassener Steg. 

Köln – Allein unter Vielen – immer mehr Menschen erleben sich so. Für den Gehirnforscher Manfred Spitzer ist Einsamkeit ein „Megatrend“, dem entgegengewirkt werden kann, wenn man sich sowohl das Gefühl als auch die Gesellschaft einmal genauer ansieht. Drei Frauen berichten von ihrer sozialen Isolation und beschreiben mögliche Exit-Strategien.

„Wie unter einer lähmenden Glocke"

„Die Roserl, die macht das schon“, hieß es früher, wann immer es was zu organisieren gab. Ausflüge, Feste. „Das Leben war bunt und in Bewegung“, erzählt die 68-Jährige. Heute fühlt sie sich an den meisten Tagen wie unter einer lähmenden Glocke. Nur Computerspiele scheinen sie da vorübergehend rausholen zu können, hinterher sind die Lethargie und die Antriebslosigkeit allerdings noch größer.

Als Rosemarie vor acht Jahren in den Ruhestand ging war sie voller Zuversicht. Die reine Erfüllung war die Arbeit im Möbelhaus gewesen, der Kontakt mit den unterschiedlichen Kundentypen, von behäbig über mäkelig bis begeisterungsfähig. „Ich kann gut mit Menschen“, sagt Rosemarie, „in der Beratung bin ich aufgegangen“.

Der Job und das Familienleben waren aber auch anstrengend gewesen. Zwei Söhne hatte Rosemarie nach dem frühen Tod des Mannes großgezogen, eine Kämpferin nennt sie sich. Das erste Jahr im Ruhestand fühlte sich gut an. Kein innerer Antreiber, keine fordernde Struktur. Ab dem zweiten Jahr aber begann genau das zu fehlen. Begannen Freundschaften zu bröckeln. Sie war von sich aus nicht mehr so aktiv. Traute sich weniger zu. Sie ging nicht mehr so selbstverständlich vor die Tür. Unternehmungen wurden weniger.

Ein gemeinsamer Job brachte Erleichterung

Wir müssen was tun, sagte ihr Partner, der jetzt selbst vor der Rente stand. Gemeinsam teilten sie sich nun einen Job als Briefzusteller. Das war ein Aufatmen. Der morgendliche Plausch am Gartenzaun, der selbstgebackene Hefezopf, den eine Bewohnerin ihr jede Woche mitgab - fünf Jahre dachte Rosemarie, sie hätte die Kurve gekriegt. Dann brach sie sich im letzten Jahr einen Brustwirbel. Konnte den schweren Wagen mit den Briefen nicht mehr schieben. Saß von jetzt auf gleich unter einer Glocke.

Abgeschottet fühlte sich auch Doris Teubner*. Seit der Trennung ihres Partners vor vier Jahren ist der inzwischen zehnjährige Sohn der 40-Jährigen alle zwei Wochen eine knappe Woche lang beim Papa. Tage, die sich dunkel und leer anfühlen, beschreibt Doris. Dabei sagt der Kopf, sie solle die Zeit nutzen, sich was Gutes zu tun. Dann aber steht sie an der Supermarktkasse, mit diesen Mikro-Mengen im Einkaufswagen und denkt daran, wie sie früher fürs Wochenende eingekauft hat. Und wie die Vorfreude auf die Zeit mit der Familie wuchs.

Nur schwer aus dem Bett kommt die im öffentlichen Dienst Angestellte an den Wochenenden ohne Kind. Viel vor dem Fernseher sitzt sie. Ist das nur Einsamkeit oder schon eine Depression, fragte sie sich. Zuletzt hat sie häufig Kopfweh und Neurodermitis-Schübe. Vor allem dann, wenn ihr Kind fehlt.

Einsamkeit als Gefahr für die Gesundheit

Dass Einsamkeit nicht nur seelisch leiden lässt, sondern auch körperlich krank machen kann, weiß man schon länger. Wie drastisch, das rückt aber erst seit Kurzem ins öffentliche Bewusstsein. Eine ganze Reihe von möglichen Leiden führt der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer in seinem Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“ an: Vom einfachen Schnupfen über Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall bis hin zu Krebs.

Spitzer fasst die aktuelle Studienlage zusammen – das Ergebnis könnte drastischer kaum sein. „Im Vergleich zu den Risikofaktoren Luftverschmutzung, Bewegungsmangel, mangelhafte Ernährung, Übergewicht oder Rauchen und starker Alkoholkonsum sind die negativen Auswirkungen der Einsamkeit größer“, erklärt der Wissenschaftler.

