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Jahrelang falsch behandeltADHS wird bei Erwachsenen viel zu selten erkannt

Lesezeit 6 Minuten
Symbolbild ADHS Getty Images

3,5 Prozent der Erwachsenen leiden an ADS oder ADHS, die Krankheit lässt sich nur mit Medikamenten behandeln.

  1. Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie in München.
  2. Sie behandelt hauptsächlich Depressionen und Angstzustände und ist spezialisiert auf die Behandlung von ADHS.
  3. Im Interview erklärt die Expertin, dass immer noch viel zu wenige Erwachsene mit ADHS die richtige Diagnose erhalten und warum das fatale Folgen haben kann.

KölnFrau Neuy-Lobkowicz, wie häufig kommt ADHS bei Erwachsenen vor?

Astrid Neuy-Lobkowicz: Etwa 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden im Erwachsenenalter unter ADS. Das ist dreimal häufiger als Schizophrenie. Der große Skandal ist, dass nur wenige Fachärzte und Psychologen sich mit ADHS auskennen und es diagnostizieren und störungsspezifisch behandeln können. Die Patienten sind fast alle in Behandlung, aber ohne Kenntnis der ADHS-Symptome und Probleme bekommen sie nicht die richtige Behandlung.

Zur Person

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Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie in München. Auf ihrer Homepage finden sich viele hilfreiche Informationen zum Thema.

Zum Weiterlesen: Astrid Neuy-Lobkowicz: „ADHS - erfolgreiche Strategien für Erwachsene und Kinder“, Klett-Cotta, 278 Seiten, 20 Euro.

Wie äußert sich die Krankheit bei Erwachsenen?

Die Kernsymptome der ADHS sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, dazu kommen Stimmmungsschwankungen und Impulsivität. Betroffene können schnell wütend werden und schnell frustriert sein, aber sie können sich auch sehr freuen. Betroffene haben große Schwierigkeiten, sich zu organisieren und zu strukturieren. Sie können Aufgaben, die keinen Spaß machen, oft nur auf den letzten Drücker anfangen und es fällt ihnen schwer, Aufgaben zu Ende zu bringen, weil sie sich ständig ablenken lassen. Sie sind sehr schnell von etwas begeistert, verlieren aber auch schnell die Lust, wenn etwas schwierig wird. Sie haben auch oft Probleme sich einen Überblick zu verschaffen und zu entscheiden, was wichtig ist. Durch all diese Symptome haben die Patienten viel mehr Misserfolge als andere und werden oft abgelehnt, weil sie so impulsiv sind und so überschießend reagieren. Wichtig bei der Diagnose ist, dass die Symptome sich durch das ganze Leben der Betroffenen ziehen. Natürlich ist jeder mal schlecht gelaunt und impulsiv. Bei der Diagnostik ist gefordert, dass man diese ganzen Symptome auch bereits im Kindesalter schon hatte.

Der Begriff

ADS steht für Aufmerksamkeit-Defizit-Syndrom. Kommt Hyperaktivität dazu, heißt die Krankheit ADHS.

Was muss man noch über die Krankheit wissen?

Es gibt zwei Formen der Krankheit: Manche Patienten sind sehr getrieben, werden als Kind oft als Zappelphilipp bezeichnet und können schlecht abschalten oder still sitzen (hyperaktiv). Das kommt bei Kindern meistens bei Jungen vor. Mädchen mit dieser Krankheit sind eher verträumt, verpeilt, desorganisiert und langsam (hypoaktiv). Im Erwachsenenalter gibt es oft eine Mischform aus hyperaktiv und hypoaktiv. Die Patienten sind verträumt und schlecht organisiert, aber oft auch innerlich unruhig und getrieben. Sie können schlecht abschalten, kommen schlecht in die Gänge, vergessen Termine und verlegen Papiere. Das schafft oft auch erhebliche berufliche Probleme.

Was ist der Grund für all diese Symptome?

ADHS ist zu einem großen Anteil erblich. Deshalb sind oft auch mehrere Mitglieder einer Familie betroffen. Ich sage dazu immer, dass ADS eine besondere Art zu sein ist und dass man damit auf die Welt kommt. Es handelt sich wohl um ein altes Gen, das früher sehr gut an die Lebensbedingungen unserer Vorfahren angepasst war. ADS-Betroffene haben nur zwei Aufmerksamkeitsmöglichkeiten. Entweder sie sind reizoffen und sie haben dann keine Reizfilter. Das bedeutet, dass sie einfach alles um sich herum mitbekommen und jeder neue Reiz sie davon ablenkt, sich auf den aktuellen Fokus zu konzentrieren oder ihre Arbeiten fertig zu stellen. Oder sie hyperfokussieren, das heißt, dass sie sich wie mit einem Fernrohrblick nur noch auf eine Sache konzentrieren können und alles andere um sich herum vergessen.

