Pädagogin prangert an„Kinder werden in Kitas gedemütigt und ausgegrenzt“
- Dr. Anke Elisabeth Ballmann behauptet in ihrem Buch „Seelenprügel“, dass Erzieher im Kindergarten oft psychische Gewalt anwenden. Dazu gehörten Demütigungen, Ausgrenzung und Anschreien.
- Es seien zwar Einzeltäter, aber in fast jeder Einrichtung gebe es solche „schwarzen Schafe“. Diese würden meist gedeckt.
- Im Interview spricht sie über die Gründe und erklärt, was Erzieher und Eltern tun können, damit es Kindern im Kindergarten gut geht.
Köln – Die Pädagogin und Psychologin Dr. Anke Elisabeth Ballmann hat das Buch „Seelenprügel. Was Kindern in Kitas wirklich passiert und was wir dagegen tun können“ geschrieben. Sie behauptet darin, dass die meisten Kinder in ihren ersten sechs Lebensjahren psychisch misshandelt werden. Dazu gehöre Anschreien, Ausgrenzen und Demütigen. Warum das so ist und wie man das ändern könnte, erklärt sie im Interview.
Frau Dr. Ballmann, in Ihrem Buch „Seelenprügel“ behaupten Sie, dass Kinder in vielen Kindergärten gedemütigt, ausgegrenzt und respektlos bis aggressiv behandelt würden. Wie kommen Sie darauf? Anke Ballmann: Seit 15 Jahren arbeite ich mit Erzieherinnen und in Kitas und habe mich 2007 mit dem Lernmeer-Institut fürkindgerechte Pädagogik selbstständig gemacht. Ich war in etwa 500 Kindergärten für Fortbildungen, Coachings und Prüfungen und habe in vielen Einrichtungen Übergriffe beobachtet. Gar nicht mal nur körperlich, sondern hauptsächlich psychisch. Da wurden Kinder angeschrien, zur Strafe vor die Tür gesetzt oder mit anderen Kindern verglichen. Sie wurden einfach in allen Varianten gedemütigt. Zudem habe ich im Rahmen von Fortbildungen mit rund 9000 Fachkräften gearbeitet. Früher oder später kommt man immer auf Themen wie Haltung, Bild vom Kind, Übergriffe, Konsequenzen und Sanktionen. Ich stelle dann immer dieselbe Frage: Es sollen sich diejenigen melden, die noch nie selbst Gewalt angewendet haben – auch psychische Gewalt– oder Gewaltanwendung an Kindern beobachtet haben. Es hat sich in all den Jahren noch nie jemand gemeldet. Das heißt für mich, jeder weiß, was passiert. Es wird nur geschwiegen.
Wo beginnt für Sie psychische Gewalt? Können Sie ein paar Beispiele nennen?Anke Ballmann: Wenn ein Kind gedemütigt wird, wenn ein Kind beschämt wird, wenn es sich anhören muss, dass es etwas nicht kann, Sprüche wie „Du kannst das nicht“, „Du bist zu dumm dafür“, „Aus dir wird nie etwas“, „Der Felix kann das viel besser als du“. Wenn Kinder isoliert werden, alleine im Flur sitzen müssen, wenn sie blamiert werden: „Hast du schon wieder in die Hose gemacht? Du bist doch schon so groß!“ – solche Geschichten sind für Kinder schlimm. Natürlich auch, wenn sie angeschrien werden. Auch da mache ich wieder einen Unterschied zwischen Eltern und Erziehern. Es geht nicht um Roboter, jeder vergreift sich mal im Ton. Es geht auch nicht darum, dass das gelegentlich mal passiert, sondern darum, dass es der Grundton viel zu vieler Menschen gegenüber Kindern ist – es ist ihre Haltung. Und ja, es gibt in vielen Einrichtungen einzelne Erzieherinnen, die nicht für diesen Beruf geeignet sind.
Wie waren bisher die Reaktionen auf Ihr Buch?Anke Ballmann: Die Reaktionen auf mein Buch bestätigen mir, dass ganz viel geschwiegen wird. Ich habe seit dem Erscheinen des Buches fast jeden Tag Post bekommen von Erziehern und Familien, die sagten: „Jetzt können wir endlich etwas sagen!“ Oder: „Ich habe etwas gesagt, und dann wurde mir gekündigt“. Es ist mir ein ganz großes Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass psychische Gewalt in Kitas existiert. Ich will nicht provozieren oder anklagen, sondern aufdecken. Ich möchte, dass sich für die Kinder und für die Erzieherinnen einiges verbessert.