Schleichende Gefahr: Einsamkeit – die Fakten

• Laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum fühlt sich jeder Fünfte über 85 Jahren einsam. Bei Berufstätigen hat die Einsamkeit noch weniger Einfluss, unter den 45- bis 65-Jährigen ist jeder Siebte betroffen.• Zwischen den Geschlechtern besteht ein deutlicher Unterschied. Das zeigt eine Untersuchung der Universitätsmedizin Mainz. Dort heißt es: „Der höchste Anteil an Einsamkeit wurde bei den jüngsten Frauen in der Altersgruppe von 35 bis 44 Jahren (20,7%) festgestellt, während Männer tendenziell von einer erhöhten Einsamkeit im Bereich von 45 bis 54 Jahren (15,4%) berichteten.“• Einsamkeit kann gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Die Studie aus Mainz zeigt: Mehr als die Hälfte der einsamsten Teilnehmer waren depressiv und Suizidgedanken nahmen dramatisch zu.• Sozial isolierte Menschen haben zudem einen höheres Herzinfarkt- (42 %) und Schlaganfallrisiko (39 %) als sozial aktive Menschen, wie Forscher der Universität Helsinki in einer Metaanalyse herausfanden.• Insgesamt leben sozial aktive Menschen länger als zurückgezogene. Das ergab die Analyse von 140 Studien von Wissenschaftlern der Brigham Young University in Utah, USA.

Großbritannien bekämpft Einsamkeit mit politischen Mitteln

In Großbritannien reichen die neuen Erkenntnisse so weit, dass Theresa May eigens eine Staatssekretärin für Einsamkeit benannt hat. Im Oktober 2018 stellte die britische Premierministerin zudem eine Strategie vor, die das Problem der Vereinsamung in der Gesellschaft systematisch angehen soll. Ihr Ziel: Einsame Menschen vor Ort an Initiativen und Helfer zu vermitteln, die beim Aufbau neuer sozialer Kontakte helfen.

Um Einsamkeit zu verstehen, muss man wissen, woher das Gefühl des Alleine-Seins rührt. „Wer allein ist, reagiert besonders wachsam auf Umweltreize und nimmt diese auch eher als bedrohlich wahr“, konstatieren US-Forscher um den Einsamkeits-Experten John T. Cacioppo. Ein Automatismus, der schon beim Höhlenmenschen zum Schutz gegen den Abriss von Bindungen diente und in Zeiten zunehmender Vereinzelung offensichtlich fatale Folgen entwickelt.

Ohne soziales Netz steigt die Unsicherheit

Einsame sind im Taxieren ihrer Mitmenschen tendenziell misstrauisch, fühlen sich angreifbar und neigen dazu, neutrale Signale falsch zu deuten: Warum schaut der Kerl in der U-Bahn so komisch? Weil ich hässlich bin, wie Rosemarie in solchen Situationen reflexartig denkt.

Überlegungen, die bei jemandem, der sich gesellschaftlich eingebettet fühlt, auch vorkommen mögen, aber eher selten so groß werden – im Zweifel wären ja die anderen da, um das Ganze gerade zu rücken. Doch genau diesen Rückhalt scheint es immer weniger zu geben. Oft ist Rosemaries Partner der Einzige, den sie jetzt für Tage sieht.

„Menschen sind unter den Säugetieren eigentlich diejenige Art, die ganz besonders auf ein Leben in der Gemeinschaft ausgerichtet ist“, sagt Manfred Spitzer. Nicht ohne Grund bezeichnete schon Aristoteles den Menschen als „Zoon politikon“, als „Gemeinschaftstier“: Untersuchungen zufolge verbringen Menschen auch heute etwa 80 Prozent ihrer Wach-Zeit zusammen mit anderen. Vor diesem Hintergrund ist der Trend zum Leben als Singular seltsam, findet Spitzer.

Eins scheint vielen Einsamen gemein: Sie finden sich relativ überrascht in ihrer Situation, sei es durch Umzug, Ruhestand, Trennung oder auch den Tod des Partners. Alte Sicherheiten brechen weg, aufkommende Unsicherheiten federt keiner mehr ab. Dazu kommt nicht selten die verstörende Erkenntnis, dass Einsamkeit sich trotz Anwesenheit anderer einschleichen kann.

