Wieder angeschrienWarum es so schwer ist, gute Vorsätze in der Erziehung umzusetzen
- Eltern nehmen sich in der Erziehung viel vor und rasten in Alltagssituationen mit dem Kind doch wieder aus. Eine Expertin erklärt, warum so etwas geschieht – und wie es sich verhindern lässt.
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Heute sind viele Eltern Vollprofis in Erziehungsfragen. Bestens informiert und motiviert, wissen Mütter und Väter unglaublich viel über Pädagogik und haben einen hohen Anspruch an sich selbst und ihr Familienleben. Eigentlich müssten sie es voll im Griff haben mit den Kindern – zumindest rein theoretisch. Ganz praktisch aber passiert es ihnen im chaotischen Alltag mit Kids dennoch: Sie tun genau das, was sie nicht wollen. Sie schimpfen bei kleinsten Dingen, schreien ihre Kinder an oder verlieren wiederholt die Nerven – um sich danach schlecht zu fühlen. Warum ist es eigentlich so schwierig, genau so zu erziehen, wie man möchte?
„Ich beobachte zwei Gründe, warum Eltern immer wieder in Verhaltensmuster fallen, die sie nicht wollen“, sagt Nina C. Grimm, Autorin des Buches „Hätte, müsste, sollte“: „Oft passiert das in Situationen der Überforderung – also wenn Eltern müde, hungrig, erschöpft oder gestresst sind und über ihre Kapazitäten hinaus gehen.“ Zum anderen würden Eltern durch ein bestimmtes Verhalten ihres Kindes oft an wunden Stellen getroffen. „Sie werden durch ihr Kind getriggert.“ Dann verfielen Eltern plötzlich in alte Verhaltensmechanismen, die sie eigentlich total ablehnten.
Wut, weil nicht aufgeräumt wurde
Besser lässt sich das an einem Beispiel aus dem Elternalltag erklären. Das Kind bekommt den Auftrag, sein Zimmer aufzuräumen, aber tut es einfach nicht, selbst nach wiederholter Ermahnung. Das macht Mutter oder Vater extrem sauer, immer wieder. Aber warum? „Solch eine Situation löst beim Elternteil vielleicht das schlimme Gefühl aus, einfach nicht gehört und berücksichtigt zu werden“, erklärt Grimm, „oder die Ohnmacht, immer so viel zu geben und nie etwas dafür zurück zu bekommen“. Das seien häufig Emotionen und Verletzungen, die Erwachsene noch aus der eigenen Kindheit kennen würden und die dann wieder hochkämen. „Warum sie so getroffen sind, das ist ihnen oft gar nicht bewusst. Aber sie deckeln diesen Schmerz mit einer Schutzstrategie, und das ist meist Wut, Frust oder Rückzug.“
Problematisch sei es immer dann, wenn eine Reaktion rein objektiv nicht mehr in Relation zum Auslöser stehe. „Schäumt also eine Mutter vor Wut, weil das Kinderzimmer nicht aufgeräumt ist, steckt dahinter meist etwas, durch das sie getriggert wurde.“ Um solche Konfliktmomente anzugehen, müsse man herauszufinden, was genau einen an dieser Situation genau nerve oder störe. „Es lohnt sich, eine Woche in eine Selbstbeobachtung zu gehen und alle Situationen aufzuschreiben, in denen man schroffer geworden ist, als man eigentlich wollte. Und zu schauen: Gibt es da einen gemeinsamen Nenner?“ Dann verstehe man besser, wann man gefährdet sei und gehe bewusster in diese Momente hinein.
