Von Snacks bis Fernsehen – vieles wird von Eltern mit Migrationshintergrund oft anders gehandhabt, sagt Elina Penner in ihrem Buch „Migrantenmutti“.
Erziehung und Herkunft„Ich wusste nicht, wie migrantisch ich bin, bevor ich Mutter wurde“
Schon als Kind sei sie manchmal irritiert gewesen über Familien ohne Migrationshintergrund, erinnert sich Elina Penner. „Wenn ich bei Schulfreundinnen zum Spielen war und es aufs Abendessen zuging, wurde mir mitunter gesagt: ‚Du kannst im Kinderzimmer warten, bis wir fertig sind mit Essen‘.“ Damals habe sie sich nicht zu viele Gedanken gemacht, warum sie nicht mitessen durfte. „Ob das nun an meinen russlanddeutschen Wurzeln lag, oder daran, dass die Kleinfamilie die Hähnchenfilets abgezählt hatte, werde ich nie erfahren.“ In solchen Momenten sei ihr aber klar geworden, dass sie als mennonitische Familie, die neu in Deutschland war, vieles ganz anders erlebten und handhabten.
Elina Penner machte Abitur, studierte und begann ihre Karriere als Autorin und Bloggerin. Ihr Migrationshintergrund habe dabei immer weniger eine Rolle gespielt. „Ich glaube, dass ich als weiße Frau, die akzentfrei Deutsch spricht und einen unauffälligen Nachnamen hat, auch größtenteils diskriminierungsfrei durchs Leben gehe – anders als viele Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte.“ Und auch sonst seien die Unterschiede zu ihrem nicht-migrantischen Umfeld lange Zeit für sie wenig spürbar gewesen.
Snacks, Schulranzen, Schulen: Manche Eltern geben viel Geld aus
Bis zu dem Moment, an dem sie Kinder bekommen habe. „Ich wusste nicht, wie migrantisch ich bin, bevor ich Mutter wurde“, sagt sie. „Plötzlich habe ich in den alltäglichen Räumen, in denen ich mich als Mama bewegte, so vieles nicht verstanden. Ich fragte meine Freundinnen ohne Migrationshintergrund: Warum macht ihr das so? Warum sind euch diese Dinge so wichtig?“ An vielen Punkten im Elternuniversum habe sie sich wie eine „Migrantenmutti“ gefühlt. Den durchaus provokativen Begriff hat sie schließlich als Titel ihres satirischen Sachbuches gewählt.
Zur Person: Elina Penner ist als Kind mennonitischer Eltern in der Sowjetunion geboren und in Deutschland aufgewachsen. Sie leitet den Blog „Hauptstadtmutti“, ist Journalistin, Autorin und Unternehmerin. Sie hat lange in den USA und Berlin gelebt und wohnt nun mit ihrer Familie in Ostwestfalen.
Eines ihrer liebsten Beispiele sei immer das Thema Schulranzen. „In einer bestimmten Elternschicht ist es eine Art ungeschriebene Regel, dass eine Schultasche 300 Euro zu kosten hat, weil sie ergonomisch ist oder aus Ozeanmüll hergestellt ist“, sagt Penner. Die Suche nach dem „einen“ sehr richtigen Produkt für das Kind würde immer im Vordergrund stehen. „Das Gleiche gilt für Barfußschuhe, Kindersnacks oder sogar Schulen“, betont sie. In manchen Städten gingen gebildete wohlhabende Eltern „Schule shoppen“ und klagten sich notfalls ein. „Diese Schicht nimmt Geld in die Hand, damit es ihrem Kind zu jedem Zeitpunkt so gut wie möglich geht.“
Die gebildeten Eltern bestimmen, was für Kinder „richtig“ ist
Was die einen sich mühelos leisten könnten, sei jedoch für viele Eltern aus anderen Einkommensschichten überhaupt nicht erschwinglich. „Jedes fünfte Kind hierzulande lebt in Armut.“ Es gehe hier also nicht nur um migrantische Herkunft, sondern vor allem um Klassenunterschiede. „Und trotzdem wird noch eine Kultur etabliert, in der auf der Materialliste der Schule der Markenname der Ölpastellkreide steht.“ Schon an diesen kleinen Punkten zeige sich, wie politisch Elternschaft sei.