Auch Paare sind von Einsamkeit betroffen

Gemeinsam einsam? Ruth Kaiser* kennt das aus ihrer sieben Jahre dauernde Ex-Beziehung nur zu gut. Noch gut erinnert die 40-Jährige Abende, die sie zusammen mit dem Partner in einem Raum verbrachte, „körperlich anwesend“. Klar könnte man jetzt sagen, ein Stück weit ist das normal mit kleinen Kindern, sagt sie, aber da sei mehr gewesen als die übliche Erschöpfung junger Eltern. „Mein Ex ist Forstunternehmer, ich bin Autorin.“

Ruth glaubt, dass auch die doppelte Selbständigkeit den inneren Rückzug forciert hat. Oft redete er über Bäume, sie über mögliche Handlungsstränge für einen neuen Fantasy-Roman. „Das waren Parallel-Welten, in denen wir uns bewegt haben.“ Weit weg die Schnittmengen von einst: Religion, Politik, Sinn. Schnittmengen, die es nicht mehr gab, weil Interessen sich gewandelt hatten. Immer öfter hat Regina sich in ein anderes Zimmer verkrümelt. Um zu schreiben, mit Freundinnen zu telefonieren. Während nebenan gelesen oder gedaddelt wurde.

Sie weiß noch, wie unvollständig sie sich anfangs dabei gefühlt hat. Wie schmerzhaft sie den Rückzug erlebte, zu dem es gefühlt jedoch keine Alternative gab. Bis irgendetwas in ihr begann, sich neu auszurichten. Sie merkt: Ich muss was ändern. Ich selbst bin der springende Punkt. „Ich war nicht bereit, es mir wie so viele in einer schlechten Beziehung bequem zu machen?“ Zu zweit sein, aber im Grunde tief einsam – das war definitiv keine Option.

Einsamkeit als Weg zu sich selbst

Fast dankbar ist Ruth heute für knapp drei ziemlich trostlose Jahre, denn „sie haben mir einen Weg gezeigt.“ Noch gut erinnert sie sich, wie sie auf einmal keine Angst mehr vor dem Moment hatte, wenn die beiden Kinder abends im Bett waren. Im Gegenteil: Sie freute sich drauf. Darauf, sich als Serienjunkie die Augen quadratisch zu gucken oder mit Freundinnen Endlos-Telefonate zu führen etwa. Alles nichts Neues, früher aber hatte sie all das weniger bewusst getan. Beziehungsweise: Eher, um sich abzulenken. Nach einigen letzten Anläufen, die Beziehung zu retten, merkte Ruth: Es ist vorbei und das ist gut so.

„Einsamkeit führt dich entweder in die Verzweiflung oder zu dir selbst“, sagt die 40-Jährige. Aus der Dürre in die Fülle, aus der Einsamkeit ins als Kraftquell erlebte Tête-à-Tête mit den eigenen Talenten und Sehnsüchten. Einsamkeit ist ein Weckruf für Ruth.

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„Einsamkeit führt dich entweder in die Verzweiflung oder zu dir selbst“, Ruth, 40 Jahre alt. (Symbolfoto)

Sie begann nach der Trennung nicht nur mit dem Schreiben durchzustarten. Sondern sie baute sich auch in Eigenregie ein Haus und lernte zahlreiche andere „handwerklich total fitten Frauen“ kennen. Nicht ein einziges Mal, versichert Ruth, hat sie sich in den letzten vier Jahren ihres Single-Daseins einsam gefühlt. Von Freundinnen, die Mörtel anrühren und bis spät in die Nacht verputzen helfen, spricht sie. Aber neben tatkräftigen Händen sei da bei jeder auch ein Herz, das ehrlich bereit zu geben sei.

Ruth lernt, nicht zu hart zu sich selbst zu sein

Einen „Aha-Moment“ beschreibt Rosemarie, die inzwischen glaubt, dass ihr Zustand „ein Stück weit auch selbst gewählt“ ist: „Ich war ein paar Stunden in der Stadt unterwegs gewesen, einkaufen, eine Reparatur erledigen und seit langem mal wieder eine alte Bekannte treffen. Ich kam in meine Wohnung, stellte die Taschen ab, setzte mich auf die Couch und dachte: „Wow, ich fühl' mich ja wohl.“ Dieses Muster – aktiv gewesen zu sein und sich dafür die sogenannte wohlverdienten Auszeit zu genehmigen, das hätte sie wohl verinnerlicht, sagt Rosemarie selbstkritisch.

