Es heißt, Mütter sind nachsichtiger mit ihren Söhnen. Welche Rolle spielt das Geschlecht für die Eltern-Kind-Beziehung?
ErziehungGehen Mütter mit Söhnen anders um als mit Töchtern?
Jüngst bekam eine Studie aus dem Tierreich augenzwinkernde Aufmerksamkeit: Es ging um Orca-Söhne, die ihr Leben lang von ihren Müttern umsorgt werden. Bei dieser Nachricht dachten viele sicher sofort an menschliche Söhne, die lange im „Hotel Mama“ bleiben. Oft wird spekuliert, die Mutter wolle den Sohn bei sich halten oder der einfach nicht das Heim verlassen. Auch was Mütter und Töchter betrifft, gibt es viele Erzählungen: Sie seien wie engste Freundinnen oder die ärgsten Rivalinnen. Aber unterscheidet sich das Mutter-Sohn-Verhältnis wirklich so sehr von dem zwischen Müttern und Töchtern?
Das Kind als Individuum statt als Stammhalter
In wissenschaftlichen Studien und Analysen wird immer wieder versucht, sich dem komplexen Thema Geschlecht und Erziehung anzunähern. Dabei werden biologische, psychologische und kulturelle Faktoren unter die Lupe genommen. Angefangen im Babyalter. So ist etwa belegt, dass Söhne länger gestillt werden als Töchter. „Das liegt auch daran, dass Jungen biologisch gesehen in der Kindheit schwächer, anfälliger und häufiger krank sind als Mädchen – sie brauchen mehr Pflege und Aufmerksamkeit“, sagt Arzt und Psychologe Victor Chu. Laut einer Untersuchung der Universität Cambridge sind Jungen bereits im Bauch der Mutter „anspruchsvoller“, weil sie schneller wachsen und mehr Nährstoffe brauchen.
Aber gehen Mütter deshalb anders mit ihren kleinen Söhnen um und halten sie vielleicht sogar näher bei sich? „Im frühen Babyalter gehen Mütter mit Söhnen nicht anders um als mit Töchtern. Der Säugling ist einfach von der Mutter abhängig, zumindest wenn sie stillt“, sagt Familientherapeutin Christiane Jendrich. „Es wird vermutet, dass Mütter noch etwas mehr auf ihre Söhne achten“, widerspricht Victor Chu. Das habe mit soziokulturellen Mustern zu tun. „Trotz Fortschritte in der Emanzipation von Mann und Frau finden wir immer noch Spuren des patriarchalischen Systems, etwa in den unterschiedlichen Aufstiegschancen. Es wird noch lange dauern, bis Gleichwertigkeit hergestellt ist.“
„Dass der Junge ein wichtiger Stammhalter ist, mag in unserem epigenetischen Gedächtnis noch verankert sein“, sagt Christiane Jendrich, „aber es zeigt sich nicht in der Erziehung heutiger Eltern.“ Es gebe nur selten noch konservative Familien, in denen die Jungen anders bewertet würden als die Mädchen. „Im Gegenteil, ich beobachte eher, dass junge Eltern von heute die Persönlichkeitsentfaltung des individuellen Kindes in den Vordergrund stellen.“ Auch wie eng das Verhältnis von Mutter und Kind sei, hänge von vielen Faktoren ab und habe unter anderem mit dem Charakter des Kindes zu tun.
Mütter identifizieren sich mehr mit ihren Töchtern
Die Geschlechterdimension spiele aber dennoch eine Rolle im Mutter-Kind-Verhältnis. „Es gibt schon deshalb Unterschiede, weil eine Mutter nicht das gleiche Geschlecht hat wie der Sohn.“ Die Mutter wisse nur aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühle, ein Mädchen zu sein. „Bei einer Tochter kann sie ihre eigene Geschichte noch einmal ‚reinszenieren‘, also wieder aufrufen.“ Mütter identifizierten sich daher schneller mit ihren Töchtern. „Sie sehen sie auch als eine Art ‚Leidensgenossin‘ einer gemeinsamen Weiblichkeit.“ Das könne besondere Vertrautheit schaffen.
Die Welt des Sohnes sei der Mutter dagegen fremder, weil sie das Erleben eines Jungen selbst nicht kenne. „Aus dem Grund kann es vorkommen, dass Mütter den Jungen gegenüber auch nachsichtiger sind“, sagt Jendrich. Das gelte andersherum auch bei Vätern und Töchtern. „Mütter verlangen auch meist mehr von ihren Töchtern als von ihren Söhnen.“ Es gebe so eine Art stillschweigende Rollenerwartung an die Töchter. „Häufig sollen Töchter auch das erreichen, was die Mutter nicht konnte. Da gibt es viel Konfliktpotential.“ Denn oft seien sich Mutter und Tochter in der Realität gar nicht ähnlich. „Ich kenne viele Töchter, die auch im Alter noch um die Anerkennung ihrer Mütter kämpfen – so wie viele Söhne um die Bestätigung ihres Vaters.“
Veranstaltungstipp: „F wie Familie“: Mütter und Töchter — eine besondere Beziehung, am 28.3.2023, 19 Uhr, studio dumontVortrag von Dr. phil. Christiane Jendrich und Dr. med. Stefan Battel mit anschließender Diskussion.Tickets gibt es hier.
