Gewalt in der Erziehung„Selbst ein leichter Klaps ist für ein Kind purer Stress“
- Eine neue Studie hat ergeben, dass viele die körperliche Bestrafung von Kindern für angebracht halten. Erziehungsexpertin Nicola Schmidt erklärt, was das für Folgen hat.
Laut Unicef-Studie findet jeder zweite Deutsche einen Klaps in der Erziehung in Ordnung. Was sagen Sie als Erziehungsexpertin dazu?Nicola Schmidt: Ich muss sagen, es überrascht mich erst einmal nicht, dass viele dieser Meinung sind. Wenn man die Geschichte unseres Landes betrachtet und die lange herrschenden Erziehungsmethoden kennt, ist es verständlich, dass diese Falschinformation immer noch in den Köpfen steckt und verbreitet wird. Aus wissenschaftlicher, rechtlicher und moralischer Sicht ist es schlicht falsch, sein Kind körperlich anzugehen. Aber darüber hinaus ist es auch eine extrem ineffektive Erziehungsmethode.Das heißt, ein Klaps bringt gar nichts – oder wie meinen Sie das?
Ja. Mit einem Klaps oder eine Ohrfeige erreicht man nicht das erwünschte Ziel, nämlich brave, gehorsame und friedliche Kinder. Im Gegenteil.
Was macht es denn stattdessen mit einem Kind, wenn es so bestraft wird?
Ganz physiologisch betrachtet setzt selbst ein leichter Klaps ein Kind enorm unter Stress. Denn die Bindungsperson – der Mensch, dem das Kind am meisten vertraut und von dem es zu hundert Prozent abhängig ist – bedroht es und tut ihm weh.
Wenn ein Kind in einer Stresssituation ist, funktioniert sein Gehirn nicht mehr gut. Die Lernabteilung ist abgeschaltet. Das ist ja auch logisch, weil der Körper in einer Stresssituation eher rennen, kämpfen oder ducken als Priorität hat und nicht verstehen. Das bedeutet, das Kind lernt auf diese Weise gar nicht, wie es sich verhalten soll. Stattdessen frieren Kinder in solchen Momenten eher ein, weinen stark oder werden ganz ruhig. Weil sie weder flüchten noch gegen ihre Eltern kämpfen können.
Welche Folgen erkennt man am Verhalten des Kindes?
Das Problem ist, dass der durch die Gewalt erzeugte Stress wieder aus dem Kind raus muss. Viele Kinder fangen an, sich „schlecht zu benehmen“ und, das weiß man aus Studien, werden dann selbst aggressiv, um diesen Stress wieder loszuwerden, auch weil sie ja nichts anderes gelernt haben. Sie neigen dazu, sich schnell aufzuregen, schnell auszurasten und in Kita oder Schule durch aggressives, dysreguliertes Verhalten aufzufallen.
Kinder müssen grundsätzlich lernen, ihre Impulse in den Griff zu bekommen und ihre Emotionen zu regulieren. Um dadurch die Regeln achten und verinnerlichen zu können, die in einer Gesellschaft gelten. Wir wissen, dass Kinder von Eltern, die Klapse verteilen, viel schlechter lernen, sich zu regulieren. Das gilt auch bei psychischer Gewalt, also wenn Eltern Kinder wiederholt anschreien oder demütigen.
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Kann es zu ernsten Störungen führen, wenn ein Kind regelmäßig so angegangen wird?
Auf jeden Fall. Wir wissen, dass fortgesetzte Gewalt gegen Kinder zu vielen Arten psychischer Beeinträchtigungen, Verhaltensstörungen und körperlichen Schäden führen kann. Manche Kinder werden aggressiv. Andere Kinder leiden leise, entwickeln depressive Störungen und haben dann im Teenager-Alter ein höheres Risiko, an Essstörungen zu leiden oder sich selbst zu verletzen. Weil ihre Emotionsregulation gestört ist, sie nicht gelernt haben, wie man mit starken Gefühlen umgeht.
Oft heißt es besonders von der älteren Generation: „Wir wurden damals auch gehauen und es hat uns ja auch nicht geschadet.“ Was antworten Sie darauf?
Wenn man mit diesen Menschen mal länger spricht, und das tue ich oft, dann merkt man, dass sie in Wahrheit sogar sehr darunter gelitten haben, dass sie sehr tiefe Schmerzen in sich tragen. Auf die Aussage „mir hat es auch nicht geschadet“ reagiere ich deshalb nie mit Widerspruch und einer Diskussion, sondern mit Nachsicht und einer Umarmung. Das ist etwas, das wir als Gesellschaft lernen müssen: Die Weichheit und Wärme den Menschen gegenüber, die das erlebt haben. Zu sagen: „Ich sehe, wie sehr du gelitten hast!“
Aber laut Unicef-Studie befürworten gerade diejenigen, die als Kind körperlich bestraft wurden, auch heute eher Gewalt in der Erziehung. Ist das kein Widerspruch?