Und vielleicht sei das ja der Schlüssel, überlegt sie: Sich das, was unsere Leistungsgesellschaft ihrer Meinung nach so wenig fördert, zuzugestehen. Sich erlauben, ein Teil zu sein, auch ohne etwas Sinnvolles erledigt, eine Aufgabe zu Ende gebracht zu haben. Oder, wie es ihre beiden Söhne sagen: „Lass doch endlich mal los, Mama.“

„Einsamkeit ist wie ein Hunger“, erklärt eine Mitarbeiterin des US-Forschungsteams um John T. Cacioppo. „Ein Zeichen, dass ein Mangel besteht und man etwas gegen ihn unternehmen sollte.“ Theoretisch ist es einfach: Vereine, Clubs, Mehrgenerationenhäuser – Möglichkeiten gäbe es zu Genüge. „Geh doch…“, „mach doch…“ kaum ein Einsamer, der solche Ratschläge nicht kennt. Als zynisch könnten sie von Betroffenen empfunden werden, warnt Manfred Spitzer. „Meist sitzt das Problem jedoch tiefer und ist mit einem einfachen Ratschlag nicht behoben.“

Der Wunsch nach Gemeinschaft ist tief verwurzelt

Was also können Menschen, die sich einsam fühlen, tun? Egoismus macht nicht glücklich, fasst Spitzer Studienergebnisse zusammen. Im Gegenteil: Eine Untersuchung von Hirnaktivierungen bei Kindern unter zwei zeigte, dass sie mehr Freude daran hatten, wenn anderen Süßigkeiten gegeben wurden als ihnen selbst. Oder die belgischen Wissenschaftler, die in einer internationalen Studie den Zusammenhang von freiwilliger Hilfe und Gesundheit untersucht haben. Ergebnis: Freiwillige Helfer sind beziehungsweise erleben sich deutlich gesünder als Nicht-Helfer. Spitzer: „Wer einem Ehrenamt nachgeht, ist im Mittel so gesund wie jemand, der volle fünf Jahre jünger ist und kein Ehrenamt ausführt.“

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Für den Hirnforscher ist die Sache klar: Weil Menschen Gemeinschaftswesen sind, bereitet ihnen Einsamkeit, Stress und Gemeinschaft Freude. Daher führen entsprechende Handlungen, die auf mehr Gemeinschaft hinauslaufen, zu größerem Wohlbefinden. Selbstwirksamkeit ist das Schlagwort. Ich kann etwas tun. Für andere. Und irgendwie auch für mich dabei.

Das Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“

Es geht weder um Rezepte für Glück noch um die Herstellung von Gemeinschaft um jeden Preis, stellt Spitzer klar und schon gar nicht geht es um Helfen unter Druck, aus Hilflosigkeit. „Es geht aus meiner Sicht vielmehr darum, zu erkennen, wie tief der soziale Aspekt verwurzelt ist und wie wir es schaffen, zuweilen verschüttete kulturelle Praktiken wieder zum Leben zu erwecken.“ Geben, Helfen, Musizieren, Singen und Tanzen seien Teil jeder Kultur.

Rosemarie überlegt noch. Auf der Küchenablage liegt eine Telefonnummer: „Bürger helfen Bürger.“ Das klingt gut, findet sie. Das klingt gut, würde wohl auch Manfred Spitzer sagen, der überzeugt ist, dass Einsamkeit kein Schicksal ist, weder für den Einzelnen noch für unsere Gesellschaft. „Jeder einzelne kann sich mehr um andere kümmern, und unsere Gesellschaft kann dem mehr Raum geben und für eine „artgerechtere“ – gemeinschaftsorientiertere und damit menschlichere – Umgebung sorgen.“

*Name von der Redaktion geändert

Buchtipp: Manfred Spitzer: „Einsamkeit - die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich" Gebundenes Buch, 19,99 Euro

Dieser Artikel wurde von Focus-Online-Autorin Elisabeth Hussendörfer verfasst und ist Teil der Konstruktiv-Journalismus-Serie „Allein unter vielen“. Er erscheint auch auf anderen Titeln des Partner-Netzwerks Burda Forward.