In unserer Serie „Wie es ist“ erzählen Menschen aus ihrem Leben, von ihrem Hobby oder einem ungewöhnlichen Beruf. In dieser Folge: Ute Clevers, Flughafenseelsorgerin.
Wie es ist: Flughafenseelsorgerin „Kümmern uns auch um Mitarbeiter, die angespuckt und verprügelt wurden“
„Mein allererster Notfall hier am Flughafen Düsseldorf lässt mich bis heute nicht los. Damals ist auf einem Flug aus der Karibik eine Frau verstorben. Und ich musste mich nach der Landung um den Witwer kümmern. Ich weiß noch, er saß vor mir und stand komplett unter Schock. Ich war für ihn da und habe schließlich organisiert, dass er heil nach Hause kommt und dort gut versorgt ist. In diesem Rahmen musste ich zwangsläufig die Todesnachricht an Verwandte überbringen. Das war wirklich sehr schwer. Solche schlimmen Fälle sind aber Gott sei Dank die Seltenheit.
„Wir sind die Kirche im Flughafendorf“
Als Seelsorger müssen wir aber stets auf vieles gefasst sein, schließlich verkehren hier am Tag rund 100.000 Reisende, dazu kommen etwa 15.000 Mitarbeitende, 5000 Besucher und circa 50 Menschen, die hier am Flughafen ihren Lebensmittelpunkt haben. Unser Schalter mit der blauen Leuchtschrift ist mittendrin am Terminal A. Die Menschen können jederzeit zu uns kommen und finden ein freundliches Gesicht und jemanden, der Zeit zum Zuhören hat. Wir sind quasi die Kirche im Flughafendorf.
Und das auch im wahrsten Sinne des Wortes: Unsere Seelsorge ist eine gemeinsame Institution der evangelischen und katholischen Stadtkirche. Wir sind kirchliche Mitarbeiter, mein Kollege Johannes Westerdick ist Pastoralreferent, ich bin evangelische Sozialpädagogin mit Verkündigungsbefähigung. Auch unsere 40 Ehrenamtlichen – darunter Studenten, Berufstätige und viele Rentner – sind entweder Mitglied einer Kirche oder haben eine Verbindung zu Gott. Unsere Bundesfreiwilligendienstleistende ist zum Beispiel gläubige Muslima.
Die Menschen können mit religiösen Fragen zu uns kommen, mit uns beten oder sich segnen lassen. Wir verteilen auch gerne Segenskarten, um Reisende kurz aus dem Flughafentrubel herauszuholen und neue Anstöße zu geben. In unserer Seelsorge gibt es aber Raum für alle Themen und Fragen. Statt einer Kapelle mit religiösen Symbolen gibt es am Flughafen einen Gedenkraum, der ursprünglich zur Erinnerung an die Opfer des großen Brandes von 1996 entstanden ist und nun allen Besuchern offen steht. Passagiere, die besonders unter Stress stehen, nehmen wir auch mit hierher in unsere Räumlichkeiten, damit sie zur Ruhe kommen und ihren nächsten Schritt planen können.
Hilfe für überforderte Fluggäste
Die Motive, warum Menschen unsere Hilfe suchen, sind ganz verschieden. Anders als oft vermutet, geht es selten um Dinge wie Flugangst oder Abschiedsschmerz. Manche suchen schlicht Orientierungshilfe, sie fragen, wo die Toilette ist oder wie der Check-in abläuft. Viele Reisende sind auch überfordert, weil etwas im Flugverkehr nicht funktioniert. Vor Weihnachten hatten wir hier zum Beispiel eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, die final in ihr Heimatland zurückkehren wollte. Wegen eines kaputten Koffers hat sie aber ihren Flug verpasst. Da stand sie also mit unglaublich viel Gepäck und den Töchtern und wusste nicht weiter. In solchen Fällen werden wir auch konkret zum Sozialdienst. Wir halfen ihr dabei, einen neuen bezahlbaren Flug und einen Platz für die Nacht zu organisieren. So etwas passiert natürlich immer in Zusammenarbeit mit anderen Stellen des Flughafens. In dem Fall hat der Rollstuhlservice beim Transport des Gepäcks geholfen, ein Restaurant hat nach Ladenschluss eine Ecke freigeräumt und Decken gebracht, damit sie dort übernachten konnten. Am nächsten Tag haben wir die drei begleitet, bis sie im Flugzeug saßen.
Immer wieder unterstützen wir auch Flüchtende, die aus anderen europäischen Ländern zu uns kommen oder begleiten Menschen, die die freiwillige Rückreise in ihre Herkunftsländer antreten. Außerdem betreuen wir Mitreisende und Wartende, wenn es zu Notfällen rund um den Flugverkehr gekommen ist. Vor einiger Zeit zum Beispiel platzten bei einer Maschine aus dem Iran bei der Landung alle Reifen. Der Pilot hat toll reagiert und alles ist gut gegangen, doch es hat ewig gedauert, bis die Fluggäste aus der Maschine aussteigen konnten. Da haben wir gemeinsam mit Dolmetschern die wartenden Angehörigen informiert, beruhigt und versorgt.