Dass genau diese Menschen, die es selbst erlebt haben, heute das Schlagen eines Kindes befürworten, kann ein Ausdruck davon sein, dass sie es nicht aushalten können, wenn ein anderes Kind nicht so leiden muss wie sie selbst es taten. Sie fragen sich, warum sie damals nicht so viel Verständnis gekriegt haben.
Vor allem aber vererben sich solche Verhaltensweisen, also das Bindungsmodell, das man selbst erfahren hat, häufig weiter. Aus „ich wurde geschlagen“ wird nicht immer, aber oft „jetzt schlage ich“. Und das ist auch erklärbar. Denn das nun erwachsene Kind hat ja immer noch nicht gelernt, wie es seine Emotionen reguliert. Wenn es dann selbst ein Kind hat, das schreit und tobt, dann weiß das nun erwachsene Kind nicht, wie es mit der Wut und dem Zorn, die in dieser Situation entstehen, umgehen kann. Und geht unter Umständen in die körperliche Aggression, die es vom Vorbild der eigenen Eltern gelernt hat.
Kann man sich denn nicht entscheiden, dem dann nicht nachzugeben?
Ja, man kann sagen „das mache ich nicht“. Aber allein das zu entscheiden fällt diesen Eltern oft unglaublich schwer, weil es so tief drin ist in ihrer Psyche. Sie merken, wie schwierig es ist, diese Gewalt nicht weiterzugeben. Wenn sie keine Hilfe kriegen, schlagen sie oft unter Stress trotzdem ihre Kinder und haben danach ein wahnsinnig schlechtes Gewissen.
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Wie lassen sich solche Verhaltensweisen durchbrechen?
Man kann das trainieren, zum Beispiel in einem Stressbewältigungsseminar oder in einer Verhaltenstherapie. Es fängt damit an, erst einmal wahrzunehmen, was in einem Stressmoment passiert: dass der Atem stockt, das Herz rast und der Körper wie bei einer Tigerattacke reagiert, obwohl nur ein frecher Vierjähriger vor einem steht. Es müssen dann neue Verhaltenstechniken bei Stress erlernt werden und eine neue Konfliktsprache – genau das, was dem Erwachsenen als Kind nicht beigebracht wurde.
Dass einen das Kind zur Weißglut treibt und ungeahnte Aggressionen aufkommen, das kennen aber doch fast alle Eltern, oder?
Ja, das ist ganz normal. Ganz viele Eltern berichten mir, dass sie oft kurz davor sind, auszuflippen. Wenn sie etwa trödelnde Kinder morgens rechtzeitig aus dem Haus bringen müssen und alles schief geht. Und kein Wunder, dass Eltern oft am Rande von allem sind, denn der Druck auf sie ist heute enorm. Und sie sind oft damit alleine.
Wenn man in der Wut kurz davor ist, das Kind zu packen oder schlagen – wie kann man den Moment entschärfen?
Wenn man kurz davor ist, zu explodieren, sollte man zunächst den Raum verlassen. Das Sicherste ist dann immer, weg vom Kind. Vielleicht etwas trinken, sich Wasser ins Gesicht spritzen, in ein Kissen schreien oder vielleicht jemanden anrufen, dem man vertraut. Das Adrenalin und der Druck müssen raus. Denn man hat in diesem Augenblick einen Tunnelblick, die Aggression ist auf das Kind als Gegner gerichtet. Und unter Stress, das haben Studien bewiesen, funktioniert die Feinmotorik nicht mehr. Der oder die Erwachsene fasst das Kind dann fester an, als gewollt. Also lieber den Dreijährigen brüllend stehen lassen, als den eigenen Stress an ihm auszulassen und ihn zu hart anzupacken.
Was sollte gesellschaftlich passieren, um noch mehr auf das Thema aufmerksam zu machen?
Wir sollten als Gesellschaft noch viel sichtbarer machen, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Warum gibt es dazu nicht einen Jahrestag und regelmäßig eine große Kampagne? Auch um aufzuzeigen, was alles zu Gewalt dazu zählt. Dass auch Sätze wie „Du lernst es nie!“ oder „Du bist genauso bescheuert wie deine Mutter!“ gewaltsame Erziehung ist. Solche alltäglichen psychischen Demütigungen sind weit verbreitet. Vielen Eltern ist das kaum bewusst und sie haben gar keine Alternativen dazu gelernt. Hier könnten kostenlose Seminare zur Konfliktlösung mit Kindern für Eltern und Erziehungspersonal enorm helfen.