„Sieht der komisch aus“Was Eltern ihren Kindern über Behinderungen beibringen sollten
Der Berliner Rául Krauthausen kümmert sich seit langem um die Belange von Menschen mit Behinderungen. Wegen einer Glasknochenkrankheit sitzt er selbst im Rollstuhl. Gerade der Umgang zwischen Nicht-Behinderten und Menschen mit Behinderungen liegt ihm am Herzen. Thomas Lemken vom Familien-Blog „Ich bin Dein Vater“ hat ihn gefragt, was Eltern ihren Kindern über Behinderungen beibringen sollten.
Als ich am Wochenende mit dem Kind im Supermarkt unterwegs war, begegneten wir einem zirka fünfjährigen Jungen, der im Rollstuhl saß. Mein Kopf fing sofort an zu „rattern“, was ich wohl am besten antworte, sollte meine Tochter mich fragen, warum der Junge nicht zu Fuß unterwegs ist oder warum seine Beine anders aussehen als ihre. Ich bemerkte, wie Unsicherheit in mir aufstieg und musste sofort an einen großartigen Text von Raúl Krauthausen denken. Uns stand der SOZIALHELDEN-Gründer netterweise für ein Interview rund um die Begegnung von Kindern und Menschen mit Behinderung zur Verfügung.
Raúl, wenn kleine Kinder auf Menschen mit Behinderung treffen, die anders aussehen oder die im Rollstuhl sitzen, nehmen sie – im Gegensatz zu vielen Erwachsenen – kein Blatt vor den Mund, sondern sprechen über ihre Verwunderung und Neugier. Hattest du schon einmal ein derartiges Erlebnis, das dir besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Raúl Krauthausen: Wenn ich unterwegs bin, dann falle ich auf. Dementsprechend gab es schon unterschiedlichste Situationen dieser Art. Dann höre ich Sachen wie „Guck mal, ein Baby-Mann!“ oder „Was ist das denn für ein Auto?“. Viel interessanter sind aber meist die Reaktionen der Eltern.
Was sollten Eltern denn machen, wenn ihr Kind sie in so einer Situation fragt, warum ihr Gegenüber so „komisch“ aussieht?
Krauthausen: Sie sollten ehrlich sein und so etwas sagen wie „Er sitzt im Rollstuhl, ich weiß nicht, was er hat“ und auf keinen Fall Erklärungen benutzen, die nicht der Wahrheit entsprechen.
Was hat das mit Ehrlichkeit zu tun?
Krauthausen: Damit meine ich, dass Eltern vor allem sich selbst gegenüber ehrlich sein sollten. Kinder merken, wenn Eltern unsicher werden und ich glaube, dass Eltern diese Unsicherheit dann auch artikulieren können. Wenn die Kinder fragen „Warum ist der Mann so klein?“ sollten Eltern nicht sagen „Das ist halt so“, sondern eher „Ich weiß es nicht, aber wenn du willst, können wir fragen“.
Anders herum gefragt: Was ist ein „No go“ in so einer Situation?
Krauthausen: Wenn Eltern anfangen, irgendwelche Lügengeschichten zu erzählen. Angefangen bei „Der hat seinen Teller nicht aufgegessen“ bis hin zu Verharmlosungen wie „Der hat ein schickes Auto“, wenn sie meinen Rollstuhl meinen. Ein Rollstuhl ist kein Auto und auch kein Kinderwagen; ein Rollstuhl ist ein Rollstuhl und ersetzt in der Regel die Beine. Und ich sitze auch nicht „leider“ im Rollstuhl, sondern damit ich vorwärts komme. Eine zweite Sache, die Eltern auf keinen Fall machen sollten: ihre Kinder für ihre Neugier bestrafen. Statt ihre eigene Angst auf die Kinder zu übertragen, sollten sie ihre Kinder die Welt entdecken lassen!
Ist es dir nicht unangenehm, wenn Kinder dich anstarren oder lauthals in deinem Beisein über deine Behinderung reden?
Krauthausen: Mir persönlich nicht, dabei kann ich aber nur für mich sprechen. Das hängt natürlich auch von der Situation ab und wie man es macht, aber grundsätzlich haben Kinder bei mir einen Freifahrtschein.
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Ich finde, dass Kinder auch ein Recht haben, zu erfahren, was los ist. Wenn man das einem 16-Jährigen allerdings erklärt wie einem Kind, gilt das eher nicht mehr. Ich glaube, irgendwann sollte man eine Behinderung begreifen wie eine Haarfarbe und nicht wie etwas Exotisches, Ansteckendes, Krankes.
Hand aufs Herz: Wer strengt dich in solchen Situationen mehr an – die Eltern oder die Kinder?
Krauthausen: Die Eltern! Erwachsene haben schon ganz vorgefertigte Bilder im Kopf, die selten der Wahrheit entsprechen: Behinderung wird in unserem Land ja immer als etwas gesehen, das negativ konnotiert ist – was mit Leid und Schmerz in Verbindung steht. Das findet man dann auch in solchen Aussagen wieder wie „an den Rollstuhl gefesselt“ oder „trotz seiner Behinderung macht er dies und jenes“.Dass wir aber in erster Linie ja auch einfach Menschen sind, geht gerade bei Erwachsenen sehr schnell verloren. Für Kinder ist es dagegen viel schneller Normalität als für Erwachsene.
Was ist in deinen Augen der Schlüssel zu einem unverkrampften Umgang mit Menschen mit Behinderung – für Kinder, aber auch für Erwachsene?
Krauthausen: Der Schlüssel ist die Begegnung an sich. Je mehr man einander begegnet, desto weniger Ängste hat man. Das findet in unserem Land leider viel zu selten statt und dadurch gibt es große Berührungsängste. Wir sollten da viel weniger theoretisieren und viel mehr machen und Begegnungen schaffen – für Eltern kann das beispielsweise heißen, sein Kind in einen inklusiven Kindergarten zu schicken. Da fängt nämlich die Begegnung an.
Das Interview erschien ursprünglich auf www.ichbindeinvater.de