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Kölnerin spricht über Tabuthema„Ich hatte sechs Fehlgeburten in fünf Jahren“

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Christina Diehl will betroffenen Frauen Mut machen.

Köln – „Ich kann keinen Herzschlag mehr finden“. Als Christina Diehl zum ersten Mal diese Worte ihrer Gynäkologin hört, ist sie 36. „Der Satz glich einem Kanoneneinschlag“, sagt die Kölnerin, die heute, elf Jahre später als Autorin und Coach arbeitet. Ihr Höhenflug führte binnen Sekunden in eine Talfahrt. Sie sollte fünf Jahre andauern, denn es folgten fünf weitere Kanoneneinschläge. Christina Diehl hatte sechs Fehlgeburten. In fünf Jahren. Inzwischen unterstützt sie als Plan-B-Coach Betroffene eines unerfüllten Kinderwunsches auf ihrem Weg zu neuen Lebensperspektiven und spricht offen über das Thema. Wie auch zwei weitere Kölnerinnen in diesem Text, sie wollen andere Frauen dazu ermutigen, Fehlgeburten nicht länger als Tabu zu verstehen.

„Der Schock war unbeschreiblich, als wäre etwas von mir selbst gestorben. Ich hatte mich nicht mit der Möglichkeit einer Fehlgeburt befasst“, sagt Diehl. Keine Frau in ihrem Umfeld sprach bis dahin je darüber. Und auch als ihr Arzt ihr riet, die Schwangerschaft bis zur zwölften Woche geheim zu halten, hat Diehl das nicht hinterfragt. „Mir war nicht bewusst, dass der Rat im Zusammenhang mit einer derart hohen Fehlgeburtenrate steht.“ Wie viele Frauen betroffen sind, hat jetzt wieder die Studie eines internationalen Forscherteams ins Bewusstsein gerückt: Mehr als jede zehnte Frau erleidet weltweit mindestens einmal in ihrem Leben eine Fehlgeburt.

44 Fehlgeburten pro Minute

Hochgerechnet sollen es jährlich 23 Millionen spontane Aborte sein. Damit wird eine von sieben Schwangerschaften ungewollt beendet. 44 pro Minute. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele Länder die Fehlgeburten nicht erfassen und nicht wenige Frauen ihr Kind verlieren, ohne zuvor bemerkt zu haben, schwanger zu sein. Die Wissenschaftler kritisieren, dass trotz dieser hohen Zahl, die medizinischen und psychologischen Hilfsangebote für Betroffene unzureichend sind.

Zur Person und Lesetipp

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Im September ist das Buch von Christina Diehl erschienen.

Christina Diehl (47) ist Moderatorin, Speakerin und Plan B-Coach. Auf ihrem Instagram-Kanal, in Vorträgen und Workshops thematisiert die Kölnerin die schmerzlichen Erfahrungen ihrer sechs Fehlgeburten und dass ein Happy End trotz und wegen einer großen Krise gelingen kann. (Foto: Stefan Schopp)

Im Herbst 2021 erschien ihr erstes Buch "Netter Versuch, Schicksal" im mvg Verlag, 215 Seiten.

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Schließlich leiden 20 Prozent der Frauen neun Monate nach der Fehlgeburt an Depressionen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung, 90 Prozent haben große Probleme damit, über das sensible Thema zu sprechen. Deshalb sei es wichtig, das Thema aus der Tabuzone zu holen.

„Großartig finde ich, dass die Forscherinnen und Forscher es nicht bei der Statistik belassen, sondern ihre Ergebnisse mit dem Appell verbinden, das Schweigen zu brechen“, sagt Diehl. Das hat die Kölnerin längst getan. In ihren Artikeln, auf Bühnen – und auch in ihrem ersten Buch „Netter Versuch Schicksal“ macht sie betroffenen Frauen Mut, laut zu werden. Neuerdings arbeitet Diehl als Plan B-Coach, sprich: sie begleitet Betroffene, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt hat, und unterstützt sie auf ihrem Weg zu neuen Lebensperspektiven. Wie sehr Betroffene darunter leiden, dass das Thema tabuisiert wird, sie deshalb oft mit ihren Gefühlen wie Kontrollverlust oder Schuld alleine gelassen werden, davon weiß auch Gabrielle Stöcker zu berichten.

