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Kinderchirurgen„Wir sind sprachlos, womit Eltern ihr Kind in die Ambulanz bringen“

Lesezeit 7 Minuten
Till Rausch und Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt stehen nebeneinander

Dass viele Eltern ihr Kind wegen Kleinigkeiten in die Notaufnahme bringen, erleben die Kinderchirurgen Till Rausch (l.) und Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt täglich.

Gerade Eltern schleppen ihre Kinder zu oft wegen Lappalien in die Ambulanz. Zwei Kinderchirurgen berichten und geben Tipps.

Wegen Krankheitswellen und Personalnot ist die Lage in den Kinderkliniken und Notfallambulanzen derzeit angespannt. Nicht nur sind die Wartezeiten für Eltern und Kinder länger denn je, auch die Mediziner müssen unter Hochdruck arbeiten. Eltern sollten daher nur dann mit ihrem Kind in die Ambulanz fahren, wenn es sich um einen echten Notfall handelt. Dass es in der Realität oft ganz anders aussieht, davon berichten die beiden Hamburger Kinderchirurgen Till Rausch und Benedict-Douglas Sannwaldt. Sie sagen ganz klar: „Viele Kinder, die bei uns ankommen, gehören einfach nicht in die Notaufnahme.“

„Kinder sprinten an mir vorbei ins Untersuchungszimmer“

Mit welchen Kleinigkeiten Familien ankämen, mache sie regelmäßig sprachlos. „Da erscheinen Eltern wegen eines Sonnenbrands oder Zeckenbisses in der Notaufnahme oder weil sich das Kind den Zeh gestoßen hat“, sagt Benedict-Douglas Sannwaldt. „Ich ärgere mich dann wirklich, weil ich wieder fünf Eltern erklären muss, dass ein blauer Fleck wieder weggeht und mir dann die Zeit für die schweren Fälle fehlt.“ Nicht selten würden wartende Kinder fröhlich durch die Halle toben. „Es macht mich wahnsinnig, wenn Kinder, die zu uns gebracht werden, eigentlich total fit sind“, erzählt Till Rausch, „manche hüpfen aus dem Rettungswagen heraus und sprinten an mir vorbei ins Untersuchungszimmer.“ Viel zu oft werde gerade bei Kita- und Schulunfällen heute auch bei kleinen Verletzungen der Rettungswagen alarmiert. „Dabei sollte der eigentlich Notfällen vorbehalten sein.“

Es macht mich wahnsinnig, wenn Kinder, die zu uns gebracht werden, eigentlich total fit sind
Till Rausch, Kinderchirurg

Manche Eltern nähmen auch bewusst die Notaufnahme in Anspruch, damit sie kommen könnten, wann sie wollten und keinen Termin machen müssten. „Ich hatte neulich eine Familie, die kam um 14 Uhr in die Notaufnahme, weil der Kinderarzt erst um 15 Uhr aufmachte“, erzählt Rausch. „Und einmal kam eine Mutter mit ihrem Kind nur zu uns, um einen Unfallbericht für die Kita aufzunehmen, weil sie vorhatte, ein anderes Kind anzuzeigen.“


Buchtipp: Till Rausch/Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt: „Verknackst, verschluckt, verbrannt“, Junior Medien, 192 Seiten, 22,95 EuroIm Buch und auf ihrem Instagram-Kanal (die_kinderchirurgen) klären Till Rausch und Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt auf, wann es sich bei Verletzungen um einen echten Notfall handelt – und wann nicht. Sie erzählen Anekdoten aus dem Ambulanz-Alltag und geben praktische Tipps, wie Eltern bei typischen Verletzungen ihrer Kinder zu Hause Soforthilfe leisten können.


Wartezeiten: Manche Eltern werden laut und ausfällig

Ob ihr Kind in die Notaufnahme gehöre oder nicht, das bekämen Eltern im Grunde durch die Wartezeit bereits gespiegelt. Wegschicken dürften sie keinen, aber die Behandlungsreihenfolge werde nach Schwere der Verletzung bestimmt. „Es gibt Parameter wie Fieber, Blutdruck, Herzfrequenz und Schmerzen, nach denen wir einschätzen, wie dringlich wir das Kind sehen müssen“, sagt Till Rausch. „Und natürlich lassen wir kein Kind mit Blinddarmentzündung oder offenem Bruch acht Stunden warten.“ Weniger schwer verletzte Kinder würden im Sinne einer Triage im Wartebereich immer weiter hinten angestellt.

„Den Eltern ist eine solche Wartereihenfolge oft nur schwer zu vermitteln, weil sie nur ihr Kind sehen“, sagt Till Rausch. Immer wieder machten sie Druck. „Manche fragen alle zehn Minuten nach und werden laut und ausfällig“, erzählt Benedict-Douglas Sannwaldt. Besonders die Krankenpflegrinnen und -pfleger am Tresen bekämen den Frust ab. Sie müssten immer wieder das Gleiche erklären und würden dann auch noch angepöbelt.

