ExpertentippsWie schützt man Kinder vor Fremden und wie groß ist die Gefahr wirklich?
Köln – Ein Fremder spricht ein Kind aus dem Auto heraus an. Eine Unbekannte lockt auf dem Schulweg mit Süßigkeiten. Jemand springt aus dem Gebüsch und nimmt ein Kind einfach mit. Eltern haben nicht selten Horrorbilder im Kopf, wenn ihr Nachwuchs alleine unterwegs ist. Schließlich gibt es Fälle, in denen all das passierte. Doch wie wahrscheinlich ist das eigentlich? Und wie bereitet man Kinder ohne Angst darauf vor, sich sicher draußen zu bewegen? Ein Polizeihauptkommissar und eine Gewaltpräventionstrainerin teilen Erfahrungen und geben Tipps.
Es ist so eine Sache mit elterlicher Sorge – sie gehört in gesundem Maße dazu und kann Kinder durchaus schützen. Wird sie aber zu groß, richtet sie unter Umständen Schaden an. Dann nämlich, wenn Kinder sich nichts mehr trauen. Oder grundsätzlich alle verdächtigt werden. Mit der elterlichen Angst vor dem „gefährlichen Fremden“ sollte also sorgsam umgegangen werden. Wie berechtigt diese Furcht ist, dem kann man sich tatsächlich nur annähern. Dabei hilft zunächst der Blick auf die Zahl der Straftaten, die in Köln zuletzt von Fremden an Kindern begangen worden sind.
Kindesentführung und Gewalt: Die meisten Täter kommen aus der Familie
„Die Angst, dass ein Fremder ein Kind entführt, ist statistisch gesehen fast unbegründet“, sagt Polizeihauptkommissar Christoph Gilles von der Polizei Köln. In den letzten fünf Jahren habe es in Köln rund 200 angezeigte Straftaten im Bereich der Kindesentführung gegeben. Bis auf fünf Fälle seien die Tatverdächtigen aber Angehörige gewesen. „Fast immer, wenn Kinder verschwinden oder entführt werden, kommen die Tatverdächtigen aus der Familie.“
Auch was körperliche Angriffe betreffe, sei die Familie oft Ort der Gewalt. „Etwa 4.500 Kinder sind in den letzten fünfeinhalb Jahren Opfer von Körperverletzung geworden, über die Hälfte davon im engsten sozialen Umfeld.“ Rund 2.000 Kinder seien dagegen von unbekannten Tatverdächtigen, auch anderen Kindern und Jugendlichen, körperlich angegriffen und in manchen Fällen verletzt worden.
Hatte der Fremde kriminelle Absichten oder wollte er nur nach dem Weg fragen?
Wie oft Kinder von fremden Erwachsenen angesprochen werden, das ist dagegen nicht so leicht zu erfassen. „Wir haben keine belastbaren Zahlen dazu und können keine statistische Wahrscheinlichkeit eröffnen“, erklärt Gilles, „zum einen werden solche Fälle bei uns selten angezeigt, zum anderen lässt sich in der überwiegenden Zahl der Fälle kein Tatverdacht begründen.“ Es werde in jedem Fall eine Ermittlung eingeleitet, ob aber bei Verdächtigen eine kriminelle Absicht dahinter stecke, lasse sich meist nicht belegen. „Es kann genau so sein, dass jemand einfach nur nach dem Weg fragen wollte. Das an sich ist natürlich kein Verstoß.“
Falschmeldungen über Täter führen zu viel Hysterie im Netz
Trotz der recht niedrigen Ermittlungs- und Fallzahlen sollten Eltern umsichtig ihrer Fürsorgepflicht gerecht werden und die Augen aufhalten. „Natürlich lässt sich niemals ausschließen, dass auch mal ein Fremder mit böser Absicht dabei ist“, so Gilles. „Aber es gibt keinen Grund für Eltern, in Panik zu verfallen.“ Genau jene Hysterie führe jedoch oft dazu, dass im Netz Falschmeldungen über unbekannte Täter kursierten. „Das wird dann völlig unreflektiert geteilt und schürt nur noch mehr Panik.“ Beobachtungen dieser Art sollten lieber direkt bei der Polizei gemeldet werden.
Nicht immer stecke dann auch wirklich etwas dahinter. Gerade nach bekannten Straftaten an Kindern stiegen solche Meldungen sprunghaft an, stellten sich nachträglich aber oft als falsch heraus. „Es kommt vor, dass Kinder solche Vorfälle erfinden“, berichtet Christoph Gilles, „weil sie sehen, dass man dadurch Aufmerksamkeit bekommt.“ Über die Tragweite seien sich junge Menschen natürlich nicht im Klaren. „Eltern sollten ihre Kinder trotzdem immer ernst nehmen und uns im Zweifel dennoch informieren.“
„Ein Kind braucht Selbstbewusstsein, um in schwierigen Situationen Nein zu sagen“
Mit Kindern im Gespräch zu bleiben, das sei grundsätzlich wichtig. Eltern sollten klare, einfache Verhaltensregeln für draußen festlegen und mit ihrem Kind besprechen, warum bei der Begegnung mit Fremden Vorsicht gilt. „Natürlich sollten sie nicht das Schlimmste ausmalen“, sagt Gewaltpräventionstrainerin Conny Selbach vom Netzwerk-Rheinland, „älteren Kindern darf man aber schon erzählen, dass es manche Menschen nicht unbedingt gut meinen.“ Eltern wüssten, was sie ihrem Kind hier zumuten könnten.