Eltern konzentrieren sich auf das, was schief läuft
Fast alle Menschen trügen diese alten Muster aus der Kindheit mit sich herum. Sie zu überwinden sei oft harte Arbeit. „Die Konflikte, die wir mit unseren Kindern haben sind aber eigentlich ein kostbares Geschenk, weil es den Finger so radikal in die Wunde legt, dass wir hinschauen und alte Muster überwinden müssen.“ Die allermeisten Eltern heute wollten die Fehler ihrer Eltern nicht wiederholen. Manche versuchten sogar, alte Wunden durch einen neuen Umgang mit den eigenen Kindern zu heilen. „Hat man als Kind nie genug Aufmerksamkeit bekommen hat, will man seinem Kind jetzt vielleicht erst recht bedingungslose Aufmerksamkeit schenken.“
Buchtipp: Nina C. Grimm, „Hätte, müsste, sollte – Bedürfnisorientierung im Familienalltag wirklich leben“, Kösel Verlag, 272 Seiten, 18 Euro
Gelingt es aber nicht, gute Erziehungsvorsätze auch anzuwenden, warten oft schon sprungbereit die Schuldgefühle. „Viele Eltern legen ihren Fokus darauf, was schlecht gelaufen ist, anstatt zu sehen, was sie alles an diesem Tag schon gut gemacht haben“, sagt Nina C. Grimm. „Wenn ihnen beim dritten Wutanfall des Kleinen die Geduldsschnur reißt, fühlen sie sich wie die schlechtesten Eltern der Welt, selbst wenn sie den Tag über bereits gearbeitet, eingekauft, gekocht, gespielt und die ersten beiden Wutanfälle liebevoll begleitet haben.“
Verrückte Lösungen, die zur eigenen Familie passen
Wenn es darum gehe, das eigene Erziehungsverhalten zu verändern, dürften Eltern auf keinen Fall verbissen rangehen, sondern sollten es lieber im Sinne eines Trainings in kleinen Schritten sehen. „Es geht darum, das ganze ‚ich hätte, müsste, sollte…!‘ auszublenden und stattdessen die eigene Präsenz als Eltern und den eigenen Weg zu finden. Meistens wissen die nämlich genau, was zu tun ist.“ Dazu gehöre auch, kreative oder verrückte Lösungen für die eigene Familie zu finden, die für sich selbst und den Charakter des Kindes viel passender seien als Lehrbuchstrategien. „Für mich persönlich funktioniert es zum Beispiel super, mich, wenn ich erschöpft bin, einfach zu meinen Kindern auf den Boden zu legen und eines meiner Lieblingslieder zu singen, um kurz aufzutanken. Oder bei Wut in einem lustigen Dialekt zu fluchen – ich kann es rauslassen und meine Kinder finden es witzig.“ Rauszukommen aus dem Erwachsenendenken und mehr in die kindliche Welt einzutauchen, aber auch Humor und Leichtigkeit könnten gute Wege sein, um Stressmomente abzuschwächen.
Grundsätzlich helfe es sehr, sich zu fragen, was einem wichtig ist in der Erziehung und sich der eigenen Werte bewusst zu werden. „Ich nenne sie Polarsterne“, sagt Erziehungsexpertin Grimm. „Wenn es mir zum Beispiel heilig ist, meinen Kindern Wertschätzung entgegen zu bringen, dann kann ich mich auch in Stressmomenten danach ausrichten.“ Auch innerhalb der Familie positive Ziele zu formulieren, könne ein guter Schritt sein, zum Beispiel die Morgenroutine entspannter schaffen oder abends eine gemeinsame Familienaktivität einführen zu wollen. Manchmal könne man auch simple Abläufe in der Tagesstruktur ändern, um Streitpunkte zu entschärfen – etwa die konfliktreiche Zahnputzroutine früher zu starten, solange die Eltern noch Kraft haben.
Alle Bedürfnisse in der Familie im Blick behalten
Um Situationen anders betrachten zu können sei es auch gut, die entwicklungspsychologischen Meilensteine eines Kindes zu kennen, sagt Grimm. Dass ein zweijähriges Kind in der Autonomiephase Wutanfälle bekomme oder ein Siebenjähriges eine starke Moral habe, sei normal. „Wenn man in Konfliktmomenten erkennt, welches Bedürfnis hinter dem Verhalten des Kindes steht, wird es leichter.“ Wolle das Kind morgens etwa partout nicht aus dem Haus und trödele ewig herum, dann stecke dahinter vielleicht einfach das Bedürfnis nach noch mehr Ruhe und Kuschelzeit. „Wenn Eltern das wissen, können sie dementsprechend Lösungen überlegen.“
Dabei müssten aber die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick behalten werden. „Und da nicht immer alle Bedürfnisse gleichzeitig berücksichtigt werden können, müssen wir priorisieren“, erklärt Grimm. „Wenn die Mutter morgens einen Termin hat, dann darf es durchaus an oberster Stelle stehen, pünktlich loszukommen, auch wenn die Kinder noch spielen und kuscheln wollen.“ Kindern sollte so etwas offen und authentisch kommuniziert werden. „Eltern können hier an die gegenseitige Rücksichtnahme und den Familiensinn appellieren und die Kinder aktiv um Mithilfe bitten."