Melden sich auch Erzieher bei Ihnen, die sagen, dass Ihre Aussagen nicht stimmen? Anke Ballmann: Ja, die melden sich sogar massiv, sie sagen, dass ich einen ganzen Berufsstand verunglimpfe, aber sie haben alle das Buch nicht gelesen, wie sie immer zugeben. Was soll ich da machen? Auf welcher Ebene soll ich da diskutieren?
Ihr Buch ist sehr aufwühlend. Die meisten Eltern geben ihr Kind sowieso schon mit einem schlechten Gefühl ab und sind ständig hin- und hergerissen zwischen Arbeit und Familie. Man möchte einfach glauben, dass es den Kindern im Kindergarten gut geht. Obwohl jeder weiß, dass die Erzieher einen harten Job haben. Anke Ballmann: Ja, den haben sie und sie haben sich dafür entschieden – es sind staatlich qualifizierte und gut ausgebildete Menschen. Ich vergleiche das immer mit einem Metzger oder Chirurgen: Wenn man kein Blut sehen kann, eignet sich keiner dieser Berufe. Das gehört zum Job. Zum Job einer Erzieherin gehört es, in stressigen Situationen die Nerven zu behalten und würdevoll mit Kindern umzugehen. Für Eltern ist es ganz grausam, wenn sie sich nicht sicher sein können, dass es ihrem Kind gut geht. Genau deshalb habe ich das Buch geschrieben. Ich will, dass Eltern ihre Kinder entspannter in Kitas bringen können. Da muss man unbedingt auch an den Rahmenbedingungen ganz viel ändern, damit Erzieher diesem unglaublichen Druck nicht mehr ausgesetzt sind. Wir brauchen mehr Fachkräfte, das ist allen klar. Und ja, die jetzigen Rahmenbedingungen unterstützen, dass Menschen schneller übergriffig werden, weil sie einfach so sehr unter Druck stehen.
Wie muss man sich diese Übergriffe vorstellen: Die Eltern geben das Kind ab und dann fallen die Masken?Anke Ballmann: Bei manchen ja, es sind Einzeltäter, die aber in viel zu vielen Einrichtungen vorkommen. Es gibt natürlich unglaublich viele Erzieher, die trotz extremer Belastungen jeden Tag spitzenmäßige Arbeit leisten, alles für die Kinder geben und weit über ihre Belastungsgrenzen gehen. Das sind die meisten. Mir geht es um die, die grausam zu Kindern sind, die „faulen Äpfel“ im Obstkorb. Sie weisen oft eine spezielle Persönlichkeit auf, sie geben oft Grausamkeiten weiter, die sie selbst erlebt haben – sie arbeiten vollkommen unreflektiert.
In Ihrem Buch ist das die Erzieherin Maria. Sie ist den ganzen Tag von allem genervt, was die Kinder tun und möchte einfach nur, dass sie funktionieren. Anke Ballmann: Genau, um die geht es mir. Ich möchte kein Erzieher-Bashing betreiben. Aber schwarze Schafe gibt es in fast jeder Einrichtung, und die schaden nicht nur den Kindern, sondern auch dem Team. Ich bekomme sehr oft die Rückmeldung, dass es oft einfacher ist, mit weniger guten Menschen zu arbeiten als mit vielen, bei denen ein Störenfried dabei ist.
Was sollen die anderen Erzieher tun, wenn sie so jemandem im Team haben?Anke Ballmann: Nicht mehr schweigen. Es ist ganz oft so, dass die Menschen loyal sein und sich nicht gegenseitig verraten wollen. Klar, es sind Teammitglieder. Gerade Frauen wollen oft lieber Frieden haben und sind zuweilen konfliktscheu. Ich denke, dass durch das Buch jetzt Menschen ihr Schweigen brechen und sagen: „Ich sehe das schon die ganze Zeit, habe mich aber nicht getraut, etwas zu sagen, weil ja oft nichts passiert.“ In Einrichtungen sollte es so etwas wie Selbstverpflichtungserklärungen und Schutzkonzepte geben, weil man dann auch arbeitsrechtlich viel mehr in der Hand hat.
Wo sollen die Erzieher hingehen, wenn sie nicht mehr schweigen wollen? Anke Ballmann: Der erste Schritt ist, mit der betreffenden Kollegin selbst zu sprechen, weil vielen gar nicht bewusst ist, was sie machen. Wenn sich nichts ändert, sind die nächsten Schritte die Kita-Leitung, der Kita-Träger und dann die Aufsichtsbehörde.