Unterstützung für belästigte Mitarbeitende
Im letzten Sommer war die Situation wegen der vielen Flugausfälle so angespannt, dass es zu körperlichen Angriffen kam. An unserem Nachbarschalter wurden Mitarbeiter angespuckt, verprügelt oder verfolgt. In solchen Fällen sprechen wir mit den Betroffenen oder treten während eines Streits zwischen Personal und Fluggästen als Mediatoren auf. Ich habe den Eindruck, es kommt immer häufiger zu solchen Konflikten, auch weil die Menschen wegen der Dauerkrise schneller in die Luft gehen. Mit Blick auf die kommende Reisesaison bieten wir gerade Deeskalationstrainings und Schulungen für die Mitarbeitenden an.
Aber auch an jedem „normalen“ Tag gibt es immer Menschen, die Hilfe oder ein offenes Ohr gebrauchen können. Deshalb sind wir Seelsorger ständig im Flughafengebäude unterwegs. Ich gehe dann extra langsam und bleibe immer wieder stehen, um die anderen Menschen genau zu beobachten. Wenn ich den Eindruck habe, etwas ist nicht in Ordnung, dann gehe ich auf die Leute zu und komme mit ihnen ins Gespräch. Das können Fluggäste sein, die während des Wartens nervös oder unruhig sind. Oft sind es auch Menschen, die den ganzen Tag hier verbringen. Sie sind daran zu erkennen, dass sie nicht in Bewegung sind, während alle um sie herum ein Ziel und eine Aufgabe verfolgen.
Von alltäglichen Fragen bis zu tiefgründigen Gesprächen
Vor allem aber sind wir tagtäglich Ansprechpartner für die Mitarbeitenden. Die meisten kennen uns, manche kommen auf einen Kaffee vorbei und suchen direkt Hilfe. Aber wir gehen auch zu ihnen an ihre Arbeitsplätze und fragen, wie es ihnen geht. Das ist für jemanden, der den ganzen Tag in einem Laden steht, eine schöne Abwechslung. Oft sind wir die zehn Minuten am Tag, in denen jemand wirklich gesehen wird. Häufig entwickeln sich aus Gesprächen über alltägliche Dinge auch tiefgründigere Unterhaltungen. Letztens hatte ich wiederholt mit einem Mitarbeiter über Rezepte gesprochen und irgendwann erzählte er mir auf einmal, wie sehr ihn die schwere Krankheit seiner Frau belastet. Plötzlich steht man mitten im Flughafen-Gewusel und spricht über ganz private Dinge. Das genau ist unser Alltag: In solch einem Moment da zu sein, in dem der andere gerade erzählen möchte.
Solche Augenblicke richten sich natürlich nicht immer nach unseren Öffnungszeiten. Wir haben deshalb 24 Stunden an sieben Tagen die Woche Bereitschaft, unsere Festnetznummer wird auf den Monitoren an den Gepäckbändern eingeblendet. Und ich nehme mir die Zeit, die im individuellen Fall nötig ist. Manchmal werde ich auch mitten in der Nacht angerufen – oft aus profanen Gründen, etwa weil ein Koffer nicht da ist. Manche melden sich aber auch wie bei der Telefonseelsorge und erzählen, was sie belastet.
Menschen beistehen, wenn auch nur für kurze Zeit
Manchmal kann ich den Menschen nicht wirklich helfen. Solche Situationen müssen wir auch auszuhalten. Neulich kam eine Frau zu uns, die verwirrt war und ganz viele Geschichten erzählt hat. Wir wussten bis zum Schluss nicht, was wir für sie tun konnten. Doch wir waren da und haben zugehört. Das können wir in dem Moment geben und beeinflussen. Zeigt sich größerer Hilfsbedarf, versuchen wir selbstverständlich, Lösungen zu suchen und die Menschen gegebenenfalls an entsprechenden Hilfsorganisationen oder Institutionen weiter zu vermitteln. Wenn sie aber aus dem Flughafen raus sind, ist unsere Zuständigkeit beendet. Wir müssen sie wieder loslassen. Ich frage mich natürlich oft, was aus ihnen geworden ist. Das erfahren wir aber nur selten.
Doch auch wenn der Kontakt zu vielen nicht lange dauert, empfinde ich es als wahnsinniges Geschenk, jeden Tag so viele neue Menschen kennenzulernen. Sie vertrauen mir und erzählen von ihren Freuden, ihrer Angst und ihrer Trauer, was sie erlebt haben und wo sie hin wollen. Es gibt für mich wirklich nichts Spannenderes.“Das Protokoll aufgezeichnet hat Isabell Wohlfarth.
Haben Sie auch etwas absolut Außergewöhnliches zu erzählen? Ein Hobby, das sonst keiner hat? Etwas, auf das Sie jeden Tag angesprochen werden oder etwas, das Ihr Leben auf den Kopf gestellt hat? Dann schreiben Sie uns mit dem Betreff „Wie es ist“ eine E-Mail an leserforum@kstamedien.de.