Der Einfluss der gut situierten, gebildeten Eltern sei groß. „Sie haben die Zeit und das Geld, in den Elterngremien und den sozialen Medien den Ton anzugeben, wie Mütter und Väter zu sein und was sie zu tun haben“, sagt Penner. „Bei jenen Eltern, die davon abweichen, entsteht dann schnell der Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben und nicht dazuzugehören.“ Dabei könne man selbstverständlich auch Kinder großziehen, ohne jedes Detail zu überdenken. „Wenn jemand auf dem Spielplatz eine Chipstüte auspackt, bin ich richtig erleichtert, weil es noch Eltern gibt, die nicht nur teure Tütchen mit getrockneten Erdbeeren für ihre Kids dabei haben.“
Erziehungseinflüsse hängen von Herkunft und Milieu ab
Auch bei anderen Themen wie zum Beispiel Medienkonsum habe sie viele Unterschiede zu ihren nicht-migrantischen Freundinnen und Freunden beobachtet. „Mir als Mutter hat sich nie richtig erschlossen, warum dieser Fernseher so böse ist“, erzählt sie, „oder warum alle Kinder am Tisch sitzen bleiben müssen.“ Sie sei einfach ganz anders geprägt worden. „Gerade bei moralisch aufgeladenen Themen in der Erziehung schadet es nicht, sich selbst zu fragen, woher die eigenen Annahmen kommen“, sagt sie, „habe ich ein Problem mit dem Fernsehen, weil mir als Kind gesagt wurde, dass es dumm macht oder assoziiere ich es mit einer ‚dummen Gruppe‘?“
Oft seien hier in Deutschland auch heute noch Erziehungseinflüsse aus dem Dritten Reich zu spüren. „Es wird zum Beispiel immer noch die enge Verbindung zwischen Mutter und Kind hochgehalten, die am besten so wenig wie möglich durch Fremdbetreuung unterbrochen werden soll.“ Das sei in ihrer Kultur ganz anders. „Ich bin häufig auch von anderen Familienmitgliedern betreut worden, auch weil meine Eltern immer beide erwerbstätig waren“, erzählt Penner. „Familie in meinem Kopf war sowieso nie das Bild ‚Mutter-Vater-Kind‘, sondern das sind für mich bis heute 30 Menschen auf dem Grillplatz, die alle zusammen sitzen und sich quer durch alle Altersgruppen austauschen.“
Familien haben ganz unterschiedliche Lebensrealitäten
Vieles in der Erziehung sei von kulturellen Einflüssen, aber auch vom Milieu und der Lebensrealität beeinflusst, in der Kinder aufwachsen. „Den russlanddeutschen Eltern ist zum Beispiel wichtig, dass Kinder sich gut benehmen und man den älteren Menschen in der Familie Respekt zollt“, sagt Penner, „das hat auch damit zu tun, dass sie viel aufgegeben oder auf sich genommen haben.“ Es werde aber auch regelhafter erzogen, weil es bei größeren Familien mit erwerbstätigen Eltern schlicht vieles einfacher mache. „Wenn die Eltern im Schichtdienst arbeiten, lernt man schnell, wie leise man eine Mikrowelle öffnen kann, damit die Mama nicht aufwacht.“ Diese Erfahrungen teilten sicher auch andere Kinder, deren Eltern in prekären Jobs arbeiteten und wenig Zeit hätten.
Ohne Frage gebe es große Unterschiede, wie Familien in Deutschland lebten und wie Eltern geprägt worden seien. „Ich kann mich nicht mit Menschen vergleichen, die keine Migrationsgeschichte haben oder deren Mütter nicht berufstätig waren“, sagt Penner. Umso wichtiger sei es deshalb auch, wertungsfreier und toleranter auf andere Eltern zu schauen. „Der Grundsatz sollte sein, dass es nicht den ‚einen‘ richtigen Weg im Leben mit Kindern gibt.“
Für sie persönlich sei schließlich der Umzug von Berlin ins ländliche Ostwestfalen die Rettung aus dem ewigen Bewertungsdschungel gewesen. „Hier auf dem Land sind die Leute viel entspannter und man hat mehr Menschen verschiedener Schichten und vor allem auch Eltern mit älteren Kindern um sich“, sagt Elina Penner. „Es ist heilend, zu sehen, wie viele verschiedene Ansätze es gibt, Familie zu leben. Und jeder kann für sich schauen, was funktioniert.“