„Das allerwichtigste aber ist, Kinder zu einem selbstbewussten Umgang zu erziehen, damit sie im Zweifelsfall gut reagieren können“, betont Christoph Gilles. „Der sicherste Schutz ist dabei, den Kindern beizubringen, dass sie Nein sagen dürfen“, sagt Conny Selbach. Schon in jungem Alter sollten sie lernen, dass ihr Körper ihnen gehöre. „Ein Kind darf verweigern, geküsst oder umarmt zu werden, selbst wenn es die Oma ist“, erklärt sie. „Über sich selbst bestimmen zu können, macht ein Kind stärker. Und dieses Selbstbewusstsein braucht es, um auch in schwierigen Situationen Nein sagen können.“ Auf der anderen Seite sollten Eltern die Berührung anderer Menschen nicht als Selbstverständlichkeit darstellen, sagt Polizeihauptkommissar Gilles. „Erwachsene sollten auch nicht fremden Kindern über den Kopf streicheln.“
Kein Kind muss zu einem fremden Erwachsenen höflich sein
Vielen Kindern falle es besonders schwer, zu Erwachsenen Nein zu sagen, weil die eine Autoritätsperson darstellten. „Diese Höflichkeitserziehung nach dem Motto ‚du antwortest, wenn du gefragt wirst‘ steckt teilweise noch tief in den Kindern drin“, sagt Conny Selbach. Und so reagierten die naturgemäß auch darauf, wenn ein Erwachsener sie auf dem Weg um Hilfe frage. „Wir machen den Kindern klar: Sie müssen nicht höflich sein zu fremden Erwachsenen und auch keine Hilfe anbieten.“ Stattdessen sollten sie einfach weitergehen. „Sind Kinder selbstbewusst erzogen, haben sie dann auch kein Problem, einen Erwachsenen zu ignorieren“, sagt Christoph Gilles.
Kinder lernen, eigene Grenzen zu setzen und falsche Gefühle zu erkennen
Wie man selbstbewusst handeln kann, das übt Conny Selbach in Kursen wie „Mut tut gut“ und „Prima Klima“ regelmäßig mit Grundschulkindern. „In Spielen probieren wir mit ihnen aus, wie sie ihre Grenzen ziehen und die anderer erkennen“, berichtet sie, „zum Beispiel vermitteln wir, dass jeder Mensch eine Seifenblase als Schutzraum um sich herum hat, die kaputtgehen kann, wenn man sie unvorsichtig berührt.“ In den Übungen gehe es aber auch darum, dass nicht hinter jedem freundlichen Erscheinungsbild auch etwas Gutes stecke. „Kinder finden schnell jemanden sympathisch, nach dem Motto ‚Du bist ja nett, du tust mir nichts‘.“ Sobald also schon ein Kontakt zum Kind bestehe, hätten potenzielle Täter es leichter. „Viel gefährlicher sind deshalb auch Täter, die dem Kind vertraut sind, die es schon einmal gesehen hat, und sei es nur an der Bushaltestelle.“
Kinder nun aber aus Angst vor möglichen Tätern immer nur überall hinzufahren oder zu begleiten, das sei eine fatale Lösung. „Es ist ganz wichtig, dass Kinder sich dem Alter entsprechend frei entwickeln und bewegen dürfen“, sagt Conny Selbach, „denn durch diese Erfahrungswerte werden sie selbstbewusster und stärker.“
Die Sicherheits- und Verhaltenstipps unserer Experten:
1) In der Familie sollte fest vereinbart werden, wer das Kind abholen darf. Das sollte immer eingehalten und von anderen Erwachsenen respektiert werden.
2) Kinder sollten nichts von Fremden annehmen und auch nicht darauf reagieren, wenn jemand ihnen etwas zeigen will.
3) Wird ein Kind angesprochen, soll es das ignorieren und weiter gehen.
4) Wird ein Kind belästigt, verfolgt oder angegriffen, soll es weglaufen und laut „Feuer“ rufen, bei anderen Erwachsenen Hilfe suchen oder eine „Rettungsinsel“ aufsuchen, zum Beispiel ein Kiosk oder eine Tankstelle.
5) Kinder und Jugendliche sollten am besten in Gruppen unterwegs sein. So kann man sich im Notfall helfen oder auch als Zeuge auftreten.
6) Kinder sollten die Handynummer der Eltern auswendig kennen.
7) Erwachsene sollten wegen einer Auskunft niemals ein fremdes Kind ansprechen, sondern immer andere Erwachsenen fragen.