Leverkusener VorschlagSollten Senioren den Führerschein für ein ÖPNV-Ticket abgeben?
- In Leverkusen wird derzeit diskutiert, ob ältere Menschen ein kostenloses ÖPNV-Ticket erhalten, wenn sie freiwillig ihren Führerschein abgeben.
- Die SPD griff die Idee einer Bürgerin auf und will nach der Sommerpause einen Vorschlag dazu erarbeiten.
- Claudia Lehnen befürwortet diesen Vorstoß, weil Senioren nicht selten zur Gefahr im Straßenverkehr werden.
- Tanja Wessendorf ist dagegen, weil das Auto gerade für ältere Menschen auf dem Land ein essentielles Stück Freiheit ist.
Köln – Pro - Claudia Lehnen sagt, dass eine Abgabe der Fahrerlaubnis ab einem gewissen Alter nicht nur zur Sicherheit, sondern auch zum Familienfrieden beitragen würde.
Konrad war 92 Jahre alt, als er mit seiner Frau und deren verwitweten Freundin jeden Sonntag vermeintlich harmlose Ausfahrten ins Umland unternahm. Ins Wirtshaus, zum Rommé-Abend, in die Therme oder einfach zum Landstraße-Gucken. Es dauerte ein bisschen, bis die ganze Wahrheit ans Licht sickerte. Denn meine Großmutter – die verwitwete Freundin – hat sie nur Häppchenweise erzählt.
Dass Konrad regelmäßig zu verwirrt war, um sein geparktes Auto nach dem Kaffeetrinken wiederzufinden. Dass er in der Spitze mit 20 km/h über die Landstraße flanierte – weil er bei höheren Geschwindigkeiten die Orientierung verlor. Dass er es sich auch nach ein paar Gläsern Wein und Schnaps nicht nehmen ließ, die Damen nach Hause zu kutschieren. Dass er argumentierte, eine Fahrt mit dem Bus sei keine Alternative, schließlich könne er ohne Lupe den Fahrplan nicht mehr lesen.
Ich weiß, das wird jetzt bitter. Aber die Wahrheit ist: Sieht man sich die Pkw-Unfallstatistiken an, so trifft in zwei von drei Fällen, in denen ein Senior am Unfall beteiligt ist, ihn die Hauptschuld am Crash. Bei den ab 75-Jährigen sind es sogar drei von vier unfallbeteiligten Fahrern (76 Prozent), denen die Hauptschuld zugewiesen wird. Ältere Unfallbeteiligte sind also relativ häufiger Unfallverursacher als jüngere.
Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Senioren ist hoch
Brisant wird es in der Altersgruppe ab 65 laut Statistik vor allem beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, beim Einhalten der Vorfahrt oder beim Verhalten gegenüber Fußgängern. Hier machen Senioren mehr Fehler als Jüngere. Ältere Menschen sind aber auch selbst gefährdet. Bei den Verkehrstoten liegt der Anteil der Über-65-Jährigen bei einem Drittel und ist damit deutlich überproportional.
Kostenlose ÖPNV-Tickets für diejenigen Senioren, die sich dazu entschließen, ihren Führerschein abzugeben, sind deshalb eine gute Idee. Die Straßen würden sicherer, weniger Senioren würden im Verkehr sterben und nebenbei würden Oma und Opa auch noch etwas für die Zukunft der Enkelkinder tun: Mit ihrem Mobilitätsverhalten das Klima schonen.
Autofahren ist auch bei den Jüngsten nicht mehr so populär
Und damit würde aus dem vermeintlichen Verlust plötzlich ein Move, der die ältere Bevölkerungsgruppe ganz nach vorne an den Puls der Zeit katapultieren würde. Denn der Individualkraftverkehr ist in Zeiten des Klimawandels auch bei den Jüngsten längst nicht mehr so populär wie noch vor zehn Jahren, als quasi jeder 18-Jährige den Lappen auf dem Geburtstagstisch liegen haben musste. Während 2010 noch knapp fünf Millionen junge Menschen zwischen 17 und 24 Jahren einen Führerschein besaßen, waren es neun Jahre später nur noch 4,4 Millionen.
Dreht man den Gedanken weiter und knüpfte die Fahrerlaubnis ab einem gewissen Alter an verpflichtende Gesundheitschecks, würde das auch zu weniger Generationenstreitigkeiten beitragen. Oder haben Sie schon einmal versucht, einer 90-jährigen renitenten Dame den Autoschlüssel abzunehmen, damit die nicht halbblind und taub in ihrem Cabrio zum wöchentlichen Friseurbesuch irrlichtert und dabei Zäune oder gar spielende Kinder mitnimmt? Ein Brief vom Amt mit unmissverständlichen Auflagen würde da viel Frieden stiften.