In der Notaufnahme passiert viel hinter den Kulissen

„Ich verstehe die Sorge der Eltern um ihr Kind und ihren Wunsch, Verletzungen abzuklären“, sagt Rausch. Verschlechtere sich der Zustand des Kindes während des Wartens, dürften sie das natürlich zurückmelden. „Doch sie sollten auch uns und dem System mehr vertrauen.“ Hinter den Kulissen einer solchen Ambulanz gebe es viel mehr zu tun, als für die Eltern sichtbar sei. „Durch die Noteinfahrt kommen immer wieder Rettungswagen mit schwerer verletzten Kindern“, erklärt Sannwaldt, „wir müssen auch zwischendurch auf die Station rennen, um Patienten zu versorgen, wir müssen operieren und Anrufe machen, um Kinder in andere Krankenhäuser zu verlegen.“

Natürlich gebe es auch Verletzungen, die berechtigt in der Notaufnahme abgeklärt werden müssten. „Zügig losfahren sollten Eltern etwa bei Stürzen aus größeren Höhen, wenn ein Baby aus über einem Meter vom Wickeltisch gefallen ist. Oder wenn ein Kind sich nach einer Kopfverletzung apathisch verhält, wiederholt erbricht oder bewusstlos ist“, sagt Sannwaldt. Auch plötzliche Hodenschmerzen oder anhaltende krampfartige Bauchschmerzen bei Säuglingen sollten schnell untersucht werden.

Oft löst es sich von alleine, wenn man einfach abwartet. Schließlich sind Kinder ja nicht aus Zucker.
Dr. Benedict-Douglas Sannwaldt, Kinderchirurg

Bei vielen Verletzungen reicht eine Behandlung am nächsten Tag

Für viele andere Verletzungen müsse man aber nicht in die Ambulanz. „Eltern wissen oft nicht, dass vieles auch beim Kinderarzt, in einer Kinderchirurgen-Praxis oder abends und am Wochenende in einer Kindernotfallpraxis behandelt werden kann“, sagt Sannwaldt. Manche Verletzungen bräuchten aber auch keine ärztliche Behandlung. „Oft löst es sich von alleine, wenn man einfach abwartet. Schließlich sind Kinder ja nicht aus Zucker.“ Eltern schätzten die Lage meist intuitiv ganz richtig ein. „Wenn das Kind nicht offensichtlich eine schwere Verletzung hat, lässt sich in den meisten Fällen getrost erst einmal eine Nacht drüber schlafen“, sagt Till Rausch. „Letzten Endes schont es ja auch die Nerven der Eltern und Kinder, wenn ihnen der Trip in die Notaufnahmen erspart bleibt.“


Was tun, wenn ein Kind am Wochenende krank ist?In der Nacht, am Wochenende und an Feiertagen ist bei Erkrankungen, die nicht lebensbedrohlich sind, der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Rufnummer 116 117 (deutschlandweit, ohne Vorwahl, kostenlos im Festnetz und per Handy) erreichbar.


Nach einer Verletzung sollten Eltern also zunächst besonnen bleiben und sich genau anschauen, was betroffen ist. „Wichtig ist es, Ruhe zu bewahren, denn Kinder reagieren extrem suggestiv auf ihre Umwelt“, sagt Rausch. „Bleiben Mama und Papa ruhig, ist es total eindrücklich, was die Kleinen alles aushalten können.“ Es helfe zudem, im Verletzungsfall eine klare Aufgabenteilung zu haben. „Eine Person bleibt beim Kind, die andere holt Hilfsmittel oder telefoniert – damit nicht alle aufgebracht herumrennen, während das Kind heulend in der Ecke sitzt“, ergänzt Sannwaldt.

Drei typische Verletzungen bei Kindern – wie sollten Eltern damit umgehen?

Knochenbrüche

„Wenn ein Kind hinfällt und der Arm ist schief oder es guckt ein Knochen heraus, dann ist die Fahrt in die Notaufnahme berechtigt“, sagt Benedict-Douglas Sannwaldt. „Ist nichts geschwollen, lässt sich das Kind beruhigen und wirken die Schmerzmittel gut, kann man getrost eine Nacht darüber schlafen“, ergänzt Till Rausch. Die Verletzung könne man am nächsten Tag bei einem Kinderchirurgen oder Orthopäden abchecken lassen. „Da passiert in der Zwischenzeit nichts. Kinder sind ganz schön stabil. Sie können Knochenbrüche nicht nur sehr viel besser aushalten als Erwachsene, sondern haben auch ein ganz anderes Heilungspotential, ein kleiner Bruch ist in ein bis zwei Wochen wieder verheilt.“

Blutende Wunden

„Wenn ein Kind blutüberströmt ist, bekommen Eltern schnell Panik“, sagt Sannwaldt. Meistens seien Platzwunden aber nicht so schlimm, wie sie aussehen. „Eine Kopfplatzwunde ist zum Beispiel kein Notfall, solange es keine Zeichen einer Gehirnerschütterung gibt.“ Stark blutende Regionen wie die Kopfhaut oder die Hand sollten mit etwas Druck und einem sauberen, sterilen Verband abgedeckt und verbunden werden. Dann könne man erstmal abwarten. „Hört es lange nicht auf zu bluten, sieht man unter der Wunde das Fett oder klappen die Wundränder auf, sollte man einen Arzt aufsuchen.“ Es gebe auch Kinderärzte, die solche Wunden klebten.

Verschluckte Gegenstände

Habe ein Kind einen Gegenstand verschluckt, komme es auf die Symptome an. „Leidet das Kind unter Luftnot, hustet und würgt es anhaltend oder läuft ihm immer wieder Speichel aus dem Mund, weil es nicht richtig schlucken kann, ist es zudem ruhig und möchte nichts zu sich nehmen, sollten Eltern zügig in die Notaufnahme losfahren“, erklärt Sannwaldt. Habe ein Kind nach einem Verschlucken jedoch getrunken und gegessen und zeige keine Symptome, sei meist alles in Ordnung. „Alles, was durch die Speiseröhre rutscht, wird in der Regel wieder ausgeschieden, selbst kleine Plastik- oder Glasstückchen.“ Habe das Kind allerdings Knopfbatterien oder mehrere Magneten verschluckt, sollte man auf jeden Fall in die Klinik fahren.