Warum machen sich Eltern heute so viele Sorgen um ihre Kinder? An zunehmenden Gefahren liege es eher nicht, sagt eine Kölner Expertin.
Kölner Expertin über „Helikoptereltern“„Es ist der Wahnsinn, was wir von Eltern verlangen“
Schon mit acht allein in der Nachbarschaft unterwegs, bis die Laternen angingen. Schulwege durch den Wald. Zum Spielen auf die Baustelle. Frau Müller-Giebeler, es heißt, früher seien Kinder mit viel mehr Freiheiten aufgewachsen. Stimmt das?
Ute Müller-Giebeler: Ich bin da skeptisch. Seit Jahrzehnten lehre ich in der Familienbildung und unterrichte Studierende und jede neue Generation sagt mir: Wir haben damals ja noch auf der Straße gespielt. Das behaupten auch die heutigen 18-24-Jährigen noch von sich, obwohl wir Älteren die längst nicht mehr in dieser Freiheit verortet hätten. Was aber richtig ist: Kinder verbringen heute viel mehr Zeit in pädagogischen Situationen, also in der Schule, der OGS, dem Sportverein. Unbeobachtete Zeit ohne Eltern oder Pädagoginnen oder Pädagogen haben sie kaum noch. Dabei wäre diese Erfahrung mit der Peergroup wichtig, denn nur hier erleben sie sich als Akteure auf Augenhöhe.
Liegt das daran, dass wir Eltern sie überbehüten, ihnen nicht mehr zutrauen, alleine auf den Spielplatz gehen?
Meiner Beobachtung zufolge liegt das eher an der Lebenswelt der Eltern. Wer heute ein Kind hat, muss alles unter einen Hut bringen: Eigenen Beruf, Schule, Verabredungen sowie den Sportverein der Kinder, Haushalt, eigene Hobbys. Das führt schon aus organisatorischen Gründen zu einer Verinselung. Kinder verbringen viel Zeit im Auto oder in geschlossenen Räumen, weil eben alles straff durchgeplant funktionieren muss. Im Stress nimmt das Bedürfnis nach Kontrolle zu. Und wenn die dann versagt, weil das Kind krank wird oder auf dem Weg zum Ballett trödelt oder nicht jederzeit zu erreichen ist, dann machen wir uns Sorgen, geraten vielleicht sogar in Panik.
Ist die Welt für Kinder gefährlicher geworden?
Das würde ich so nicht sagen. Vieles in einem Kinderleben ist sogar eher sicherer geworden. Und da meine ich den Gurt im Auto ebenso wie die Sensibilität für sexuellen Missbrauch in Institutionen. Aber es gibt natürlich auch neue Gefahren. Von mehr Verkehr über die Digitalisierung mit all den für Eltern manchmal schwer durchschaubaren Risiken bis zur faktischen – beispielsweise bei Familien auf der Flucht – oder psychologischen Belastung durch die derzeitige „Polykrisensituation“ in der Gesellschaft, die ja auch Eltern mitnimmt.
„Ich mag den Begriff ‚Helikoptereltern‘ nicht und halte generell nichts von Elternbashing“
Liegt die zunehmende Sorge vielleicht auch an einer wachsenden sozialen Spaltung? Haben wir Eltern Angst, dass unsere Kinder abgehängt werden?
Das ist aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Punkt. Eltern spüren die Konkurrenzsituation, welchen die Kinder ausgesetzt sind. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich. Gerade in der Mittelschicht haben viele Angst, dass ihre Kinder abrutschen, wenn sie nicht optimal gefördert werden. Und diese Angst ist ja real. Und arme Familien, die ihre Kinder ja genauso fördern und unterstützen wollen, haben zunehmend Schwierigkeiten, diesen Wunsch auch durchzusetzen. Gäbe es da mehr institutionelle Unterstützung, auf die man sich wirklich verlassen kann wie beispielsweise in Skandinavien, könnten sich Eltern auch mehr entspannen, müssten sich weniger Sorgen machen.
