Seine Mutter fügte ihm seelische Qualen zu, sein Vater verprügelte ihn. Der Immunologe spricht von „Täter-Opfer-Beziehungen“, wenn Eltern Kinder misshandeln.
Seelische Qualen und PrügelThomas' mutiger Weg von toxischen Eltern zu sicherer Liebe
Thomas ist sechs Jahre alt, als ihn seine Halbschwester an die Hand nimmt und von zu Hause fortbringt. Sie weiß damals vielleicht nicht genau, dass ihre Mutter eine bipolare Störung und deren sehr viel älterer Ehemann Demenz hat. Was die 19-Jährige aus eigener jahrelanger leidvoller Erfahrung aber sicher weiß, ist dies: Wie schlecht es ihrem kleinen Halbbruder Thomas geht. Nämlich dann, wenn die große, korpulente Mutter in ihren depressiven Phasen den Sohn zum „Schmusen“ zu sich in die Badewanne holt. Oder in den manischen Phasen, wenn sie mit einem Freund fröhlich in den Urlaub fährt und den Jungen mit dem Vater alleinlässt. Im Wissen, dass ihr in der Kaiserzeit aufgewachsener Mann Schläge als Erziehungsmaßnahme für normal hält und den Jungen immer wieder verprügelt.
So klopft eine junge traumatisierte Frau mit einem verängstigten Kind an der Hand in Nordrhein-Westfalen an die Tür des Psychologenpaares Monika Nienstedt und Armin Westermann und bittet um Hilfe. „Sie hat mich dadurch gerettet“, sagt Thomas über seine Halbschwester. Das war vor 51 Jahren.
„Kinder werden immer wieder zu ihren Peinigern zurückgeschickt“
Der kleine Junge von damals hat Biologie studiert, war in den USA an der renommierten Privatuniversität Vanderbilt in Nashville, Tennessee, hat einen Doktor in Naturwissenschaften gemacht und ist Immunologe geworden. Er ist Vater einer Tochter und bereit, seine Geschichte zu erzählen. Denn er will anderen Mut machen – Pflegekindern, Pflegeeltern, Therapeutinnen, Kinderschützern, Jugendämtern und ja, auch überforderten Müttern und Vätern.
Treffpunkt Berlin-Mitte, nahe der Charité Universitätsmedizin, seiner Arbeitsstätte. Toxische Eltern-Kind-Beziehungen müssten beendet werden, mahnt Thomas. Er spricht von „Täter-Opfer-Beziehungen“. „Niemand kommt auf die Idee, dass ein Gewaltopfer den Peiniger wieder treffen muss, aber ich musste nach meinen Heimaufenthalten in den ersten Lebensjahren immer wieder zu meinen Eltern zurück“, beschreibt er nüchtern. „Egal, was die Eltern gemacht haben.“ Er nennt sie „meine Erzeuger“. Seine Stimme ist in diesem Moment tonlos.
87.000 Kinder leben in Pflegefamilien
Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums leben derzeit rund 87.000 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien und laut Statistischem Bundesamt etwa 120.000 in Heimen. Oftmals bewegen sich ihre leiblichen Eltern Studien zufolge am Existenzminimum. Hauptgründe für neue Unterbringungen sind in der Fachsprache „Vernachlässigung durch den Ausfall von Bezugspersonen“, „Kindeswohlgefährdungen“ und „eingeschränkte Erziehungskompetenz“. Es geht in der Regel um körperliche und seelische Gewalt.
Thomas sagt, seine Halbschwester habe gewusst, dass seine Eltern „nicht erziehungsfähig“ waren. „Meine Mutter hat mich emotional als ihren kleinen Mann missbraucht.“ Es habe zwar keine gewalttätigen sexuellen Übergriffe gegeben, aber er habe sich vor den ständigen Umarmungen seiner „riesengroßen Mutter“ geekelt. „Es war ein Grauen für mich, in die Badewanne zu gehen.“ Als Fünfjähriger sollte er in einem Pelzgeschäft entscheiden, welchen Mantel sie kauft. „Und ich habe Konservendosen aus einem Geschäft geholt, wenn meine Mutter wieder mal nicht da war und ich mich um das Essen mit meinem Vater kümmern musste.“
„Emotional massiv verstört“
Monika Nienstedt, heute 81 Jahre alt, bezeichnet das als Rollenumkehr. Thomas habe die Verantwortung für die Eltern übernommen. Die absolute Überforderung eines Kindes. Für ein multimediales Lehr- und Lernprojekt der Frankfurt University of Applied Studies sprechen sowohl Nienstedt als auch die Leiterin des Projekts und Professorin für Kinder- und Jugendschutz, Maud Nordstern, sowie Thomas selbst und seine Tochter Nora über seine Geschichte. Das „Fallbeispiel Thomas“ solle Studierenden ein tiefes Verständnis der inneren Welt eines misshandelten Kindes eröffnen, erläutert Nordstern.