Wahrscheinlich ist ADHS ein altes Jäger-Gen, denn in der einsamen Steppe Afrikas musste man jeden Reiz wahrnehmen. Das ist der sogenannte Pirsch- oder Hab-Acht Modus. Dem steht gegenüber der Jagdmodus, wo man nur hochkonzentriert das Objekt im Auge haben durfte, dass man jagen wollte. In unserer heutigen Zeit, also im Kulturmodus, brauchen wir aber eine andere Aufmerksamkeit. Wir müssen in unserer reizüberfluteten schnellen Multi-Tasking-Welt viele unwichtige Reize ausblenden können und das Wesentliche heraus filtern. Genau das können aber ADHS-Betroffene nicht und Reizüberflutung führt so bei ihnen schnell zu Stress und Überforderung.

Warum äußert sich die Krankheit bei Erwachsenen oft erst, wenn eigene Kinder ins Spiel kommen?

ADHS ist erst einmal gar keine Krankheit , sondern eine Normvariante und hat auch viele positive Seiten. Niemand kann schneller Situationen erfassen, Reize besser wahrnehmen oder intuitiver und kreativer sein als ADHS-Betroffene. Wenn ADHS-Patienten unter Stress geraten, reagieren sie allerdings impulsiv, zu heftig und überschießend. Wenn man Mutter oder Vater wird, ändern sich die Anforderungen und alles wird viel anstrengender. So lange man sich selbst steuern kann, ist alles einfacher, da schläft man zum Beispiel einfach länger, wenn es einem nicht so gut geht. Aber mit Kindern geht das nicht mehr, um die muss man sich immer kümmern. ADSler brauchen außerdem sehr viel Struktur und einen festen Plan, wann sie was machen müssen. Wenn sie dann plötzlich im Babychaos zuhause sitzen, ist das viel schwieriger. Ein weiteres Problem: Oft haben die Kinder selbst auch ADHS und damit triggert man sich gegenseitig.

Sie sagen, die meisten Patienten werden falsch behandelt. Inwiefern?

Menschen mit ADHS haben eine hohe Rate von Begleiterkrankungen. Häufig werden nur die Depressionen oder Angststörungen diagnostiziert und das darunter liegende ADHS wird nicht erkannt. ADHS-Patienten haben ein höheres Risiko für die Entwicklung aller anderen seelischen Erkrankungen wie Depression, Angststörung aber auch Sucht. Häufig versuchen Betroffene ihre Symptome selbst zu lindern, indem sie THC, Nikotin oder Alkohol in großen Mengen konsumieren. Sie versuchen, damit ruhiger und entspannter zu werden. Das funktioniert aber zu einem Preis der Suchtentwicklung und erheblichen Gesundheitsschäden.

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Leider haben die Psychologen und Psychiater in ihrer Ausbildung nichts über ADS gelernt und sie stellen dann nicht die richtigen Fragen nach dem Vorhandensein von Symptomen. Sie geben sich zufrieden mit einer Diagnose wie Depression und behandeln dann nur diese Symptomatik. Damit geht es aber den meisten Patienten auf die Dauer nicht besser.

Welche Therapie brauchen ADHS-Patienten?

Dafür gibt es Leitlinien der Bundesärztekammer. Die neuen Leitlinien geben ganz klar die Empfehlung, als erstes eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat und Dexamphetamin zu beginnen. Leitlinien werden erstellt unter Sichtung aller Studien und bilden den aktuellen Forschungsstand ab. ADHS lässt sich nicht ausreichend mit Antidepressiva behandeln, weil diese nicht ausreichend den Dopaminspiegel erhöhen.

Was bedeutet das genau?

ADHS ist ein Dopaminmangel-Syndrom. Dopamin steuert Konzentration, Motivation und Stimmungsstabilität. Bei ADHS wird genetisch Dopamin zu schnell abgebaut und man muss das fehlende Dopamin ersetzen, wie bei Diabetes das Insulin substituiert werden muss. Das macht man mit diesen Medikamenten. Man kann sich das so vorstellen, dass sie wie eine chemische Brille wirken. Man kann mit der Medikation dann klarer, ruhiger und gelassener werden und sich deutlich besser konzentrieren, allerdings nur so lange die Medikation wirkt.

ADHS hat keine Ursache in der Kindheit und Psychotherapie ersetzt keine medikamentöse Behandlung. Psychotherapie kann nach medikamentöser Therapie angezeigt sein, aber dann eine Verhaltenstherapie. Der Therapeut sollte Erfahrung mit ADHS haben. ADHS ist ein Paradigmenwechsel in der Psychotherapie und Psychiatrie. Es ist eine vorwiegend erbliche Erkrankung, die einer medikamentösen Behandlung bedarf, wenn deutliche Symptome das Leben der Betroffenen beeinträchtigt.

Was raten Sie Menschen, die vermuten, dass sie an ADHS leiden?

Als allererstes, sich zu informieren. Meine Erfahrung ist, dass ADHS-Patienten meist selbst erkennen, welche Symptome auf sie zutreffen. Für die Patienten ist es eine unglaubliche Entlastung, wenn sie erkennen, dass sie kein schlechter Mensch sind, sondern eine genetische Besonderheit haben, die sich gut behandeln lässt.

Weitere hilfreiche Adressen:

  1. Sprechstunde der LVR-Kliniken Köln
  2. Europäischer Dachverband
  3. Bundesverband der Selbsthilfegruppen
  4. Zentrales ADHS-Netz
  5. Informationen und Tipps
  6. Netzwerk