Ute Müller-Giebeler ist Diplom-Pädagogin, langjährige Leiterin einer Familienbildungsstätte, Familienberaterin sowie Professorin für Familienbildung an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln.
Schaden Helikoptereltern ihren Kindern mit dieser Überbehütung?
Ich mag den Begriff „Helikoptereltern“ nicht und halte generell nichts von Elternbashing. Eltern wollen optimal für ihre Kinder sorgen und dann vermitteln wir ihnen das Gefühl, sie seien dadurch schlechte Mütter und Väter – wenn sie es aber nicht tun, nennen wir sie „Rabeneltern“. Hilfreicher wäre zu sagen: Es reicht, wenn du deinen Job mit den Kindern ausreichend gut machst. Mit einem Perfektionsanspruch schaden Eltern vor allem sich selbst. Elternschaft ist seit der allgemeinen Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln eine Entscheidung, mit der wir eine sehr große Verantwortung verknüpfen. Die Anforderung, die Eltern an sich selbst stellen, die aber auch von außen an sie herangetragen werden, den Kindern materiell wie sozial wie emotional stabile und sehr gute Verhältnisse bieten zu müssen, war vielleicht nie größer als heute.
Mütter und Väter überfordern sich deshalb und scheitern daran. Viele Mütter und Väter wollen es zudem besser machen als ihre Eltern damals, die wiederum als Reaktion auf die eigene autoritäre Erziehung in der Nachkriegszeit ganz auf partnerschaftliches Erziehen und Selbstverantwortung setzten. Eltern heute sagen: Wir wollen nicht nur auf Eigenverantwortung der Kinder setzen. Wir wollen uns doch auch zugewandt um sie kümmern.
„Früher schlief man vielleicht nur gut, weil man gar nicht wusste, in welche Gefahren sich das Kind begibt“
Das wäre eine positive Entwicklung.
Auf jeden Fall. Mehr Eltern sind heute sehr empathisch bezogen auf ihre Kinder als in Generationen vor ihnen. Eltern versetzen sich in ihre Kinder hinein. Sie versuchen, in Kontakt zu bleiben, ein Gesprächspartner zu sein, dem man sich anvertrauen kann. Diese Nähe sorgt aber natürlich auch für schlaflose Nächte. Weil man weiß, was das Kind umtreibt. In welche Risikozonen es sich bewegt. Früher schlief man vielleicht nur gut, weil man vieles gar nicht wusste.
Kann die Politik zur Entspannung der Eltern beitragen?
Ganz bestimmt. Seit den 80er Jahren, als es langsam anfing, dass für immer mehr Familien ein Gehalt nicht mehr ausreichte, um eine Familie zu ernähren, definiert die Politik Eltern als Menschen, die Kinder haben und gleichzeitig vollzeitnah arbeiten. Es ist Wahnsinn, was wir damit von Eltern verlangen. Das Ergebnis ist, dass sie überlastet sind und es nicht genug Ressourcen und Zeitfenster für die Familie gibt.
Nicht nur Mütter, sondern auch Väter wünschen sich, dass die Politik Möglichkeiten schafft, Familie und Beruf nicht immer simultan, sondern auch mal sequenziell zu vereinbaren. Das würde bedeuten, echte berufliche Auszeiten für die Familie zu haben – zumindest ausreichend ökonomisch abgesichert -, um sich dann wieder verstärkt und ohne Karriereeinbußen dem Beruf zuwenden zu können. In diesen Auszeiten müssten Kinder nicht vollständig institutionell verarbeitet werden, sondern hätten eine Anlaufstelle zu Hause, von der aus sie mit ihrer Peergroup und ausgestattet mit dem Vertrauen der Eltern die Umgebung erkunden könnten. Dabei will ich keinesfalls, dass Mütter zurück an den Herd gehen. „Am Herd“ sehe ich selbstverständlich ebenso die Väter und alle Menschen, die in vielfältigen Familienkonstellationen in einem Sorgeverhältnis zu Kindern stehen. Solche Modelle sollte sich eine reiche Gesellschaft, wie wir es sind, aus meiner Sicht leisten.