Grenzen setzenWie streng darf Erziehung heute sein?
Wenn die Finger mal wieder im Schokoladenpudding landen, das Laufrad in den Teich fliegt oder das Bad unter Wasser steht, dann will man als Eltern eigentlich nur ausrasten und schimpfen: „Ab in dein Zimmer! Keine Widerrede! Ich bin der Boss! Fernsehverbot!“ Und sich eine saftige Strafe ausdenken. So kann es ja nicht weitergehen, ein bisschen mehr Zucht und Tadel schadet schließlich keinem. Vorbei die guten Vorsätze, dass man seinem Kind auf Augenhöhe begegnen und sich nicht provozieren lassen wollte.
Oma würde eine Backpfeife empfehlen
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631 II des BGB)
Wenn sich Donnerwetter und Geheule wieder gelegt haben, kommen die Zweifel und das schlechte Gewissen. Sollte man dem Kleinen nicht doch lieber in einem ruhigen Gespräch erklären, warum Mami böse ist? Laute Befehle, schlichter Gehorsam und Strafen klingen ja eher nach dem autoritären Erziehungsstil der eigenen Großmutter. Die würde sicher auch noch eine ordentliche Backpfeife empfehlen, denn so etwas habe kleinen Rotznasen schließlich noch nie geschadet.
Solche traditionellen Züchtigungsmethoden sind heute glücklicherweise bei den meisten Eltern tabu. Es ist sogar gesetzlich verboten, seine Kinder körperlich anzugehen. Und doch ergab eine repräsentative Umfrage des Forsa-Instituts aus dem Jahr 2012, dass vier von zehn Eltern ihre Kinder auch heute noch mindestens mit einem Klaps auf den Po bestrafen.
Viele fordern wieder mehr Autorität
Überhaupt scheint der Ruf nach mehr Strenge und Gehorsam in der Erziehung im letzten Jahrzehnt wieder lauter geworden sein. 2006 machte das Buch „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb Furore, der darin mehr Eltern-Autorität fordert. Kinder sollten, notfalls auch durch Befehle und Strafen, wieder mehr Disziplin und Ausdauer lernen. Das Buch verzeichnete hohe Verkaufszahlen.
Der Aufschrei war aber ebenso groß. Erziehungsexperten wie Micha Brumlik oder Jesper Juul kritisierten ein solches hierarchisches Konzept. Kinder würden emotional Schaden nehmen, wenn sie nur gehorchen müssten.
Aber auch die antiautoritären Erziehungskonzepte der Endsechziger sind heute kein Maßstab mehr. Kinder seien mit zu viel Freiraum überfordert, heißt es, sie könnten nicht eigenverantwortlich Regeln und Grenzen einschätzen.
Weder zu viel Lockerheit noch hierarchische Befehleklopperei sind also die Lösung. Einheitliche Erziehungskonzepte und moralische Regeln gibt es heute auch nicht mehr. Eltern können und müssen ihren eigenen Weg finden und selbst entscheiden, wie sie erziehen wollen. Doch wie streng darf Erziehung heute eigentlich sein?
Was heißt eigentlich „streng sein“?
„Erst einmal muss man klären, was mit ‚streng‘ überhaupt gemeint ist“, sagt Heidemarie Arnhold, Vorstandsvorsitzende des Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. (ANE). Früher habe der Begriff „Strenge“ bedeutet, dass Eltern von ihren Kindern Gehorsam erwarteten und Strafen ausführten. Die Basis ihrer Autorität sei Angst gewesen. „Heute könnte man den Ausdruck ‚streng sein‘ eher so definieren: Grenzen setzen und konsequent sein.“
Im Vordergrund stehe dabei immer die Würde des Kindes, sagt Pädagogin Arnhold. „Das Kind wird von Anfang an als vollwertiger Mensch gesehen und behandelt, es soll entscheidungs- und handlungsfähig werden.“ Eltern haben eine Fürsorgepflicht, was hier aber nicht heiße, dass sie patriarchalisch über das Kind herrschen. Das Verhältnis solle eher partnerschaftlich sein. Konkret bedeute das, ein Kind soll argumentieren lernen und auch schrittweise an den Entscheidungen in der Familie beteiligt werden.
Was tun, wenn doch einmal die Hand ausrutscht?
Dass Kinder so aktiv eingebunden werden, das klingt erst einmal nach einem Wagnis. Wie viele Grenzen braucht so eine gleichberechtigte Eltern-Kind-Beziehung? „Grundsätzlich geht es darum, sinnvolle Grenzen zu setzen, die zum Alter und der Entwicklungsstufe des Kindes passen“, sagt Heidemarie Arnhold. „Aber Grenzen verändern sich ständig, man muss sie immer neu aushandeln. Kinder sind insofern eine große Herausforderung geworden.“
Wenn die Hand doch mal ausrutscht
Gibt es dennoch etwas, woran sich Eltern bei der Erziehung besonders orientieren können? „Eltern kennen ihr Kind am besten und können auch am ehesten einschätzen, was sie ihrem Kind zutrauen“, sagt Arnhold. Beim Grenzen setzen könne man sich auch nach weiteren Faktoren richten, zum Beispiel der eigenen finanziellen Situation, aber auch gesetzlichen Grundlagen, die entscheiden, wie lange ein Kind etwa abends unterwegs sein kann. Und natürlich ist die Frage entscheidend, wie gefährlich eine Situation für das Kind ist.
Gerade in Gefahrensituationen schießen manche Eltern auch mal übers Ziel hinaus. Wenn das Kind vor eine rote Ampel läuft, dann packt man es eben fest am Arm, auch eine Ohrfeige kann im Moment des Schrecks passieren. Natürlich müsse man sein Kind schützen, sagt Arnhold. Wichtig wäre es aber, danach in Ruhe mit ihm zu sprechen, sich für die raue Art zu entschuldigen, zu erklären, warum man so reagiert hat. Und deutlich zu machen, warum es Grenzen beachten muss. „Ein Kind soll verstehen, warum es etwas machen darf oder nicht. Das ist ein langer Prozess.“
Konsequenzen müssen angemessen sein
Wenn das Kind nach mehrmaligem Ermahnen trotzdem die Wände bunt anmalt, dann muss es natürlich auch Konsequenzen geben. Die sollten klar angekündigt werden, der Sache angemessen und überschaubar sein, sagt Arnhold vom ANE. Ein Jahr lang Fernsehverbot oder willkürliche Reaktionen könne ein Kind nicht nachvollziehen. „Dass Kinder trotzdem immer mal wieder Grenzen überschreiten, das ist ganz normal und Teil ihres Entwicklungsprozesses.“
Elternbriefe des Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. (ANE)
Jesper Juul: Elterncoaching: Gelassen erziehen, Beltz, 2014
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