Nienstedt berichtet darin, wie Thomas damals vor ihrer Tür stand. Sie kannte seine Halbschwester von ihrer Ausbildung zur Erzieherin. Nachbarn hatten die junge Frau angerufen, weil Thomas tagelang auf sich allein gestellt war. Nienstedt erlebte ihn „emotional massiv verstört“, mit einem „maskenhaften Gesicht“, als ein Kind, das sich über nichts freuen konnte und diffuse Ängste hatte, vergiftet zu werden. Lange habe sie ihn nicht berühren dürfen. Er habe Schlafstörungen gehabt und ins Bett gemacht.
Der große Rucksack der kleinen Kinder
Nienstedt und Westermann sorgten dafür, dass Thomas im Kinderheim bleibt. Sie kümmerten sich therapeutisch um ihn und stießen später bei ihrer Suche nach Pflegeeltern für den Jungen auf ein katholisch geprägtes Paar, das keine Kinder bekommen konnte. Nach einer Bedenkzeit stimmten die Eheleute Ulla und Reinhard zu und nahmen später noch ein Mädchen auf. Die Psychologen blieben als Ratgeber im Hintergrund. Nienstedt hat 2024 für ihre Arbeit mit Pflege- und Adoptivkindern das Bundesverdienstkreuz am Bande bekommen.
Thomas beschreibt verschiedene Integrationsphasen von Pflegekindern. Anfangs sei oft alles super. Dann kämen Zweifel und Ängste, die Folgen seelischer Gewalt kämen zum Vorschein. Er selbst etwa brach einmal einen Schrank auf, um die Süßigkeiten darin komplett aufzuessen. „Das war die Befriedigung einer oralen Gier“, erklärt er. „Ich wusste damals noch nicht, dass ich auch am nächsten Tag gut versorgt sein werde.“ Statt einer Standpauke kam es aber zum Großeinkauf. Nienstedt hatte den Pflegeeltern geraten, mit ihm in den Supermarkt zu gehen und ihn kaufen zu lassen, was er an Süßem haben wollte. „Nach einer Weile hatte ich keinen gesteigerten Bedarf mehr. Es gab ja immer etwas. Ich habe keine Esssucht entwickelt.“
„Wenn du das nicht machst, bist du blöd“
Eine Referentin beim Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD) gibt zu bedenken: „Oft tragen die Kinder einen großen Rucksack mit Problemen mit sich herum. Und oft zeigt sich erst nach einer gewissen Zeit in der neuen Familie, was in diesem Rucksack alles drin ist.“ Pflegeeltern seien zudem mit riesiger Bürokratie überlastet und die Jugendämter seien unterbesetzt.
Für Thomas sind seine Pflegeeltern seine „richtigen Eltern“. Er liebe sie. „Als sie mich später adoptierten, wusste ich: Jetzt bist du sicher.“ Seine Erzeugerin habe er einmal im Jahr besucht. Aus Mitleid. Sie habe im Laufe der Zeit gelernt, dass es ihm ohne sie besser gehe. Das rechne er ihr an. Er habe schon als Jugendlicher das meiste aufgearbeitet, versichert Thomas. Trotzdem bleiben die Erinnerungen schmerzhaft. Manchmal sucht er nach den richtigen Worten. Geblieben sei ein Druck, alles im Griff haben zu müssen, immer überpünktlich zu sein und schwer Nein sagen zu können, sagt er.
Noch einmal zu Ulla und Reinhard. „Irgendwann hatte ich sie gefragt, ob ich für immer bei ihnen bleiben kann. Sie sagten Ja. Aber dann wurde mir das plötzlich unheimlich und ich zog zurück“, erzählt Thomas. Er bat dann einen älteren Freund im Heim um Rat, was er nur tun solle. „Er antwortete, davon träumen wir doch alle. Wenn du das nicht machst, bist du blöd.“ Danach eilte Thomas zum Telefonapparat und wählte die Nummer von Ulla und Reinhard. Als sie rangingen, ratterte er ganz schnell nur einen Satz runter und legte sofort wieder auf: „Ich komme doch!“ Da war er neun Jahre alt.