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Gabrielle Stöcker.

Die Gynäkologin ist Beraterin bei Pro Familia Köln, Mitbegründerin von „Juno“, einem Kölner Netzwerk für Schwangerschaft und Psyche, und im Alltag damit befasst, „betroffenen Frauen Perspektiven zu öffnen und Ressourcen zu mobilisieren, mit denen sie ihren schmerzhaften Verlust verarbeiten können.“

Kontrolluntersuchung auf Großleinwand

Viel wäre laut Stöcker getan, wenn uns allen bewusst wäre, dass eine frühe Fehlgeburt fast so natürlich ist, wie eine Schwangerschaft, aber trotzdem emotional sehr belastend sein kann. Und wenn sich manche Ärzte sensibler damit befassen würden. „Üblich ist oft, das Ultraschallbild auf Großleinwand zu übertragen, jede Untersuchung live mitzuverfolgen. Was aber, wenn die Frau im selben Moment mit anschaut, dass das Herz nicht mehr schlägt? Das empfinden viele als zusätzlich traumatisierend.“ Besser wäre, so Stöcker, wenn die Ärzte die Leinwand erst dann freischalten würden, wenn sie sich selbst einen ersten Eindruck verschafft haben.

Kölner Hebamme erleidet Fehlgeburt

Mehr Feingefühl hätte sich auch Gesine Habermann von ihrem Gynäkologen gewünscht, konkret: mehr Menschlichkeit und einen Blickkontakt, als er ihr nach einem zwei-wöchigen Klinikaufenthalt am Krankenbett mitteilte: „Das war ja vorauszusehen, dass das nichts wird.“ Die Ausschabung erfolgte noch am selben Tag. Für die Hebamme brach eine Welt zusammen. Wegen der Diagnose. Und auch wegen der menschlichen Schwäche des Mediziners.

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Was sie sich stattdessen gewünscht, hat sie daraufhin Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten, gegeben: Hat ihre Blicke ausgehalten, ihren Schmerz verstanden, ihre Trauer geteilt. Und versucht, Respekt vor der Komplexität der Natur zu vermitteln („Die Zellteilung ist ein Vorgang, der unendlich viele Fehler enthalten kann“). Was viele Frauen nicht wüssten: Nach einer Fehlgeburt können sie eine Hebamme beanspruchen. „Ich habe aktiv den Kontakt gesucht, wenn eine Frau eine Wochenbettbetreuung abgemeldet hat, um an ihrer Seite zu sein, wenn für sie die Welt untergeht. Ich habe so viele erlebt, die in eine grausame Einsamkeit gerutscht sind. Das muss doch nicht sein!“

Zuhause geboren, im Garten beerdigt

Dass Fehlgeburten ein natürlicher Vorgang und kein Scheitern sind, damit hat sich Kerstin Magens intensiv beschäftigt. Die Mission der Kölner Ergotherapeutin, die auch als Coach arbeitet: „Aufzuzeigen, dass es kein traumatisches Erlebnis bleiben muss, wenn eine Frau ein Kind im Bauch verliert.“

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Kerstin Magens

Wie sie selbst vor fünf Jahren. Haribo hat sie es genannt, „da es so groß wie ein Gummibärchen war“, zuhause selbst geboren, fotografiert und im Garten vergraben. Magens Arzt bestärkte sie darin, als er in der zehnten Schwangerschaftswoche keinen Herzschlag mehr feststellte, zu vertrauen, „dass ihr Körper den Abgang alleine schafft“. Magens konnte in vertrauter Umgebung Abschied nehmen. Und trauern. „Mir blieb der traumatische Eingriff in der Klinik erspart. Ich habe mir Hilfe bei einer Hebamme gesucht und mich an die Wochenbett-Regel gehalten, ich konnte deshalb seelisch besser damit umgehen.“ In der Folgezeit arbeitet Magens die familiären Traumata auf. „In dieser Zeit der Heilung reifte auch die Erkenntnis, dass Fehlgeburten natürlicher Teil des Lebens sind.