Der Einfluss der Mutter sei für beide Geschlechter groß. „Sie ist das Modell für Leben und Weiblichkeit, die erste Vertraute, das erste Vorbild. Und das auch für den Sohn – aber eben nicht, was seine Geschlechtlichkeit betrifft.“ Ein Kind bemerke diese Unterschiede im Geschlecht in der Regel im Alter von drei bis sechs Jahren, sagt Victor Chu. „Während Mädchen sich weiter mit der Mutter identifizieren, entfernen sich Jungen innerlich etwas von ihr, wenn sie merken, dass sie ein anderes Geschlecht haben.“ Dann sollte der Vater oder eine andere männliche Bezugsperson da sein. „Jungen richten sich oft nach ihrem Vater aus.“
Ob sich Mutter und Sohn in dieser Zeit gut voneinander lösen könnten, habe auch mit der Qualität der Elternbeziehung zu tun. „Verstehen sich die Eltern nicht, kann eine Rivalität entstehen. Dann kann es vorkommen, dass die Mutter den Sohn näher an sich bindet oder der Sohn den Vater weghalten möchte.“ Im Extremfall könne der Sohn zum Partnerersatz für die Mutter werden. „Dann handelt es sich um Parentifizierung, um emotionalen Missbrauch“, sagt Christiane Jendrich, „das hat aber nicht unbedingt etwas mit dem Geschlecht des Kindes zu tun.“
Buchtipp: Victor Chu: „Die Mutter im Leben eines Mannes – eine lebenslange Bindung“, Klett-Cotta Verlag, 294 Seiten, 25 Euro
Spätestens in der Pubertät zeigen sich dann die Unterschiede der Geschlechter wieder deutlicher. „Bei der Wandlung zur Frau ist das Mädchen ihrer Mutter näher“, sagt Christiane Jendrich. Söhne nabelten sich dagegen anders ab. Die Mutter bleibt aber auch dann eine wichtige Bezugsperson und Ansprechpartnerin für die Söhne. Nicht nur sind es vor allem die Mütter, die ihren Kindern emotionale und kommunikative Fähigkeiten vermitteln – gerade Söhne dürfen bei der Mutter auch in der Jugend jene Gefühle zeigen, die ihnen als „typischer Junge“ in einem von Rollenstereotypen geprägten Umfeld nicht immer erlaubt sind. Dieser Einfluss ist nicht zu unterschätzen. Laut Studie wirkt sich eine enge Mutter-Sohn-Bindung positiv auf die psychische Gesundheit und die Fähigkeit des Jungen aus, sich selbst zu regulieren. Jungen, die in der Kindheit eine unsichere Bindung zur Mutter haben, werden später dagegen eher verhaltensauffällig.
Was die Abnabelung von den Eltern im frühen Erwachsenenalter betrifft, scheint das Geschlecht auch eine zumindest kleine Rolle zu spielen. Denn erwiesenermaßen ziehen Söhne statistisch gesehen später aus als Töchter. „Mädchen wissen häufiger, wohin sie wollen und gehen direkt aus dem Haus, während Jungen das nicht wissen – auch weil männliche Rollenbilder diffuser geworden sind – und oft erst einmal zu Hause bleiben“, sagt Victor Chu. Das könne zu einem Teufelskreis werden. „Die Eltern machen sich Sorgen um den Jungen und halten ihn deshalb unbewusst länger fest, statt ihm einen leichten Fußtritt in die Selbständigkeit zu geben.“ Grundsätzlich falle es Eltern nicht so leicht, ihre Kinder loszulassen, bei Söhnen sei das aber noch stärker ausgeprägt.
Wie Jungen sich dann weiter entwickeln und wie abhängig Kinder von ihren Eltern werden, das hat viel mit der Situation in der Familie und dem Erziehungsstil zu tun. Wichtig ist, hier auch den Erziehungseinfluss der neuen Väter mitzudenken, die anders als früher heute nicht alles den Müttern überlassen, sondern eigene Verantwortung in der Erziehung übernehmen. Traditionelle Rollenbilder verblassen. Und gemeinsame, gleichberechtigtere Elternschaft verhindert auch eine allzu geschlechtsspezifische Behandlung von Kindern. Gleichwohl sehen Familien heute unterschiedlich aus. Manche bestehen nur aus einem Elternteil, in manchen gibt es zwei Mütter oder zwei Väter. Und obwohl es zweifellos Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, sind Geschlechtergrenzen heute fließender. Dadurch werden sich auch stereotype Mechanismen in Eltern-Kind-Beziehungen immer mehr auflösen.