Das könnte Sie auch interessieren:
Letztendlich ist der Tag in der Kita für die Eltern eine Blackbox. Man bringt die Kinder morgens hin und holt sie nachmittags ab. Was dazwischen passiert, weiß man nicht. Was können Eltern tun, wenn sie merken, dass in der Kita psychischer Druck ausgeübt wird?Anke Ballmann: Auch Eltern sollten unbedingt zuerst die betreffende Erzieherin ansprechen und dann Leitung und Träger. Es ist ganz wichtig, dass Eltern nicht gleich mit Vorwürfen auf die Erzieherin losgehen, sondern sagen, was ihnen aufgefallen ist und, dass sie diesen Umgangston oder diese Bestrafungen nicht tolerieren. Eltern können auch Unterstützung anbieten und fragen, was sie selbst tun können, damit es leichter ist. Eltern machen zum Beispiel oft den Fehler, dass sie ihre Kinder krank in die Kita bringen. Viele haben auch gar keine andere Wahl, weil ihr Arbeitgeber sonst Probleme macht, wenn sie nicht arbeiten gehen. Da muss sich auch unbedingt gesellschaftlich etwas ändern, damit kranke Kinder zuhause bleiben können, ohne dass es für Eltern zum Problem wird. Wenn Kinder krank in die Kita gehen, sind die Arbeitsbedingungen für die Erzieher noch schwieriger.
Was muss in Ihren Augen am dringendsten geschehen?Anke Ballmann: Ganz wichtig ist mir, dass die großartige Leistung der meisten Erzieher Anerkennung findet. Und zwar nicht nur, indem an Weihnachten eine Schachtel „Merci“ über den Tisch geschoben wird. Anerkennung zeigt man zum Beispiel dadurch, dass Kinder nicht krank kommen und pünktlich abgeholt werden. Jedes Geschäft hat Öffnungszeiten, Kitas haben das auch. Es hat mit Respekt und Wertschätzung zu tun, ob ich ein Kind pünktlich bringe und pünktlich abhole.
Abgesehen von den Rahmenbedingungen und dem, was Eltern tun können, können die schwarzen Schafe vielleicht auch selbst etwas tun? Sie schreiben, das habe auch viel mit Reflexion zu tun. Sollte man ihnen Supervision oder psychologische Hilfe anbieten? Anke Ballmann: Unbedingt. Das würde schon ganz viel helfen. Supervision sollte es nicht erst dann geben, wenn ein Team total zerstritten ist. Im Prinzip braucht jedes Team eine dauerhafte Supervision und die Möglichkeit, dass sich auch einzelne Menschen Rat holen können. Am liebsten wären mir Einzel- und Teamcoachings.
Wird so ein Service denn in Kitas überhaupt angeboten? Dafür ist doch sicher auch wieder kein Geld da. Anke Ballmann: Es gibt Träger, die machen regelmäßig Team-Supervision. Einzel-Supervision kenne ich nur in Ausnahmefällen, höchstens für Leitungen. Das ist eine Kostenfrage. Aber genau dafür sollte man Geld verwenden. Den Menschen, die in den Kitas arbeiten, muss es richtig gut gehen. Wenn es ihnen gut geht, geht es den Kindern gut. So einfach ist es.
Was müsste man in einer idealen Welt tun, damit es allen gut geht?Anke Ballmann: Wir müssen insgesamt mehr Geld in Kinder investieren. Nicht nur in den Ausbau von Kitas, sondern viel mehr in die Qualität. Außerdem müssen Arbeitgeber viel flexiblere Arbeitszeiten für Familien anbieten, auch für die Männer. Ideal fände ich, wenn Kitas wirklich Familien ergänzen würden und wie ein zweites Zuhause für das Kind wären. Ideal wäre auch, wenn sowohl bei den Erziehern als auch bei den Eltern ganz viel Vertrauen da wäre, dass der Andere es jeweils richtig macht. Das hat was mit Wertschätzung, Offenheit und Anerkennung zu tun, mit einem respektvollen Umgang. Dazu müssen beide Seiten wissen, was sie jeweils voneinander erwarten.
Also sollten sich auch die Eltern anders verhalten? Anke Ballmann: Die Lösungsansätze sind ganz vielfältig. Mit geht es mit dem Buch in erster Linie darum, dass Fehlverhalten gegenüber den Kindern ein Thema sein darf. Es ist ja da. Das sind auch meine Rückmeldungen: Es weiß ja fast jeder. Ich habe nichts Neues entdeckt, sondern es nur benannt. Ich hatte jetzt einfach den Mut, es zu sagen und den Kopf hinzuhalten. Wenn es nicht mehr verschwiegen wird, kann man endlich daran arbeiten. Das ist ja das Beste, was jetzt passieren kann.
Das Buch: Dr. Anke Elisabeth Ballmann: „Seelenprügel. Was Kindern in Kitas wirklich passiert und was wir dagegen tun können“, Kösel Verlag, 20 Euro.
Zum Weiterlesen, vor allem für Fachkräfte: Jörg Maywald: „Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Die Kita als sicherer Ort für Kinder“, Herder Verlag, 20 Euro.