Claudia Lehnen, 43, ist Ressortleiterin NRW/Story und würde ihren Kleinwagen sofort gegen die kostenfreie Nutzung von Bus und Bahn eintauschen. Und bei zunehmender Vergreisung auch ihren Führerschein. Ihre Kinder sind entsprechend instruiert.
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Contra: Tanja Wessendorf findet, dass man Menschen nicht allein wegen eines bestimmten Alters bevormunden darf und wünscht sich statt dessen regelmäßige Nachprüfungen für alle.
Ja, es ist richtig, dass Autofahren mit zunehmendem Alter schwieriger wird. Viele ältere Menschen sehen nicht mehr so gut und können nicht mehr so schnell reagieren. Das heißt aber nicht, dass man sie deshalb alle nicht mehr hinters Steuer lassen sollte.
Wer sind denn überhaupt „diese Senioren“, die doch bitte ihren Führerschein abgeben sollen? Sind es die Mitte-60-Jährigen, die jetzt in Rente gehen und zum Großteil mindestens so fit sind wie Mitte-40-Jährige? Die sich vielleicht gerade ein Wohnmobil gekauft haben, mit dem sie herumreisen wollen? Oder die Mitte-70-Jährigen, die am Wochenende mit ihren Freunden gern zum Kaffeetrinken rausfahren? Oder muss man schon 80 und älter sein, bis man als Senior angesehen wird? Ein Verbot allein wegen des Alters einzurichten, ist nichts anderes als Willkür.
Ältere Menschen haben viel mehr Fahrerfahrung als Jüngere
Zumal es auch gar nicht die älteren Menschen sind, die die meisten Verkehrsunfälle verursachen. Einer Erhebung des Datendienstes Statista von 2020 zufolge bilden die größte Gruppe der bei Verkehrsunfällen verunglückten Personen die 25- bis 35-Jährigen. Die Auflistung verrät allerdings nicht, wer schuld am Unfall war. Ich möchte nicht verleugnen, dass ältere Menschen, bei denen die Kräfte nachlassen, eine Gefahr im Straßenverkehr sein können. Dass diese Aussage pauschal ab einem bestimmten Alter gelten soll, ist aber definitiv falsch. Denn schließlich haben ältere Menschen auch viel mehr Fahrerfahrung als Jüngere.
Eine gute Lösung sind regelmäßige Nachprüfungen für alle
Vielleicht wäre es eine gute Lösung, wenn es regelmäßig „Nachprüfungen“ für den Führerschein gäbe, auch für die Jüngeren. Es würde sicher keinem schaden, alle fünf bis zehn Jahre die Verkehrsregeln und Erste-Hilfe-Kenntnisse aufzufrischen und immer mal wieder Augen und Reaktionsfähigkeit testen zu lassen. Diese regelmäßigen Tests und Untersuchungen könnten sich mit zunehmendem Alter verdichten. Wer durchfällt, muss den Führerschein leider abgeben, wer weiterhin fit ist, kann auf Wohnmobiltour durch Europa gehen und seine Freunde mit dem Auto zu Kaffee und Kuchen ausführen.
Das Auto ist für ältere Menschen ein Stück Freiheit
Apropos ausführen: Das Hauptargument, warum ältere Menschen unbedingt weiter Auto fahren sollten, ist deren Selbstbestimmtheit und Freiheit. In vielen ländlichen Gegenden ist es unmöglich, sich ohne Auto fortzubewegen. Nicht einmal Lebensmittel besorgen könnte man ohne, geschweige denn in die nächste Kleinstadt zum Einkaufen oder Eis essen fahren oder seine Schwester im Nachbarort besuchen. Die Menschen auf dem Land würden ohne Auto komplett vereinsamen. Was soll man mit einem kostenlosen Bus- und Bahn-Ticket anfangen, wenn bloß einmal am Tag ein Bus fährt? Selbst wenn es mehr Möglichkeiten gibt, fühlen sich viele ältere Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht sicher und wollen oder können auch nicht immer bis zu Haltestellen laufen. Das sagen auch die Senioren in Leverkusen, die meine Kolleginnen zum Thema gefragt haben. Genau wie für junge Menschen ist der Führerschein auch für alte Menschen ein Stück Freiheit, das man ihnen nicht nehmen darf.
Tanja Wessendorf (43), Redakteurin im Ressort Magazin/Ratgeber, weiß aus eigener Erfahrung, dass ältere Menschen vor allem auf dem Land ohne Auto total vereinsamen würden. Und dass dort oft nur einmal am Tag ein Bus fährt.