30 Prozent der befruchteten Eier gehen ab

Wenn mehr darüber geredet würde, dass mindestens 30 Prozent aller befruchteten Eier abgehen, würden viele Frauen nicht so lange unter Schuldgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen leiden“, sagt Magens, die, kurz nachdem sie gelernt hat „loszulassen“ ein zweites Mal schwanger wurde. Ihre Tochter ist heute drei Jahre alt.

Christina Diehl wurde nach der sechsten Fehlgeburt nicht mehr schwanger. Medizinische Erklärungen dafür gibt es nicht, auch nicht für die sechs Fehlgeburten. „Die brauchte ich auch nicht, denn an einem Punkt wusste ich genau: ich konnte und wollte nicht mehr.“ Diehl kann „endlich loslassen“. Zeitgleich beginnt sie, immer offener über ihre Odyssee zu reden. Auch das befreit. „Die kraftraubende Jagd nach dem Nachwuchs wich einem alternativen Lebensplan, an den ich mich zuvor nicht zu denken traute, da das Muttersein so etwas enorm Elementares ist, der mich aber auch an die Vorteile eines kinderlosen Lebens glauben ließ.“

Auch ohne Kind glücklich werden

Heute schreibt Diehl in ihren Artikeln und auf Instagram davon, wie sehr sie und ihr Freund sich auf eine Zukunft freuen, in der sie ihre zurückgewonnene Unbeschwertheit genießen können. „Das Gefühl: Schade, dass es mit dem Kind nicht geklappt hat, darf uns dabei begleiten. Aber eben auch die Gewissheit, dass das ewige Warum nichts nützt“, sagt Diehl, die mit dieser Überzeugung anderen Frauen Mut macht, dass sie nicht trotz sondern wegen der Krise glücklich werden und sich austauschen können. Wenn nämlich mehr Frauen über ihre Fehlgeburten sprechen, erhöht das die Chance, dass die Gesellschaft begreift, „dass es eine Problematik gibt, für die es Wert ist, mehr und sichtbarere medizinische und psychologische (Beratungs-)Angebote zu schaffen“, sagt Gabrielle Stöcker.

Würde das Thema entspannter behandelt, müssten Frauen, die schwanger sind und dies ihrem Arbeitsumfeld kundtun, auch keine Nachteile im Job mehr befürchten. „Könnten sie früh darüber reden, wüssten alle, dass sie schwanger sind, was es ihnen im Fall einer Fehlgeburt weniger Überwindung kosten würde, darüber zu reden.“ Denn, da ist sich Stöcker sicher, „neben dem Befund ist für viele Frauen die zweitgrößte Belastung, nicht darüber sprechen zu können.“

„Wir müssen reden“, lautet auch das Credo von Christina Diehl, Kerstin Magens und Gesine Habermann. „Schließlich ist es enorm erleichternd zu wissen, dass man nicht alleine, sondern eine von zehn Millionen ist.“

www.familienplanung.de/beratung/www.juno-koeln.de

So kann das Umfeld Betroffenen zur Seite stehen. Tipps von Gabrielle Stöcker

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Gabrielle Stöcker.

Gynäkologin und Pro Familia-Beraterin Gabriele Stöcker gibt Tipps, wie das Umfeld betroffenen Frauen zur Seite stehen kann und was man besser vermeiden sollte

  1. Proaktiv nachfragen
  1. Vermeintlich gut gemeinte Ratschläge vermeiden:
  1. Verständnis dafür haben
  1. Auf Beratungsangebote aufmerksam machen
  1. Verständnis dafür haben,
  1. Generell übergriffige Fragen vermeiden

www.familienplanung.de/beratung/www.juno-koeln.de